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Mehr Soldaten nach Afghanistan – aber trotzdem dorthin abschieben?
Ende Oktober wurden Stimmen in der Bundesregierung laut, in Zukunft vermehrt nach Afghanistan abschieben zu wollen – auch dort gebe es sichere Regionen. Am Mittwoch wurden nun allerdings sowohl eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, als auch eine Aufstockung der deutschen Truppen beschlossen. Begründung: Rückschläge bei der Sicherheitssituation im Land. Das passt nicht zusammen.
Knapp 1000 Bundeswehr-Soldaten sollen zukünftig am Hindukusch stationiert sein, das Mandat wurde bis Ende 2016 verlängert – das ist die Reaktion der Bundesregierung auf die sich rapide verschlechternde Sicherheitslage. Schlagzeilen hatte vor allem die kurzzeitige Besetzung vom nordafghanischen Kundus, bis vor 2 Jahren Standort eines Bundeswehr-Feldlagers, durch die Taliban gemacht. Die erstmalige Besetzung einer Provinzhauptstadt ist von hoher symbolischer Bedeutung für die Taliban, die dies weidlich medial ausgeschlachtet haben. Ein interner Lagebericht des Auswärtigen Amts beschreibt die Situation nach der Rückeroberung mit den Worten: „Die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) […] haben es geschafft, das Patt mit der Insurgenz aufrecht zu erhalten.“ Auf gut Deutsch: Es gibt aktuell angeblich eine Art Unentschieden zwischen Sicherheitskräften, Taliban und anderen Aufständischen.
Verstärkte Fluchtbewegungen in Afghanistan
Die jüngsten Erfolge der Taliban haben die afghanische Bevölkerung verunsichert. Auch die innerdeutsche Diskussion über mehr Abschiebungen und die Aussetzung des Familiennachzugs haben für eine Verstärkung der Fluchtbewegungen in Afghanistan gesorgt – vermehrt machen sich nun auch ganze Familien auf die gefährliche Flucht.
Allein 1.5 Millionen afghanischer Flüchtlinge haben aktuell in Pakistan Zuflucht gefunden, etwa 1 Million Afghanen ist in den Iran geflohen. Ihre rechtlose und unterprivilegierte Stellung im Iran führt mittlerweile sogar dazu, dass afghanische Flüchtlinge dort für die Armee von Baschar Al-Assad im Bürgerkrieg in Syrien rekrutiert werden, berichtet der Guardian. Zusätzlich zu den ins Ausland Geflohenen gibt es mittlerweile knapp 1 Million Binnenflüchtlinge in Afghanistan.
Chaos im Land – nur wenige „sichere“ Provinzen
Während die Bevölkerung auf der Flucht ist, befindet sich das Land im Chaos. Allein im ersten Halbjahr 2015 kamen 1.592 Zivilisten in dem Konflikt zwischen Armee und Taliban ums Leben – 3329 weitere wurden verletzt. Auch das Auswärtige Amt kommt zu dem Ergebnis, dass das Einflussgebiet der Taliban, heute gar größer ist als zu Beginn der NATO-Intervention im Jahr 2001. Zusätzlich dazu machen sich in einigen Regionen nun auch Kämpfer des „Islamischen Staats“ breit.
Im Lagebericht des Auswärtigen Amts wird der afghanische Flüchtlingsminister mit der Einschätzung zitiert, drei Provinzen seien namentlich sicher: Kabul, Bamiyan, Panjshir. Diese drei Provinzen machen nur einen geringen Teil der Landesfläche aus, lediglich die Provinz Kabul ist per Flugzeug gut erreichbar. Wie auch das Auswärtige Amt feststellt, ist „aufgrund kultureller Bedingungen“ eine innerafghanische Aufnahme von Flüchtlingen ohnehin eigentlich nur „in größeren Städten realistisch.“ Kabul ist jedoch bereits jetzt aufgrund der hohen Zahl der in die Region drängenden Binnenflüchtlinge ein schwieriger Ort, an dem immer weniger Leute ein menschenwürdiges Auskommen finden können.
Die Abschiebepläne der Bundesregierung: Weltfremdheit mit Vorsatz
Trotz der verschärften Lage, der nun mit der Verlängerung des Mandats und der Entsendung weiterer Bundeswehr-Soldaten entgegengetreten werden soll, möchte Innenminister De Maizière vermehrt nach Afghanistan abschieben, wie er Ende Oktober erklärte. Neben den neu Ankommenden könnte das vor allem mehrere Tausend afghanische Flüchtlinge betreffen, die (oft schon jahrelang) mit einer Duldung in Deutschland leben. Auch werden afghanische Flüchtlinge bereits jetzt von Sprach- und Integrationskursen während des Asylverfahrens, mit der Begründung, sie hätten „keine gute Bleibeperspektive“, ausgeschlossen. Horst Seehofer brachte Afghanistan gar als „sicheres Herkunftsland“ ins Gespräch.
„Resolute Support“ heißt die NATO-Folgemission in Afghanistan, mit der 13.000 überwiegend beraterisch tätige Militärs schaffen sollen, was 130.000 mit Kampfauftrag in 14 Jahren nicht gelang: Sicherheit im Land schaffen. „Resolute Abschiebung“ ist Seehofers Begleitprogramm dazu. In Anbetracht der tatsächlichen Situation im Land kann das nur als vorsätzliche Weltfremdheit bezeichnet werden.
Schutzquoten von knapp 80%
Dem tragen auch die Zahlen des BAMF Rechnung. Von Januar bis September 2015 liegt die bereinigte Schutzquote[1] für Afghanen bei 79,4%. Vor diesem Hintergrund fordert PRO ASYL die Bundesregierung auf, „Desintegrationsmaßnahmen“, wie den Ausschluss afghanischer Flüchtlinge von Sprachkursen während des Asylverfahrens, abzuschaffen und von der Idee verstärkter Abschiebungen nach Afghanistan sofort Abstand zu nehmen. Die Aufstockung der Bundeswehr-Truppen und die derzeitige Sicherheitslage zeigen, dass Abschiebungen nach Afghanistan für die Betroffenen Abschiebungen in lebensgefährliche Zustände bedeuten würden.
[1] Die Schutzquote umfasst den Schutz nach Art. 16a GG, den Flüchtlingsschutz, subsidiären Schutz und nationalen Abschiebungsschutz. Die bereinigte Gesamtschutzquote errechnet sich, indem aus der Gesamtzahl der Entscheidungen des BAMF alle „formellen Entscheidungen“ herausgerechnet werden. Die „formellen Entscheidungen“ sind jene, in denen das BAMF keine inhaltliche Aussage zum Antrag trifft, sondern die Fälle sich bereits vor der behördlichen Entscheidung anderweitig erledigen.
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