28.10.2013
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Proteste in Budapest gegen die neuen Regelungen zur Inhaftierung von Flüchtlingen. Am 1. Juli 2013 traten sie in Kraft. Seither kann schon die Weiterwanderung in ein anderes EU-Land als "Behinderung des Asylverfahrens" und somit als Haftgrund geltend gemacht werden. Bild: bordermonitoring.eu

Unter der Regierung Viktor Orbáns werden selbst anerkannte Flüchtlinge in die Obdachlosigkeit entlassen, Asylsuchenden droht die Inhaftierung. Dies zeigt eine aktuelle Recherche, die auch auf mangelnde medizinische Versorgung von Flüchtlingen und rassistische Gewalt in Ungarn hinweist.

Schon Anfang 2012 hat­ten bordermonitoring.eu und PRO ASYL die rechts­staat­lich frag­wür­di­ge Inhaf­tie­rung von Asyl­su­chen­den und Miss­hand­lun­gen von inhaf­tier­ten Flücht­lin­gen durch Wach­per­so­nal in Ungarn doku­men­tiert. Ein aktu­el­ler Recher­che­be­richt zeigt, dass die schwe­ren Män­gel im unga­ri­schen Asyl- und Auf­nah­me­sys­tem fort­be­stehen. Ange­sichts stei­gen­der Asyl­an­trags­zah­len droht das Auf­nah­me­sys­tem voll­ends zu kollabieren. 

Obdach­lo­sig­keit und man­geln­de medin­zi­sche Versorgung

Selbst für aner­kann­te Flücht­lin­ge hat sich die Lage nicht ver­bes­sert, son­dern noch ver­schärft:  Aner­kann­te Flücht­lin­ge, die nach sechs Mona­ten aus dem soge­nann­ten „Pre-Inte­gra­ti­on Camp“ in Bics­ke ent­las­sen wer­den soll­ten, berich­ten von einem regel­rech­ten Teu­fels­kreis: Die finan­zi­el­le Unter­stüt­zung im Anschluss an die Unter­brin­gung reicht in der Regel nicht aus, um davon eine Woh­nung und den Lebens­un­ter­halt zu finan­zie­ren. Die Aus­zah­lung der Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen ist an zumeist uner­füll­ba­re Bedin­gun­gen geknüpft.

So wer­den Flücht­lin­ge fak­tisch in die Obdach­lo­sig­keit ent­las­sen. Nicht nur der Zugang zu aus­rei­chen­der medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung wird ihnen dadurch ver­wehrt, sie wer­den auch noch kri­mi­na­li­siert: Unter der Orbán-Regie­rung kann das Näch­ti­gen im Frei­en mit einer Geld- oder Frei­heits­stra­fe geahn­det wer­den. Ins­be­son­de­re Fami­li­en  mit Kin­dern fin­den kei­nen Zugang zu Obdachlosenunterkünften.

Job­bik mobi­li­siert gegen Flüchtlinge

An meh­re­ren Orten mobi­li­sier­te die neo­fa­schis­ti­sche Par­tei Job­bik gegen Asyl­su­chen­de. Unter ande­rem ver­an­stal­te­te die Par­tei im Mai 2013 in Debre­cen einen Fackel­marsch, gefor­dert wur­de die Schlie­ßung der dor­ti­gen Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung. Auch an ande­ren Orten gab es mas­si­ve ras­sis­ti­sche Pro­tes­te. Gleich­zei­tig wecken Berich­te von Flücht­lin­gen Zwei­fel über den aus­rei­chen­den Schutz vor ras­sis­ti­scher Gewalt durch die unga­ri­sche Poli­zei. So wur­de etwa ein Flücht­ling in Balas­s­ar­gya­mat nach einem Über­fall durch eine Grup­pe Skin­heads von loka­len Poli­zei­be­am­ten weg­ge­schickt, ohne die Mög­lich­keit zu erhal­ten, eine Anzei­ge zu erstatten.

Wer ein­mal inhaf­tiert ist, bleibt in Haft

Asyl­su­chen­den droht in Ungarn wei­ter­hin die Inhaf­tie­rung. Nach einer neu­en Geset­zes­la­ge reicht etwa schon die „Behin­de­rung des Asyl­ver­fah­rens“ als Haft­grund aus. Da Flücht­lin­gen vor­ge­wor­fen wer­den kann, ihr Asyl­ver­fah­ren durch ihre Wei­ter­wan­de­rung behin­dert zu haben, dürf­ten Dub­lin-Rück­keh­rer ohne Auf­ent­halts­ti­tel von die­sem Haft­grund beson­ders betrof­fen sein. Wer ein­mal inhaf­tiert ist, hat prak­tisch kei­ne Chan­ce, sei­ne Frei­heit zu erwir­ken. Indi­vi­du­el­le Rechts­mit­tel sind nicht vor­ge­se­hen, eine rich­ter­li­che Über­prü­fung der Haft erfolgt aus­schließ­lich in 60-Tage-Inter­val­len. In den Jah­ren 2011 und 2012 wur­de bei drei von ins­ge­samt 5.000 Ent­schei­dun­gen die Haft durch die zustän­di­gen Gerich­te beendet.

Auf­grund die­ser Ent­wick­lun­gen  for­dert PRO ASYL, dass Dub­lin-Abschie­bun­gen nach Ungarn umge­hend aus­ge­setzt wer­den. Betrof­fe­ne müs­sen in Deutsch­land ein Asyl­ver­fah­ren erhalten.

Ungarn: Flücht­lin­ge zwi­schen Haft und Obdach­lo­sig­keit – Aktua­li­sie­rung und Ergän­zung des Berichts vom März 2012

Ungarn: Flücht­lin­ge zwi­schen Haft und Obdach­lo­sig­keit – Bericht einer ein­jäh­ri­gen Recher­che bis Febru­ar 2012

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