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Ohne Gnade. Wie eritreischen Flüchtlingen der Familiennachzug verwehrt wird
Heiko Maas feiert sich gerne als Verteidiger der Menschenrechte. Doch Kindern eritreischer Frauen, die auf der Flucht vergewaltigt wurden, verwehrt sein Ministerium den Familiennachzug nach Deutschland – selbst dann, wenn sie sich selbst überlassen sind.
Das letzte Mal hat Suad Mahamed Ali ihre Tochter Nuria vor sechs Jahren im Arm gehabt. Da war die Kleine noch nicht mal ein Jahr alt. Seitdem konnte sie sie nur ab und zu per Smartphone sehen. 2012 war der heute 26-Jährigen die Flucht aus Eritrea gelungen, einer der schlimmsten Diktaturen und ärmsten Länder der Welt, als sie wie alle Jugendlichen nach dem Ende der Schulzeit Militär- und staatlichen Arbeitsdienst leisten sollte, oft jahrzehntelang.
Im Nachbarland Sudan wurde Mahamed Ali von einer Gruppe von Männern verschleppt, sieben Monate lang gefangen gehalten und immer wieder brutal vergewaltigt. Erst als sie hochschwanger wurde, ließen ihre Peiniger sie laufen. In einem Krankenhaus brachte sie ihre Tochter zur Welt. Ein Jahr später floh sie weiter nach Libyen und von da aus übers Mittelmeer schließlich nach Deutschland, wo sie nun in Itzehoe lebt. Nuria ließ sie bei der Frau ihres Bruders im Sudan zurück, der vorher die Flucht nach Schweden geschafft hatte. »Meine kleine Tochter mitzunehmen wäre zu gefährlich gewesen«, sagt Mahamed Ali. »Ich dachte, ich könnte Nuria ganz schnell nachholen«.
Allein zwei Jahre bis zur Flüchtlingsanerkennung
Aber es dauerte erst einmal zwei Jahre, bis sie als Flüchtling anerkannt wurde und den Familiennachzug beantragen konnte. Der wurde jedoch vom zuständigen Auswärtigen Amt (AA) und der Botschaft in Khartum seitdem immer wieder verweigert, obwohl die Vergewaltigungen wesentlicher Grund für ihre Anerkennung waren – mit der Begründung, dass die Tochter keinen Pass hat und die Geburtsurkunde gefälscht sei.
Einen eritreischen Pass kann die Mutter aber nicht beantragen, weil sie selbst keinen hat, und eine neue Geburtsurkunde nicht, da der Vater unbekannt ist. Außerdem müsste sie sich dafür an die eritreischen Behörden wenden, obwohl sie vor dieser Diktatur geflohen ist und Flucht in dem ostafrikanischen Land unter Strafe steht, insbesondere für alle, die vor dem Militär- und Arbeitsdienst fliehen. Ginge sie zur Botschaft Eritreas in Berlin, um die Papiere zu beschaffen, müsste sie daher ein Reuebekenntnis unterschreiben und eine »Fluchtsteuer« zahlen.
Die Sechsjährige ist nun allein im Sudan
Seit dem 5. September ist Nuria nun völlig ohne Familie. Denn die Tante, bei der sie bislang wohnte, ist nach Aufheben der Corona-Reisebeschränkungen mit ihren eigenen drei Kindern zu ihrem Mann nach Schweden geflogen, nachdem sie von den dortigen Behörden nach Jahren eine Aufenthaltserlaubnis bekommen hatte. Um die Sechsjährige kümmert sich jetzt eine fremde Frau in einem Dorf außerhalb der Hauptstadt Khartum, fernab ihrer gewohnten Umgebung, die dafür 150 Euro im Monat verlangt. Das Geld muss die verzweifelte Mutter von ihrer Sozialhilfe aufbringen.
Um die Sechsjährige kümmert sich jetzt eine fremde Frau in einem Dorf außerhalb der Hauptstadt Khartum.
Einen Eilantrag der Anwältin, die sich seit langem um diesen und ähnliche Fälle kümmert, Nuria wegen der Ausreise der Tante kurzfristig die Einreise zu ihrer Mutter zu erlauben, hatte das Verwaltungsgericht Berlin vor wenigen Tagen abgelehnt. Das AA verwies erneut auf die fehlenden Papiere und argumentierte, die Tante habe bis März 2021 Zeit, nach Schweden zu fliegen. Bis dahin könne sie für das Mädchen sorgen. Das Gericht sah deshalb keine Eilbedürftigkeit. Die Anwältin hält es wie PRO ASYL für absurd, ihr eine Fürsorgepflicht zuzuweisen, nur weil die deutsche Botschaft und das AA das Mädchen nicht zu ihrer Mutter lassen.
Suad Mahamed Ali hat inzwischen die Ablehnung des Visum-Antrags für ihre Tochter bekommen. Ihre Anwältin wird jetzt wahrscheinlich im Namen des Kindes Klage dagegen einreichen – mit ungewissem Ausgang.
Verweigerte Familienzusammenführung: Kein Einzelfall
Auch Yodel Weldgebriel ist seit Jahren von ihrem mittlerweile achtjährigen Yohannes getrennt. Auch sie wurde nach ihrer Flucht im Sudan vergewaltigt, kehrte deshalb nach Eritrea zurück, wo sie ihren daraus entstandenen Sohn bekam, musste ihn aber zurücklassen, als ihr ein zweites Mal die Flucht gelang und sie 2014 weiter nach Deutschland floh.
Zuerst war der Junge bei einer Schwester der Mutter. Als diese Sudan verließ, wurde er in einem Karton nach Ägypten geschmuggelt und lebt seit 2016 bei einem äthiopischen Vormund in Kairo, der dafür ebenfalls 150 Euro pro Monat von der Mutter kassiert. Der Junge ist nach Schilderungen von Betreuern weitgehend sich selbst überlassen, muss für sich selbst kochen und seine Wäsche waschen und kann nicht die Schule besuchen, weil die Mutter nicht auch noch das Schulgeld aufbringen kann.
Trotz DNA-Beweis kein Visum
Auch in diesem Fall verweigern die deutsche Botschaft in Kairo und das AA die Familienzusammenführung, weil der Sohn und die Mutter keinen eritreischen Pass, sondern beide nur eine Registrierung als Flüchtlinge haben, und eine vom Regime in Asmara beglaubigte Geburtsurkunde fehlt. Dabei ist auch bei ihm durch einen DNA-Test zweifelsfrei bewiesen, dass er ihr Sohn ist.
Dennoch lehnt die deutsche Botschaft es ab, ein Visum für ihn auszustellen. Eine Mitarbeiterin der Botschaft in Kairo schrieb an eine Betreuerin der Mutter, sie sei selbst eritreische Staatsangehörige und habe ohne Probleme einen eritreischen Ausweis bekommen. »Ich habe aber nicht die 2%-Steuer bezahlt«. Die werde erst fällig, wenn Eritreer*innen im Ausland einer Erwerbstätigkeit nachgingen, und zwar »freiwillig«, behauptete sie, wie die Regierung in Asmara. Der Betrag könne jederzeit »nachgezahlt« werden. »Daher kann ich mir vorstellen, dass für die Beantragung des Passes der Nachweis der Zahlung erforderlich ist«.
»Diasporasteuer« ist den deutschen Behörden bekannt
Das AA bestätigt in seinem vertraulichen Länderbericht von 2019, dass die eritreischen Auslandsvertretungen regelmäßig vor dem Ausstellen eines Passes von Flüchtlingen »ein Schreiben des Bedauerns der Flucht« sowie eine »Aufbausteuer« von zwei Prozent des Jahreseinkommens verlangen. In einem anderen Fall hat das Verwaltungsgericht Berlin dennoch entschieden, dass es Geflüchteten zugemutet werden könne, sich an die eritreische Botschaft zu wenden, um die geforderten Papiere zu beschaffen.
Dabei ist in der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie eindeutig festgelegt, dass ein Antrag auf Nachzug nicht allein wegen des Fehlens von Dokumenten abgelehnt werden darf. Nach einer Leitlinie der EU-Kommission dazu ist dies für alle Mitgliedsstaaten bindend. Der Europäische Gerichtshof verpflichtete die nationalen Behörden im März 2019 im Fall einer eritreischen Mutter und ihres Kindes, nachvollziehbare Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten zu berücksichtigen. Im Zentrum stehe das Kindeswohl.
er Europäische Gerichtshof verpflichtete die nationalen Behörden im März 2019 im Fall einer eritreischen Mutter und ihres Kindes, nachvollziehbare Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten zu berücksichtigen. Im Zentrum stehe das Kindeswohl.
Das Außenministerium in Berlin erklärt dazu, sowohl für die Kinder als auch für Ehefrauen und ‑männer von anerkannten Flüchtlingen bestehe das Recht auf Familienzusammenführung. »Allerdings müssen hierfür im Visumverfahren Nachweise über das Bestehen eines rechtlichen Verwandtschaftsverhältnisses vorgelegt werden«.
Das AA verlangt, dass alle vorgelegten Dokumente, auch wenn sie von Behörden in Eritrea stammen oder beglaubigt sind, vom Außenministerium in Asmara »überbeglaubigt« werden, also von dem Regime, vor dem die Menschen geflohen sind und das laut dem Bericht die Menschenrechte mit Füßen tritt. Denn nur dann könne die Echtheit der Urkunden anhand von Siegel- und Unterschriftenproben des eritreischen Ministeriums durch die deutschen Botschaften beurteilt werden. Das AA verlässt sich also auf die Willkür der Diktatur, die es selbst in seinem Länderbericht beschreibt.
Das Auswärtige Amt verlässt sich also auf die Willkür der Diktatur, die es selbst in seinem Länderbericht beschreibt.
Flüchtlingsorganisationen, darunter auch PRO ASYL, halten das für unzumutbar und völkerrechtswidrig. Andere EU-Staaten wie die Niederlande protestieren gegen das Erheben der Steuer, haben eritreische Konsularmitarbeiter*innen deshalb ausgewiesen und verlangen von Flüchtlingen nicht mehr, über die Botschaften Papiere zu besorgen.
PRO ASYL kritisiert, das AA habe die Richtlinien für den Familiennachzug bei Eritreer*innen nach Beginn der Flüchtlingskrise 2016 verschärft. Bis dahin sei der Nachzug von Eheleuten und Kindern in den meisten Fällen rasch und unkompliziert bewilligt worden. Nun gebe es hohe bürokratische Hürden, obwohl die SPD den Familiennachzug 2017 bei den Koalitionsverhandlungen mit der Union zu einem Knackpunkt gemacht hatte und sie sich erfolgreich dafür eingesetzt hat, Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln nach Deutschland zu holen. Das AA begründet die geänderte Praxis mit einer Änderung der entsprechenden Gesetze in Eritrea. Die Kölner Anwältin Kerstin Müller, die sich seit etlichen Jahren mit solchen Fällen befasst, bestreitet jedoch, dass es eine solche Gesetzesänderung gegeben hat.
Grüne und Linke setzen sich seit langem dafür ein, den Familiennachzug zu eritreischen Flüchtlingen zu erleichtern. Der Fraktionsvize der Grünen, Konstantin von Notz, wirft Maas vor, die Haltung seines Ministeriums sei »in keiner Weise davon geprägt, eine Lösung für solch ein sensibles Thema, die Wahrung der Familieneinheit und Berücksichtigung von Kindeswohlinteressen für anerkannte Flüchtlinge aus einem diktatorischen Regime, zu suchen«.
Notz hat selbst direkt beim AA versucht, eine humanitäre Lösung zu erreichen. Ohne Erfolg. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Konstantin Kuhle, kritisiert: »Von Menschen, die aus Staaten wie Eritrea geflüchtet sind, kann nicht erwartet werden, dass sie offizielle Dokumente des Verfolgerstaates beschaffen, wenn sie sich hierzu erneut in dessen Machtbereich begeben müssen«.
Vergebliche Interventionen beim Auswärtigen Amt
Der Anwalt von Yohannes und seiner Mutter wandte sich bereits vor einem Jahr flehentlich an das AA und die Botschaft in Kairo und wies darauf hin, dass die eritreische Vertretung in Berlin sich weigere, dem Kind einen Pass auszustellen (Anm. d. Red.: Auch PRO ASYL hatte in diesem Fall beim AA interveniert – ohne Erfolg). Dazu müsse die Mutter mit ihm nach Eritrea zurückkehren, wo ihr Verhaftung wegen ihrer Flucht drohe, und Angehörigen Repressionen, wenn sie an ihrer Stelle eine Geburtsurkunde beantragten.
»Vielleicht lässt sich das alles eines fernen Tages regeln. Wir wissen nur, dass das Kind seit Jahren darauf wartet, zu seiner Mutter zu kommen und dass die aktuelle Situation das Kindeswohl schwer schädigt«, appellierte der Anwalt an das AA. Vergebens. An den früheren nordrhein-westfälischen Landtagspräsidenten und SPD-Parteifreund Ulrich Schmidt, der sich wie andere nachdrücklich für die Einreise von Yohannes eingesetzt hatte, schrieb Maas, die rechtliche Prüfung sei noch nicht abgeschlossen. »Es fehlen insbesondere Nachweise zur Identität.« Erst wenn diese vorlägen, werde man den Familiennachzug rasch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen«.
Gerichtstermin am 5.10.
Am 5. Oktober wird der Fall nun vom Verwaltungsgericht Berlin verhandelt. In der Ladung an den Anwalt weist das Gericht allerdings darauf hin, dass die Identität und Staatsangehörigkeit des Jungen »nach dem derzeitigen Stand nicht als hinreichend gesichert anzusehen sein dürfte«. Der Antrag, ihn einreisen zu lassen, wird deshalb voraussichtlich abgewiesen werden.
Die Mutter der kleinen Nuria, die inzwischen noch ein weiteres Kind mit einem eritreischen Flüchtling hat, will nun selbst in den Sudan fliegen, um zu versuchen, die vom AA geforderten Papiere zu beschaffen und ihre Tochter zu sich zu holen. Das Geld dafür will sie sich leihen. Ihre Chancen sind jedoch minimal, zumal sie kein Arabisch spricht. Die Mutter von Yohannes war bereits vor zwei Jahren mit Geld, das Unterstützer für sie gesammelt hatten, mit dem gleichen Ziel in den Sudan geflogen. Aber auch die Vertretung des UN-Flüchtlingshilfswerks dort konnte ihr nicht helfen. Deprimiert und zusätzlich traumatisiert kehrte sie zurück. Und wartet weiter.
Ludwig Greven
Der Text wurde PRO ASYL für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt – mit Dank an Autor und Journalisten Ludwig Greven für die freundliche Genehmigung.
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