19.11.2015

Afgha­ni­sche Flücht­lin­ge nicht verunsichern

Die Bun­des­re­gie­rung hat ges­tern eine Ver­län­ge­rung des Bun­des­wehr­ein­sat­zes in Afgha­ni­stan und eine Auf­sto­ckung der deut­schen Trup­pen auf 980 Sol­da­ten (plus 130) beschlos­sen. Als Reak­ti­on auf die sich rapi­de ver­schlech­tern­de Sicher­heits­la­ge dürf­te die Per­so­nal­auf­sto­ckung einer Mis­si­on, die sich auf Aus­bil­dung und Bera­tung der afgha­ni­schen Sicher­heits­kräf­te kon­zen­triert, kaum Wir­kung zei­gen. In der afgha­ni­schen Bevöl­ke­rung haben die Erfol­ge der Tali­ban, das Auf­tau­chen von IS-Kräf­ten und ins­be­son­de­re die zeit­wei­li­ge Beset­zung der Stadt Kun­duz – ehe­mals Stand­ort eines gro­ßen Bun­des­wehr­feld­la­gers – Ver­un­si­che­rung und Angst aus­ge­löst und die Zah­len derer, die auf der Suche nach Schutz Afgha­ni­stan ver­las­sen, in die Höhe getrie­ben. Vor die­sem Hin­ter­grund for­dert PRO ASYL die Bun­des­re­gie­rung auf, von der Idee ver­stärk­ter Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan sofort Abstand zu neh­men. Die inner­deut­sche Dis­kus­si­on hat bereits jetzt dazu geführt, dass vie­le Afgha­nen sich in Tor­schluss­pa­nik auf den gefähr­li­chen Weg machen, jetzt in grö­ße­rer Zahl mit ihren Familienangehörigen.

Nach­hal­ti­ge Sicher­heit in Afgha­ni­stan gibt es nicht. Der aktu­el­le Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes zur asyl- und abschie­bere­le­van­ten Lage ist – diplo­ma­tisch zwar ein wenig ver­brämt – ein düs­te­res Zeug­nis. Dort heißt es: „Die afgha­ni­schen Sicher­heits­kräf­te (ANDSF), die seit Janu­ar 2015 erst­mals die vol­le Ver­ant­wor­tung für die Sicher­heit des Lan­des über­nah­men, haben es geschafft, das Patt mit der Insur­genz auf­recht zu erhal­ten.“ Auf Deutsch: Es gibt angeb­lich eine Art Unent­schie­den zwi­schen Sicher­heits­kräf­ten, Tali­ban und ande­ren Auf­stän­di­schen. Fuß­ball-Deutsch statt Diplo­ma­tisch-Deutsch gespro­chen wäre das wohl deut­li­cher: Die Null steht noch.

Absur­der­wei­se ver­kauft der Bericht es als Erfolg, dass es den Insur­gen­ten nicht gelun­gen sei, grö­ße­re Pro­vinz- und Distrikt­zen­tren ein­zu­neh­men und dau­er­haft zu hal­ten. Die mehr­tä­gi­ge Beset­zung der Pro­vinz­haupt­stadt Kun­duz durch die Tali­ban wird dem­entspre­chend zu einer Baga­tel­le abge­wer­tet. Das sieht die afgha­ni­sche Bevöl­ke­rung ganz anders. Die erst­ma­li­ge Beset­zung einer Pro­vinz­haupt­stadt ist von hoher sym­bo­li­scher Bedeu­tung für die Tali­ban, die dies weid­lich medi­al aus­ge­schlach­tet haben und auf eine wei­te­re Beset­zung der Stadt nicht ange­wie­sen sind. Eine von Prä­si­dent Gha­ni ein­ge­setz­te Unter­su­chungs­kom­mis­si­on habe ein Fehl­ver­hal­ten der Füh­rungs­eli­ten von Armee, Poli­zei und Geheim­dienst fest­ge­stellt, zei­ge aber den Wil­len, zu ver­hin­dern, dass sich der Fall Kun­duz wie­der­ho­le. Das ist die aktu­el­le Hoff­nung, wie sie aus dem Bun­ker der deut­schen Bot­schaft in Kabul her­aus – den deut­sche Diplo­ma­ten wohl kaum noch ver­las­sen – prä­sen­tiert wird. Das Anschluss­man­dat der gro­ßen Part­ner­staa­ten wer­de zu „einer Stei­ge­rung der Ein­satz­fä­hig­keit der afgha­ni­schen Sicher­heits­kräf­te und somit mit­tel- bis lang­fris­tig zu einer Sta­bi­li­sie­rung der Sicher­heits­la­ge bei­tra­gen.“ Gesund­be­te­rei als deut­scher Bei­trag zur Nato-Stra­te­gie. (Arti­kel von IPG)

Immer­hin: Hin­ge­wie­sen wird auch auf die höchs­te Zahl zivi­ler Opfer in den letz­ten Jah­ren und die gewan­del­te Stim­mung in der Bevöl­ke­rung: „Zukunfts­ängs­te und Unsi­cher­heit hin­sicht­lich der wirt­schaft­li­chen und sicher­heits­po­li­ti­schen Ent­wick­lung des Lan­des sind jedoch in der Bevöl­ke­rung weit ver­brei­tet.“ Auch heißt es an ande­rer Stel­le, die zeit­wei­se Ein­nah­me von Distrik­ten in ver­schie­de­nen Pro­vin­zen Afgha­ni­stans und nicht zuletzt die Beset­zung der Pro­vinz­haupt­stadt Kun­duz habe die Zahl der Bin­nen­flücht­lin­ge wei­ter erhöht. In die­se Situa­ti­on hin­ein mehr Abschie­bun­gen – das wäre absurd.

Zum Hin­ter­grund: Kri­tik an Aus­sa­gen des Lage­be­richts vom Aus­wär­ti­gen Amt

Schwie­rig­kei­ten haben die deut­schen Diplo­ma­ten, die Sicher­heits­la­ge über­haupt noch zu über­bli­cken. Die Erfas­sung sicher­heits­re­le­van­ter Zwi­schen­fäl­le erfolgt inzwi­schen durch die afgha­ni­schen Sicher­heits­kräf­te, deren Mel­dun­gen, so der Bericht, nicht über­prüft wer­den kön­nen. Wenn das so ist und die deut­schen Bun­ker-Diplo­ma­ten Schwie­rig­kei­ten haben wer­den, Fak­ten aus eige­ner Anschau­ung zu gewin­nen, dann fragt man sich, was fol­gen­der Satz bedeu­ten soll: „Die Bun­des­re­gie­rung ist daher 2013 zu einer weni­ger quan­ti­ta­tiv begrün­de­ten Bewer­tung der Sicher­heits­la­ge über­ge­gan­gen, die die Kon­trol­lier­bar­keit der Sicher­heits­la­ge in bestimm­ten Räu­men in den Mit­tel­punkt stellt.“ Dazu aller­dings ent­hält der Bericht eben­so wenig bewert­ba­re Fak­ten wie zu den Her­kunfts­re­gio­nen der für Dezem­ber 2014 auf 800.000 bezif­fer­ten afgha­ni­schen kon­flikt­in­du­zier­ten Bin­nen­flücht­lin­ge, von denen es inzwi­schen wohl fast eine Mil­li­on geben dürf­te. Kun­duz gehört dazu. (Afgha­ni­stan-Update der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­hil­fe)

Abge­scho­ben wer­den sol­len, so ein Beschluss der Regie­rungs­ko­ali­ti­on in Ber­lin, afgha­ni­sche Flücht­lin­ge in siche­re Gebie­te. Von denen dürf­te es aber selbst bei groß­zü­gi­gem Igno­rie­ren sicher­heits­re­le­van­ter Vor­fäl­le nur weni­ge geben. Der afgha­ni­sche Flücht­lings­mi­nis­ter Balkhi wird im Lage­be­richt mit sei­ner Ein­schät­zung zitiert, drei Pro­vin­zen sei­en nament­lich sicher: Kabul, Bami­yan, Pan­js­hir. Das sind drei Pro­vin­zen, die zusam­men nur einen gerin­gen Teil der Lan­des­flä­che aus­ma­chen. Nur Stadt und Pro­vinz Kabul haben einen erheb­li­chen Anteil an der Bevöl­ke­rungs­zahl Afgha­ni­stans. Es han­delt sich um Inseln im Meer der Insur­genz. Pan­js­hir und Bami­yan dürf­ten, u.a. weil sie kaum erreich­bar sind, als inlän­di­sche Flucht­al­ter­na­ti­ven aus­fal­len. Es ist in Afgha­ni­stan auch nicht so ein­fach, als Ange­hö­ri­ger einer bestimm­ten Eth­nie im Gebiet einer ande­ren Eth­nie Fuß zu fas­sen, wie es bei einem Umzug von Stutt­gart nach Ber­lin der Fall wäre. Kabul ist auf­grund der hohen Zahl der in die Regi­on drän­gen­den Bin­nen­flücht­lin­ge ein schwie­ri­ger Ort, an dem immer weni­ger Leu­te ein men­schen­wür­di­ges Aus­kom­men fin­den können.

Deutsch­land macht Druck auf die afgha­ni­sche Regie­rung, die jüngst zuge­sagt haben soll, ihren völ­ker­recht­li­chen Pflich­ten zur Auf­nah­me von Rück­keh­rern nach­zu­kom­men. Die afgha­ni­sche Regie­rung glaubt offen­bar, kei­ne ande­re Mög­lich­keit zu haben, steht sie doch vor dem Hin­ter­grund sin­ken­der inter­na­tio­na­ler Inves­ti­tio­nen und „der stark schrump­fen­den Nach­fra­ge durch den Rück­gang inter­na­tio­na­ler Trup­pen um etwa 90 Pro­zent“ (der Lage­be­richt zur Ver­gäng­lich­keit der wirt­schaft­li­chen Sumpf­blü­te) mit dem Rücken zur Wand. Deutsch­land lie­fert erheb­li­che Bei­trä­ge zum Bud­get Afgha­ni­stans, offi­zi­ell zu „Wie­der­auf­bau und Ent­wick­lung“ (in wel­chen Taschen die Mit­tel am Ende auch lan­den wer­den) und betei­ligt sich auch an der Finan­zie­rung der afgha­ni­schen Sicherheitskräfte.

Einer der Wir-machen-den-Weg-frei-für-Abschie­bun­gen-Sät­ze im Lage­be­richt lau­tet: „Auf­grund kul­tu­rel­ler Bedin­gun­gen sind die Auf­nah­me und die Chan­cen außer­halb des eige­nen Fami­li­en- bzw. Stam­mes­ver­ban­des vor allem in grö­ße­ren Städ­ten rea­lis­tisch.“ Hier soll die Flucht­al­ter­na­ti­ve Kabul ange­prie­sen wer­den, an der ein Teil der deut­schen Recht­spre­chung bis­lang festhält.

Der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes ord­net sich ein in die jüngs­ten Ver­su­che der Bun­des­re­gie­rung, die Ent­schei­dun­gen von afgha­ni­schen Flücht­lin­gen, ihr Land zu ver­las­sen, zu dele­gi­ti­mie­ren. Bestand­teil die­ser Stra­te­gie ist auch die aktu­el­le Pla­kat­kam­pa­gne, mit der poten­ti­el­le Flücht­lin­ge im Lan­de gehal­ten wer­den sol­len. Ber­lins Bot­schaf­ter in Kabul, Mar­kus Pot­zel, ver­tritt in einem Inter­view mit der Deut­schen Wel­le am 16.11.2015 die offi­zi­el­le Dok­trin: Natür­lich wer­de man abge­lehn­te Asyl­be­wer­ber nur an Orte zurück­füh­ren, wo man davon aus­ge­hen kön­ne, dass ihnen kei­ne unmit­tel­ba­re Gefahr für Leib und Leben dro­he. Da ist die Aus­blen­dung vie­ler Fak­ten hilf­reich. Aus dem Bot­schafts­bun­ker her­aus wer­den Durch­hal­te­pa­ro­len ver­kün­det: Es wer­de bei medi­en­wirk­sa­men Bil­dern von Anschlä­gen und Kämp­fen leicht ver­ges­sen, dass die über­wie­gen­de Zahl der Men­schen in Afgha­ni­stan ihr ganz nor­ma­les Leben wei­ter­füh­re und mit ande­rem beschäf­tigt sei als mit Sicher­heits­pro­ble­men. Kaum glaub­haft ist dies vor dem Hin­ter­grund der Ver­lust­zah­len der afgha­ni­schen Sicher­heits­kräf­te, die sich im ers­ten Halb­jahr 2015 selbst nach dem Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes auf 4.407 Gefal­le­ne und 8.285 Ver­wun­de­te belau­fen, ein Anstieg von 57 Pro­zent zum Vor­jah­res­zeit­raum. Mas­sen­deser­tio­nen der Sicher­heits­kräf­te sind gar kein The­ma im Bericht.

 Kur­ze Neu­ig­kei­ten aus dem angeb­lich siche­ren Afgha­ni­stan: Nah­rungs­ver­sor­gung im Nor­den kri­tisch (30.11.15)

 Mehr Sol­da­ten nach Afgha­ni­stan – aber trotz­dem dort­hin abschie­ben? (20.11.15)

Alle Presse­mitteilungen