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In 2015 sind mindestens 1700 Flüchtlinge an Europas Grenzen ums Leben gekommen. Dreißigmal so viele wie im Vorjaherszeitraum. Foto: MOAS / Darrin Zammit Lupi

Seenotrettung ist essentielle humanitäre Pflicht. Doch auch Völkerrecht, Seerecht und EU-Menschenrecht verpflichten zur Rettung. Dabei sind enge Grenzen gesetzt: Die angedachten Pull-Backs in Richtung Libyen, Tunesien oder Ägypten etwa verbieten das Völkerrecht und das Seerecht. Was ist ein sicherer Hafen? Wann und durch wen muss gerettet werden? Eine juristische Betrachtung.

Mehr als 1700 Men­schen muss­ten in 2015 bereits im Mit­tel­meer ster­ben. Erst jetzt wird auf EU-Ebe­ne dar­über bera­ten, was getan wer­den muss. Die bis­he­ri­gen Vor­schlä­ge grei­fen zu kurz oder zie­len schlicht auf Abschot­tung. Ein von man­chen Poli­ti­kern ange­dach­tes Sze­na­rio: Die EU lässt Flücht­lings­boo­te auf dem Weg nach Euro­pa abfan­gen und bringt die Schutz­su­chen­den in Nord­afri­ka an Land. Abseits der Fra­ge was dort mit ihnen geschieht, wür­de ein sol­ches Vor­ge­hen einen Ver­stoß gegen das See­recht, Völ­ker­recht und EU-Men­schen­recht darstellen.

1. See­not­ret­tung als men­schen­recht­li­che Pflicht: Euro­pa muss retten

Die See­not­ret­tung ist eine men­schen­recht­li­che und völ­ker­recht­li­che Ver­pflich­tung. Durch zahl­rei­che see­recht­li­che Abkom­men haben sich die Staa­ten ver­pflich­tet, Men­schen in See­not zu ret­ten und sie in siche­re Häfen zu ver­brin­gen. Zen­tral ist Art. 98 des See­rechts­über­ein­kom­mens der Ver­ein­ten Natio­nen (SRÜ): „Jeder Staat ver­pflich­tet den Kapi­tän eines sei­ne Flag­ge füh­ren­den Schif­fes, jeder Per­son, die auf See in Lebens­ge­fahr ange­trof­fen wird, Hil­fe zu leis­ten“. Der Staat muss auch Han­dels­schif­fe effek­tiv unter­stüt­zen, die an See­not­ret­tungs­maß­nah­men betei­ligt sind.

Die Flücht­lings­ka­ta­stro­phen im Mit­tel­meer sind allen EU-Staa­ten bekannt, das heißt sie müs­sen dafür Sor­ge tra­gen, dass genü­gend Schif­fe in einem weit­räu­mi­gen Radi­us – auch auf der Hohen See – schnell und effek­tiv Hil­fe leis­ten können.

Die EU wird die­sen Anfor­de­run­gen bis­her nicht gerecht. Auch die jetzt ange­dach­te Ver­dop­pe­lung der mate­ri­el­len und finan­zi­el­len Res­sour­cen der Fron­tex-Ope­ra­ti­on Tri­ton wür­de dar­an kaum etwas ändern. Der vor­ge­se­he­ne Etat von monat­lich 6 Mil­lio­nen Euro reicht nicht annä­hernd aus, um sys­te­ma­tisch Boots­flücht­lin­ge zu retten.

Doch selbst bei einer ange­mes­se­ner Aus­stat­tung: Fron­tex ist ein Grenzz­schutz­agen­tur. Für eine sys­te­ma­ti­sche See­not­ret­tung hat Fron­tex das fal­sche Man­dat. Auch der Fron­tex-Direk­tor Fabri­ce Leg­ge­ri erklär­te ges­tern gegen­über den Guar­di­an: „In unse­rem Ein­satz sind kei­ne akti­ven Such- und Ret­tungs­maß­nah­men vor­ge­se­hen. Das ist nicht Teil des Man­dats von Fron­tex und das ist nach mei­nem Ver­ständ­nis auch nicht Teil des Man­dats der Euro­päi­schen Uni­on.“ Klar ist: Fron­tex kann und darf kei­nen euro­päi­schen zivi­len See­not­ret­tungs­dienst ersetzten.

2. EGMR Rechts­spre­chung ver­bie­tet Push-Backs in Rich­tung Nordafrika 

Der Vor­schlag, Flücht­lings­boo­te auf dem Weg nach Euro­pa abzu­fan­gen und nach Nord­afri­ka zurück­zu­brin­gen, steht im Wider­spruch zum Völ­ker­recht. Unter kei­nen Umstän­den dür­fen die euro­päi­schen Schif­fe in See­not gera­te­ne Flücht­lin­ge zurück in die afri­ka­ni­schen Tran­sit­staa­ten schi­cken. Im Jah­re 2012 hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) in sei­nem weg­wei­sen­den Hir­si-Urteil klar­ge­stellt, dass die Men­schen­rech­te auch auf der Hohen See anwend­bar sind. Sobald sich Flücht­lin­ge auf einem euro­päi­schen Schiff befin­den, unter­fal­len sie der effek­ti­ven Kon­trol­le des jewei­li­gen Staa­tes. Die­ser muss den Flücht­lin­gen einen Zugang zum Asyl­ver­fah­ren verschaffen.

Im dama­li­gen soge­nann­ten Hir­si-Ver­fah­ren hat­te der EGMR nur über eine kon­kre­te Push-Back-Ope­ra­ti­on von Ita­li­en nach Liby­en zu ent­schei­den. Die Vor­ga­ben aus dem Urteil gel­ten aber für Rück­schie­bun­gen in alle afri­ka­ni­schen Tran­sit­staa­ten, in denen Flücht­lin­gen eine ernied­ri­gen­de oder unmensch­li­che Behand­lung oder sogar Fol­ter droht. Eine Rück­schie­bung in sol­che Staa­ten stellt einen Ver­stoß gegen Art. 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on dar.

3. See­recht und GFK: Flücht­lin­ge müs­sen in siche­re Häfen gebracht werden

Die EU-Innen­mi­nis­ter wol­len den­noch, dass geret­te­te Flücht­lin­ge in afri­ka­ni­sche Tran­sit­staa­ten zurück­ge­bracht wer­den sol­len. Nach gel­ten­dem See­recht dür­fen Flücht­lin­ge nur in siche­re Häfen ver­bracht wer­den. Doch was ist ein siche­rer Hafen? Die Inter­pre­ta­ti­on der see­recht­li­chen Nor­men ist im Fal­le von in See­not gera­ten Flücht­lin­gen im Zusam­men­hang mit der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) aus­zu­le­gen. Ein siche­rer Ort ist nur dann gege­ben, wenn Flücht­lin­ge nicht fürch­ten müs­sen in Staa­ten ver­bracht zu wer­den, in denen sie Ver­fol­gung und ernied­ri­gen­der Behand­lung aus­ge­setzt sind. Daher gilt: Das soge­nann­te Non-Refou­le­ment-Ver­bot aus Art. 33 Abs. 1 der GFK ver­bie­tet die von der EU avi­sier­te Rückschiebungspraxis.

In den „MSC Gui­de­lines on the tre­at­ment of per­sons res­cued at sea“, die zur Aus­le­gung see­recht­li­cher Abkom­men ent­wi­ckelt wur­den, wird ein siche­rer Hafen als ein Ort defi­niert, an dem die aus See­not Geret­te­ten kei­ne wei­te­ren Gefah­ren zu befürch­ten haben und an dem ihre Grund­be­dürf­nis­se, bei­spiels­wei­se Ernäh­rung, Gesund­heits­ver­sor­gung und Obdach gesi­chert sind (Rn. 6.12.) Die nord­afri­ka­ni­schen Tran­sit­staa­ten erfül­len die­se Anfor­de­run­gen nicht:

  • Human Rights Watch berich­tet, dass Flücht­lin­ge in Liby­en nicht nur unter men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen gefan­gen gehal­ten, sie erlei­den schlimms­te Miss­hand­lun­gen und Fol­ter. Flücht­lin­ge aus Syri­en, Eri­trea, Soma­lia, etc. kämp­fen um ihr Über­le­ben. Das Land hat die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on nicht unter­schrie­ben. In Liby­en befin­den sich nur 36.000 offi­zi­ell von UNHCR regis­trier­te Asyl­su­chen­de und Flücht­lin­ge aus Län­dern wie Syri­en, Eri­trea, Irak oder Paläs­ti­na. Die aller­we­nigs­ten konn­ten sich jedoch beim UN-Flücht­lings­hoch­kom­mis­sa­ri­at regis­trie­ren las­sen. Mitt­ler­wei­le hat das UNHCR auf­grund der insta­bi­len Lage sein Büro in Tri­po­lis auf­ge­ge­ben und ope­riert der­zeit von Tunis aus. Die anhal­ten­den Kämp­fe und Insta­bi­li­tät im Land zwin­gen tau­sen­de zur Flucht aus Libyen.
  • In Ägyp­ten sind über 130.000 syri­sche Flücht­lin­ge von UNHCR der­zeit regis­triert. Sie leben in bit­te­rer Not, Angrif­fe und Hass neh­men zu. Immer wie­der kommt es zur will­kür­li­chen Inhaf­tie­rung von Flücht­lin­gen, mit Pro­tes­ten bis hin zum Hun­ger­streik ver­lei­hen die Schutz­su­chen­den ihrer Ver­zweif­lung immer wie­der Aus­druck. Schät­zun­gen aus loka­len Quel­len gehen davon aus, dass seit August 2013 über 7.000 Flücht­lin­ge in Ägyp­ten inhaf­tiert wur­den. Auf­nah­me­struk­tu­ren sind fak­tisch inexis­tent. Im Juli 2013 hat­te die ägyp­ti­sche Regie­rung stren­ge Visums-Auf­la­gen für Syre­rin­nen und Syrer erlas­sen. Für syri­sche Flücht­lin­ge wur­de es mit den Visare­strik­tio­nen fak­tisch kaum mög­lich, legal nach Ägyp­ten zu gelan­gen, um Asyl zu suchen. In Ägyp­ten sit­zen geschätz­te 20.000 poli­ti­sche Gefan­ge­ne in Haft. Isla­mis­ten, aber auch Akti­vis­ten der Revo­lu­ti­on von 2011 wer­den ver­folgt, Demons­tra­tio­nen ver­bo­ten,  Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen wer­den ein­ge­schüch­tert und Grund­rech­te eingeschränkt.
  • In Tune­si­en gibt es kein Rechts­sys­tem, das die grund­le­gen­den Rech­te von Flücht­lin­gen, Migran­tin­nen und Migran­ten garan­tie­ren kann. Seit 2011 wird an einer Asyl­ge­setz­ge­bung gear­bei­tet, deren Umset­zung nach wie vor nicht in Sicht ist. Durch die anhal­ten­den Kämp­fe in Liby­en haben die Flucht­be­we­gun­gen sowohl von sub­sa­ha­ri­schen Flücht­lin­gen als auch von Liby­ern nach Tune­si­en stark zuge­nom­men.  Das Land im Umbruch ist nicht in der Lage ihnen annä­hernd adäqua­ten Schutz zu gewäh­ren. Wie in ande­ren nord­afri­ka­ni­schen Län­dern (bspw. Ägyp­ten und Marok­ko) sieht das  tune­si­sche Recht Stra­fen für die „irre­gu­lä­re Ein- und Aus­rei­se“ vor, was immer wie­der zur Inhaf­tie­rung von Flücht­lin­gen und Migran­ten führt.  Schutz­su­chen­de lei­den unter Ras­sis­mus gegen­über Men­schen aus Län­dern süd­lich der Sahara.

Dass Vor­ha­ben der EU, Län­der wie Liby­en, Tune­si­en oder Ägyp­ten dazu anzu­hal­ten, Flücht­lin­ge ent­lang ihrer Küs­ten abzu­fan­gen, wür­de Flücht­lin­ge in ihren grund­le­gen­den Rech­ten verletzen.

4. Grenz­kon­trol­len durch liby­sche Schif­fe: Umge­hung der EGMR-Rechtsprechung?
Die EU erwägt, dass Schif­fe von nord­afri­ka­ni­schen Staa­ten in ihren Gewäs­sern Flücht­lings­boo­te an der Abfahrt hin­dern sol­len. Sei­ner­zeit urteil­te der Gerichts­hof im Hir­si-Ver­fah­ren nur über die Push-Back-Ope­ra­tio­nen nach Liby­en. Der EGMR kann nur in Bezug auf einen kon­kre­ten Fall Recht spre­chen. Die aktu­el­len Ideen der EU-Innen­mi­nis­ter, die Grenz­kon­trol­len in nord­afri­ka­ni­sche Gewäs­ser zu ver­la­gern, konn­ten des­we­gen nicht in dem Urteil behan­delt wer­den. Doch wie ist die Lage, wenn nord­afri­ka­ni­sche Staa­ten selbst Kon­trol­len durch­füh­ren? Sind die­se Staa­ten dann auch an die EMRK gebun­den? Nein, aber die EU bleibt an ihre men­schen­recht­li­chen Grund­sät­ze gebunden.

In einem Son­der­vo­tum zum Hir­si-Urteil stell­te der EGMR-Rich­ter Pin­to de Albu­quer­que bereits in 2012 umfang­rei­che Erwä­gun­gen an, wie die Recht­spre­chung des Gerichts­hofs im Hin­blick auf die Ver­la­ge­rung der Grenz­kon­trol­len nach Nord­afri­ka zu bewer­ten sei. Er argu­men­tier­te, dass die EU auch dann an die Men­schen­rech­te aus der EMRK gebun­den bleibt, wenn sie nord­afri­ka­ni­sche Schif­fe anweist, Grenz­kon­trol­len in ihren Gewäs­sern durchzuführen:

„Ein­wan­de­rungs- und Grenz­kon­trol­len wer­den gewöhn­lich von Staats­be­am­ten durch­ge­führt, die ent­lang der Gren­zen eines Lan­des plat­ziert sind, ins­be­son­de­re an Plät­zen des Tran­sits von Men­schen und Gütern, wie Häfen und Flug­hä­fen. Sie kön­nen aber auch von ande­ren Fach­leu­ten an ande­ren Orten durch­ge­führt wer­den. Tat­säch­lich ist die for­ma­le Kom­pe­tenz eines Staats­be­am­ten, der Grenz­si­che­run­gen durch­führt oder der Umstand dass er Waf­fen bei sich trägt, irrele­vant. Alle Reprä­sen­tan­ten, Offi­zi­el­len, Dele­gier­ten, öffent­lich Beschäf­tig­ten, Poli­zei­be­am­te, Voll­zugs­be­hör­den, Sol­da­tin­nen und Sol­da­ten oder zeit­wei­se ange­stell­tes pri­va­tes Per­so­nal oder Mit­glie­der von Pri­vat­un­ter­neh­men, die nach gesetz­li­chen Vor­schrif­ten Funk­tio­nen der Grenz­si­che­rung auf Geheiß von Ver­trags­staa­ten über­neh­men, sind an die Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on gebun­den. (…) Ein Staat kann sei­ne ver­trag­li­chen Ver­pflich­tun­gen gegen­über Flücht­lin­gen nicht umge­hen, indem er den Platz ver­än­dert, an dem der Flücht­lings­sta­tus fest­ge­stellt wird.“

Auch wenn das Son­der­vo­tum nicht bin­dend ist, gibt es doch men­schen­recht­li­che Maß­stä­be zur Beur­tei­lung der aktu­el­len Plä­ne sei­tens der EU-Innen­mi­nis­ter an die Hand. Wenn nord­afri­ka­ni­sche Schif­fe auf Geheiß der EU Grenz­kon­trol­len durch­füh­ren, ist die EU wei­ter­hin in der Pflicht Men­schen­rech­te zu garan­tie­ren und ille­ga­le Push-Back-Ope­ra­tio­nen zu verhindern.

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