Afghanische Flüchtlinge nicht verunsichern
Die Bundesregierung hat gestern eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan und eine Aufstockung der deutschen Truppen auf 980 Soldaten (plus 130) beschlossen. Als Reaktion auf die sich rapide verschlechternde Sicherheitslage dürfte die Personalaufstockung einer Mission, die sich auf Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte konzentriert, kaum Wirkung zeigen. In der afghanischen Bevölkerung haben die Erfolge der Taliban, das Auftauchen von IS-Kräften und insbesondere die zeitweilige Besetzung der Stadt Kunduz – ehemals Standort eines großen Bundeswehrfeldlagers – Verunsicherung und Angst ausgelöst und die Zahlen derer, die auf der Suche nach Schutz Afghanistan verlassen, in die Höhe getrieben. Vor diesem Hintergrund fordert PRO ASYL die Bundesregierung auf, von der Idee verstärkter Abschiebungen nach Afghanistan sofort Abstand zu nehmen. Die innerdeutsche Diskussion hat bereits jetzt dazu geführt, dass viele Afghanen sich in Torschlusspanik auf den gefährlichen Weg machen, jetzt in größerer Zahl mit ihren Familienangehörigen.
Nachhaltige Sicherheit in Afghanistan gibt es nicht. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschieberelevanten Lage ist – diplomatisch zwar ein wenig verbrämt – ein düsteres Zeugnis. Dort heißt es: „Die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF), die seit Januar 2015 erstmals die volle Verantwortung für die Sicherheit des Landes übernahmen, haben es geschafft, das Patt mit der Insurgenz aufrecht zu erhalten.“ Auf Deutsch: Es gibt angeblich eine Art Unentschieden zwischen Sicherheitskräften, Taliban und anderen Aufständischen. Fußball-Deutsch statt Diplomatisch-Deutsch gesprochen wäre das wohl deutlicher: Die Null steht noch.
Absurderweise verkauft der Bericht es als Erfolg, dass es den Insurgenten nicht gelungen sei, größere Provinz- und Distriktzentren einzunehmen und dauerhaft zu halten. Die mehrtägige Besetzung der Provinzhauptstadt Kunduz durch die Taliban wird dementsprechend zu einer Bagatelle abgewertet. Das sieht die afghanische Bevölkerung ganz anders. Die erstmalige Besetzung einer Provinzhauptstadt ist von hoher symbolischer Bedeutung für die Taliban, die dies weidlich medial ausgeschlachtet haben und auf eine weitere Besetzung der Stadt nicht angewiesen sind. Eine von Präsident Ghani eingesetzte Untersuchungskommission habe ein Fehlverhalten der Führungseliten von Armee, Polizei und Geheimdienst festgestellt, zeige aber den Willen, zu verhindern, dass sich der Fall Kunduz wiederhole. Das ist die aktuelle Hoffnung, wie sie aus dem Bunker der deutschen Botschaft in Kabul heraus – den deutsche Diplomaten wohl kaum noch verlassen – präsentiert wird. Das Anschlussmandat der großen Partnerstaaten werde zu „einer Steigerung der Einsatzfähigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte und somit mittel- bis langfristig zu einer Stabilisierung der Sicherheitslage beitragen.“ Gesundbeterei als deutscher Beitrag zur Nato-Strategie. (Artikel von IPG)
Immerhin: Hingewiesen wird auch auf die höchste Zahl ziviler Opfer in den letzten Jahren und die gewandelte Stimmung in der Bevölkerung: „Zukunftsängste und Unsicherheit hinsichtlich der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Entwicklung des Landes sind jedoch in der Bevölkerung weit verbreitet.“ Auch heißt es an anderer Stelle, die zeitweise Einnahme von Distrikten in verschiedenen Provinzen Afghanistans und nicht zuletzt die Besetzung der Provinzhauptstadt Kunduz habe die Zahl der Binnenflüchtlinge weiter erhöht. In diese Situation hinein mehr Abschiebungen – das wäre absurd.
Zum Hintergrund: Kritik an Aussagen des Lageberichts vom Auswärtigen Amt
Schwierigkeiten haben die deutschen Diplomaten, die Sicherheitslage überhaupt noch zu überblicken. Die Erfassung sicherheitsrelevanter Zwischenfälle erfolgt inzwischen durch die afghanischen Sicherheitskräfte, deren Meldungen, so der Bericht, nicht überprüft werden können. Wenn das so ist und die deutschen Bunker-Diplomaten Schwierigkeiten haben werden, Fakten aus eigener Anschauung zu gewinnen, dann fragt man sich, was folgender Satz bedeuten soll: „Die Bundesregierung ist daher 2013 zu einer weniger quantitativ begründeten Bewertung der Sicherheitslage übergegangen, die die Kontrollierbarkeit der Sicherheitslage in bestimmten Räumen in den Mittelpunkt stellt.“ Dazu allerdings enthält der Bericht ebenso wenig bewertbare Fakten wie zu den Herkunftsregionen der für Dezember 2014 auf 800.000 bezifferten afghanischen konfliktinduzierten Binnenflüchtlinge, von denen es inzwischen wohl fast eine Million geben dürfte. Kunduz gehört dazu. (Afghanistan-Update der Schweizerischen Flüchtlingshilfe)
Abgeschoben werden sollen, so ein Beschluss der Regierungskoalition in Berlin, afghanische Flüchtlinge in sichere Gebiete. Von denen dürfte es aber selbst bei großzügigem Ignorieren sicherheitsrelevanter Vorfälle nur wenige geben. Der afghanische Flüchtlingsminister Balkhi wird im Lagebericht mit seiner Einschätzung zitiert, drei Provinzen seien namentlich sicher: Kabul, Bamiyan, Panjshir. Das sind drei Provinzen, die zusammen nur einen geringen Teil der Landesfläche ausmachen. Nur Stadt und Provinz Kabul haben einen erheblichen Anteil an der Bevölkerungszahl Afghanistans. Es handelt sich um Inseln im Meer der Insurgenz. Panjshir und Bamiyan dürften, u.a. weil sie kaum erreichbar sind, als inländische Fluchtalternativen ausfallen. Es ist in Afghanistan auch nicht so einfach, als Angehöriger einer bestimmten Ethnie im Gebiet einer anderen Ethnie Fuß zu fassen, wie es bei einem Umzug von Stuttgart nach Berlin der Fall wäre. Kabul ist aufgrund der hohen Zahl der in die Region drängenden Binnenflüchtlinge ein schwieriger Ort, an dem immer weniger Leute ein menschenwürdiges Auskommen finden können.
Deutschland macht Druck auf die afghanische Regierung, die jüngst zugesagt haben soll, ihren völkerrechtlichen Pflichten zur Aufnahme von Rückkehrern nachzukommen. Die afghanische Regierung glaubt offenbar, keine andere Möglichkeit zu haben, steht sie doch vor dem Hintergrund sinkender internationaler Investitionen und „der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 Prozent“ (der Lagebericht zur Vergänglichkeit der wirtschaftlichen Sumpfblüte) mit dem Rücken zur Wand. Deutschland liefert erhebliche Beiträge zum Budget Afghanistans, offiziell zu „Wiederaufbau und Entwicklung“ (in welchen Taschen die Mittel am Ende auch landen werden) und beteiligt sich auch an der Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte.
Einer der Wir-machen-den-Weg-frei-für-Abschiebungen-Sätze im Lagebericht lautet: „Aufgrund kultureller Bedingungen sind die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familien- bzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.“ Hier soll die Fluchtalternative Kabul angepriesen werden, an der ein Teil der deutschen Rechtsprechung bislang festhält.
Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes ordnet sich ein in die jüngsten Versuche der Bundesregierung, die Entscheidungen von afghanischen Flüchtlingen, ihr Land zu verlassen, zu delegitimieren. Bestandteil dieser Strategie ist auch die aktuelle Plakatkampagne, mit der potentielle Flüchtlinge im Lande gehalten werden sollen. Berlins Botschafter in Kabul, Markus Potzel, vertritt in einem Interview mit der Deutschen Welle am 16.11.2015 die offizielle Doktrin: Natürlich werde man abgelehnte Asylbewerber nur an Orte zurückführen, wo man davon ausgehen könne, dass ihnen keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben drohe. Da ist die Ausblendung vieler Fakten hilfreich. Aus dem Botschaftsbunker heraus werden Durchhalteparolen verkündet: Es werde bei medienwirksamen Bildern von Anschlägen und Kämpfen leicht vergessen, dass die überwiegende Zahl der Menschen in Afghanistan ihr ganz normales Leben weiterführe und mit anderem beschäftigt sei als mit Sicherheitsproblemen. Kaum glaubhaft ist dies vor dem Hintergrund der Verlustzahlen der afghanischen Sicherheitskräfte, die sich im ersten Halbjahr 2015 selbst nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes auf 4.407 Gefallene und 8.285 Verwundete belaufen, ein Anstieg von 57 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Massendesertionen der Sicherheitskräfte sind gar kein Thema im Bericht.
Mehr Soldaten nach Afghanistan – aber trotzdem dorthin abschieben? (20.11.15)