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Immer mehr Menschen fliehen…aber nur wenige schaffen es nach Deutschland
Die Zahl der Menschen auf der Flucht weltweit ist auf einem Rekordhoch, ihre Lage verzweifelt. Deutschland hingegen gewährt immer weniger Zuflucht und Schutz. Im ersten Halbjahr 2020 gab es so wenige Asylneuzugänge wie seit 2012 nicht mehr. Zudem werden Tausende vom BAMF unrechtmäßig abgelehnt. Eine Bilanz zum Tag des Flüchtlings.
Ende 2019 waren mit 79,5 Millionen Menschen mehr als 1% der Weltbevölkerung auf der Flucht – so viele wie noch nie. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl gleich um 9 Mio. gestiegen. Der Anstieg hat vor allem zwei Ursachen: Zum einen hat sich die Zahl der Binnenvertriebenen, also der Menschen, die innerhalb ihres Heimatlandes flüchten mussten, besorgniserregend erhöht, insbesondere in der DR Kongo, der Sahelzone, im Jemen und in Syrien. Zum anderen bildet der UNHCR-Bericht erstmals die Situation von Menschen aus Venezuela ab, die in ihren Zufluchtsländern oftmals nicht als Flüchtlinge oder Asylsuchende registriert, aber trotzdem schutzbedürftig sind.
Seit 2010 – also in einem Zeitraum von weniger als 10 Jahren – hat sich die Zahl der Flüchtlinge weltweit verdoppelt (Quelle: UNHCR Global Trends).
Kaum noch jemand schafft es nach Deutschland
In Deutschland hingegen ist von diesen erschütternden Zuständen wenig zu spüren. Im Gegenteil: Im ersten Halbjahr 2020 ging die Zahl der Asylsuchenden erneut deutlich zurück. In den ersten Monaten war ein Rückgang um rund 16 % zu verzeichnen. Durch die Grenzschließungen und die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sanken die Zahlen dann noch viel massiver. Mit 47.300 Asylerstanträgen wurden bis Mitte des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum über 35 % weniger Anträge registriert (Quelle: BAMF).
Wer nun vermutet hätte, dass die deutlich gesunkenen Zugangszahlen zu einer humaneren Entscheidungspraxis geführt hätten, wird enttäuscht.
Da mehr als ein Viertel dieser Anträge für hier geborene Kinder gestellt wurden, lag der reale Zuzug neuer Asylsuchender im ersten Halbjahr bei nur rund 35.000. Geringere Zugangszahlen gab es zuletzt 2012. Die Hauptherkunftsländer waren auch 2020 Syrien, Irak, Afghanistan, Türkei und der Iran, wobei allein Syrien mehr als 28 % der Erstanträge von neu eingereisten Asylsuchenden ausmacht.
Wer nun vermutet hätte, dass diese deutlich gesunkenen Zugangszahlen und die damit frei gewordenen Kapazitäten beim BAMF zu einer humaneren und qualitativ hochwertigeren Entscheidungspraxis geführt hätten, wird enttäuscht.
BAMF-Tricksereien während Corona
Die innereuropäischen Grenzschließungen in Folge der Corona-Pandemie wurden vom BAMF dazu genutzt, um mit rechtlich fragwürdigen Strategien Asylsuchende in eine monatelange, teils immer noch fortdauernde Ungewissheit über ihre Abschiebung zu versetzen.
Zahllose so genannte Dublin-Fälle erhielten Schreiben vom BAMF, wonach ihre Abschiebung ausgesetzt sei. Auch wenn es sich zunächst so anhört: Dies geschah keineswegs zu deren Vorteil. Diese Schreiben hatten den Zweck, die während der Grenzschließungen ablaufenden Dublin-Überstellungsfristen auszuhebeln. Demnach würde Deutschland nicht wie in der Dublin-Verordnung vorgesehen für deren Asylverfahren zuständig werden, sondern nach den Öffnungen der Grenzen erneut sechs Monate Zeit haben, die Betroffenen in andere Staaten abzuschieben (PRO ASYL berichtete).
Nach wie vor warten viele Menschen, die sich z.T. sogar seit weit über einem Jahr in Deutschland aufhalten, immer noch auf die Klärung der Zuständigkeit.
In Fällen ohne anhängige Klageverfahren ist das BAMF – u.a. nach massivem Protest von PRO ASYL – von dieser Praxis abgerückt; auch einige EU-Staaten haben gegen diese BAMF-Praxis protestiert und Betroffene teilweise nicht zurückgenommen, weil Deutschland aus deren Sicht zuständig geworden war. In einigen anderen Fällen haben Gerichte zu Gunsten der Betroffenen entschieden. Nach wie vor aber warten viele Menschen, die sich seit vielen Monaten, z.T. sogar seit weit über einem Jahr in Deutschland aufhalten, immer noch auf die Klärung der Zuständigkeit, bis sie dann endlich eine Prüfung ihrer Asylgründe erwarten dürfen.
Auch was die inhaltlichen Entscheidungen des BAMF angeht, sieht es kaum besser aus: Die Schutzquote stagniert. Zwar ist die »offizielle« Schutzquote, die das BAMF in seinen Statistiken ausweist, von 36 % auf 40 % angestiegen. Betrachtet man jedoch nur diejenigen Fälle, in denen inhaltlich über den Asylantrag entschieden wurde, also über die Asylgründe der Betroffenen und nicht über die formale Zulässigkeit des Antrags, ist die Quote mit rund 55 % nahezu konstant geblieben (mehr Infos zur bereinigten Schutzquote hier).
Immer weniger Flüchtlingsschutz für Betroffene
Obwohl sich die Lage in den Hauptherkunftsländern seit Jahren kaum bessert, erteilt das BAMF neu einreisenden Asylsuchenden immer seltener Flüchtlingsschutz. Zwar machen Flüchtlingsanerkennungen in der offiziellen Statistik mit 19.700 mehr als doppelt so viel wie die Gewährung subsidiären Schutzes (9.100) aus. Allerdings sind fast 15.500 dieser Flüchtlingsanerkennungen auf das so genannte Familienasyl zurückzuführen, insbesondere weil sich der Status von hier geborenen Kindern anerkannter Flüchtlinge vom Status ihrer Eltern ableitet. Auch per Familiennachzug nach Deutschland eingereiste Menschen (z.B. Ehegatt*innen), die trotz Aufenthaltstitel zur Statusklärung Familienasyl beantragen, sind darunter zu finden (Quelle: BT-Drs 19/22023).
Insbesondere am Beispiel Syrien – fast die Hälfte aller Anerkennungen betreffen dieses Herkunftsland – wird dies deutlich: Nur rund 3 % sind eigenständige Anerkennungen, 97 % sind abgeleitet. Auch Menschen aus Eritrea – die wie Syrer*innen bis zur Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte zu fast 100 % als Flüchtlinge anerkannt wurden – sind in gleichem Maße von dieser Praxis betroffen. Auch bei Eritreer*innen leiten sich 97 % der Flüchtlingsanerkennungen von Familienangehörigen ab.
Das heißt: Neu Eingereiste erhalten i.d.R. maximal den subsidiären Schutz, wodurch sie keinen Rechtsanspruch auf Familiennachzug haben und noch länger auf ihre Angehörigen warten müssen, als die oftmals schon viele Jahre wartenden Menschen mit Flüchtlingsanerkennung. Auch Menschen aus dem Irak (94 % der Flüchtlingsanerkennungen sind abgeleitet) und aus Afghanistan (72 %) sind überproportional stark von dieser Praxis betroffen.
Gerichte kassieren zahlreiche BAMF-Entscheidungen
Ablehnungsbescheide des Bundesamts werden zu Tausenden durch die Verwaltungsgerichte korrigiert – ohne dass die Behörde daraus Lehren für ihre Entscheidungspraxis zieht. Es ist gut und richtig, dass Gerichte Betroffenen Schutz zusprechen, denen das BAMF dies zuvor unrechtmäßig verweigert hat. Es ist jedoch völlig unverständlich, dass sie dies immer noch zuhauf tun müssen. Das schiere Ausmaß der korrigierten Ablehnungen lässt Zweifel an der Qualität der Entscheidungspraxis des BAMF aufkommen.
Nachdem die Aufhebungsquote bei inhaltlichen Überprüfungen der BAMF-Bescheide durch die Gerichte in den letzten Jahren gesunken ist, stieg sie im laufenden Jahr wieder auf 30 % an. Das bedeutet, dass fast ein Drittel der inhaltlich überprüften BAMF-Bescheide rechtswidrig waren. Besonders hoch war die Fehlerquote bei Afghanistan: Hier hoben die Gerichte mit 55 % mehr als jede zweite Entscheidung auf. (BT-Drucksache 19/22023)
Insgesamt erhielten über 10.000 ursprünglich vom BAMF abgelehnte Menschen nachträglich einen Schutzstatus zugesprochen.
Entscheidungen zu Somalia wurden in fast der Hälfte aller Fälle (48 %) durch die Gerichte aufgehoben, zum Iran in 40 % der Fälle, wobei fast 90 % der positiven Gerichtsentscheidungen sogar zu Flüchtlingsanerkennungen führten – und damit ggf. zu einem zunächst verwehrten Rechtsanspruch auf Familiennachzug. Ebenfalls sehr hohe gerichtliche Aufhebungsquoten weisen Eritrea (39 %), die Türkei, der Irak (je 28 %) und Syrien (27 %) auf – auch vor Gericht erfolgreiche Syrer*innen erhielten in fast der Hälfte der inhaltlich geprüften Fälle (46 %) die Anerkennung als Flüchtling.
Insgesamt erhielten über 10.000 ursprünglich vom BAMF abgelehnte Menschen per Gerichtsentscheidung oder durch eine Abhilfeentscheidung des BAMF, in denen das BAMF den ursprünglichen Bescheid außergerichtlich aufgehoben hat, nachträglich einen Schutzstatus zugesprochen. Dass man einer derart großen Anzahl an Menschen über Jahre hinweg ihre Rechte verweigert, ist ein Skandal, den sich andere Behörden nicht erlauben könnten.
Angesichts immer noch fast 230.000 anhängigen Asylklageverfahren dauern Gerichtsverfahren im Durchschnitt 22 Monate, also annähernd zwei Jahre, in manchen Fällen sogar weit darüber. Eine unerträglich lange Zeit, in denen die Betroffenen in Unsicherheit leben müssen, ihre Zukunft nicht planen können und von den Angehörigen getrennt sind, sofern diese im Herkunftsland verbleiben mussten.
Das BAMF sollte – statt die eigene Qualität zu loben – insbesondere Bescheide zu Herkunftsländern mit hoher Aufhebungsquote erneut selbst überprüfen und ggf. abändern. Dies würde die Gerichte massiv entlasten und den Betroffenen schneller zu den ihnen zustehenden Rechten verhelfen.
Die Widerrufsbehörde BAMF: Wir schaffen das(s Ihr euch nicht sicher fühlt)
Der von BAMF-Präsident Sommer verkündete Wandel des BAMF von der Asyl- zur Widerrufsbehörde wurde im Jahr 2020 endgültig vollzogen. Rund 79.000 Entscheidungen über Asylanträge stehen über 156.000 Entscheidungen in Widerrufsverfahren gegenüber, also annähernd doppelt so viele. Fast genauso viele Widerrufsverfahren waren Mitte des Jahres noch anhängig. Im Widerrufsverfahren wird geprüft, ob die Betroffenen noch schutzbedürftig sind, also ob sich beispielsweise die Situation in ihrem Herkunftsland gravierend geändert hat und sie zurückkehren könnten.
Mit über 93.000 Widerrufsprüfungen betrafen die meisten dieser Entscheidungen Schutzberechtigte aus Syrien, gefolgt vom Irak (24.500 Entscheidungen), dahinter folgen Afghanistan (12.000) und Eritrea (9.000). Insgesamt 89 % der Entscheidungen im Widerrufsprüfverfahren betrafen also allein diese vier Staaten. Diese Widerrufsprüfungen erfolgen von Amts wegen und unabhängig von einem konkreten Anlass, was ziemlich einzigartig in Europa ist.
Für die Betroffenen bedeuten diese Verfahren vor allem Angst und Unsicherheit im Hinblick auf ihre Zukunft. Ihnen wird suggeriert, dass sie trotz Schutzstatus in Deutschland nicht sicher sind und sein werden und dass ihnen möglicherweise doch bald die Abschiebung nach Syrien, in den Irak, nach Afghanistan oder Eritrea droht. Nicht zuletzt entsteht dieser Eindruck durch die Praxis des BAMF, unzählige Betroffene zu einer persönlichen Anhörung vorzuladen.
Die Widerrufsquote ist hingegen gering und lag bei 2,6 % im ersten Halbjahr. Dazu kommt ein Anteil von 0,4 % an Rücknahmen, bei denen die Schutzzuerkennung fälschlicherweise (z.B. wegen einer falschen Staatsangehörigkeit) erfolgt ist. Somit sind also 99,6 % der Anerkennungen zu Recht erfolgt! Der Aufwand, mit dem das BAMF die Widerrufspraxis betreibt, steht in keinem Verhältnis zum Korrekturbedarf, den diese Behörde bei Ablehnungsbescheiden dringend nötig hätte.
Da sich die Situation in den Hauptherkunftsstaaten nicht in einer Art und Weise geändert hat, die einen Widerruf rechtfertigen würden, sind von diesen Widerrufen mutmaßlich hauptsächlich Menschen betroffen, die sich gar nicht mehr in Deutschland aufhalten. Bei denjenigen, die noch in Deutschland sind, bleibt jedoch häufig die Angst – selbst wenn das Verfahren zu ihren Gunsten, also ohne Widerruf endete.
Erhebliche Aufnahmekapazitäten frei
Anstatt die hier lebenden Schutzsuchenden und Schutzberechtigten systematisch in ihren Rechten einzuschränken und sie in einem ständigen Status der Unsicherheit und des Nicht-Willkommen-Seins zu belassen, sollten endlich wieder menschenrechtliche Aspekte im Vordergrund der Flüchtlingspolitik stehen.
In Deutschland sind erhebliche humanitäre Aufnahmekapazitäten frei. Deutschland wäre in der Lage zu einer großzügigen Aufnahme aus Moria. Zahlreiche Kommunen und Bundesländer haben Aufnahmebereitschaft signalisiert, werden jedoch von der Bundesregierung, vor allem von Bundesinnenminister Seehofer ausgebremst. Dessen auf Kosten der Menschenrechte gebetsmühlenartig wiederholter Verweis auf eine europäische Lösung ist schäbig. Das Einzige, worauf Europa sich zusehends zu einigen scheint ist, den Weg zum Recht auf Asyl zu versperren. Kein Land nimmt in nennenswerter Anzahl Menschen von den griechischen Inseln auf – auch nicht Deutschland. Tausende werden ihrem Schicksal ohne Perspektive überlassen.
PRO ASYL erneuert zum Tag des Flüchtlings die Forderung nach Aufnahme aller Schutzsuchenden von den griechischen Inseln. Es ist beschämend und inakzeptabel, dass Europa immer mehr die Grenzen dicht macht und selbst minimale humanitäre Spielräume versperrt werden.
(dmo)