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Hot Spots in der Ägäis: Zonen des Elends und der Rechtlosigkeit
Mehr als 8.400 Schutzsuchende sitzen auf den Ägäis-Inseln unter erbärmlichen Bedingungen fest. Der EU-Türkei- Deal produziert ein Klima der Unsicherheit und Angst. Unsere Anwältinnen gehen jetzt in zwei dramatischen Fällen bis vor den Menschengerichtshof, um drohende Abschiebungen in die Türkei zu stoppen.
Ein homosexueller Syrer, der in der Türkei vom Islamischen Staat bedroht wurde, soll wieder dorthin abgeschoben werden. In einem zweiten Fall droht einem syrischen Schutzsuchenden armenischer Abstammung die Abschiebung in die Türkei. Anwältinnen des PRO ASYL – Projekts »Refugee Support Program Aegean« (RSPA) haben Klage gegen die Abschiebung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.
RSPA-Anwältin Eleni Velivasaki kommentiert: »Zwei Menschen sind in akuter Gefahr, in die Türkei zurückgeführt zu werden, ohne dass ihre Fluchtgründe geprüft und die Gefahren, mit denen sie in der Türkei und in ihrer Heimat konfrontiert sind, berücksichtigt wurden. Es wurde das neu eingeführte Schnellverfahren für Grenzregionen angewandt, das griechisches sowie europäisches Recht verletzt. Den Betroffenen wurde ihr Recht auf eine effektive Anhörung und eine gründliche Prüfung ihres Asylantrags verwehrt. Es besteht ein hoher politischer Druck, die Vereinbarungen des EU-Türkei Deals um jeden Preis umzusetzen.«
Politischer Druck aus Brüssel
In diesen beiden Fällen hatten auch die Beschwerdekomitees in Griechenland die Einstufung der Türkei als »sicher« bestätigt. Häufig ist das jedoch nicht so: Am 31. Mai wurden drei positive Entscheidungen des Beschwerdekomitees auf Lesbos – der zweiten Instanz – öffentlich, die europaweit für Furore sorgten. »Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat«, so das dreiköpfige Komitee, »die betroffenen Syrer dürfen nicht abgeschoben werden.«
Bis zum 12. Juni 2016 haben griechische Beschwerdekomitees in 70 Fällen den Empfehlungen des Europäischen Asylunterstützungsbüros (EASO) und der erstinstanzlichen Entscheidung der griechischen Asylbehörde widersprochen und damit Abschiebungen in die Türkei verhindert. Auf EU-Ebene ist man daher alarmiert: Die EU- Kommission drängt nun darauf, die Beschwerdekomitees in Griechenland neu zu besetzen.
EU-Logik: Was nicht passt, wird passend gemacht
Am 16. Juni hat das griechische Parlament reagiert und eine neue Zusammensetzung der Beschwerdekomitees verabschiedet, »um die Verfahren zu beschleunigen«, wie ein Sprecher des Innenministeriums erklärte. EU-Kommissar für Migration, Dimitris Avramopoulos ließ am 15. Juni 2016 verlauten, neue Beschwerdekomitees würden innerhalb der nächsten zehn Tage eingerichtet: »Ich bin zuversichtlich, dass die Verfahren zeitnah beschleunigt werden.« Der politische Druck auf die griechischen Behörden ist enorm, das Beschwerdeverfahren droht zur Farce zu werden.
Bekannt wurde außerdem, dass auch auf EASO Druck ausgeübt wird. Die EU-Kommission und einige Mitgliedstaaten wollen einen Bericht der EU-Unterstützungsbüros unter Verschluss halten, so berichtet der EUobserver am 15. Juni. Vertreter*innen des Management Boards von EASO lehnen den Bericht ab, da er die Einstufung der Türkei als »sicheren Drittstaat« nicht bestätigt.
Drohende Abschiebung in die Türkei: Niemand ist sicher
Schutzsuchende, die vor Terror und Krieg geflohen sind, werden seit dem EU-Türkei-Deal vom 18. März 2016 ausnahmslos inhaftiert. Fast alle Flüchtlinge auf den Ägäis-Inseln wollen aus Angst vor einer Abschiebung in die Türkei einen Asylantrag stellen. Der EU-Türkei-Deal sieht vor: In der Regel soll lediglich eine Zulässigkeitsprüfung der Asylanträge stattfinden. Grundsätzlich sollen alle Anträge von Schutzsuchenden, die über die Türkei auf die griechischen Inseln gelangt sind, für unzulässig erklärt werden.
Doch der Zugang zum Asylverfahren in den Hot Spots ist so gut wie unmöglich. Von 6.600 Willensäußerungen einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, wurde bis Anfang Mai nur ein Sechstel tatsächlich registriert. Das Verfahren zur Registrierung und Bearbeitung der Anträge läuft wegen akuten Personalmangels schleppend.
»Die Situation in Moria ist dramatisch. Es gibt Familien mit Babys die selbst Zelte kaufen müssen, um überhaupt irgendwo schlafen zu können.«
EASO operiert in einer rechtlichen Grauzone
Die Rolle von EASO im Verfahren auf den Inseln ist besonders brisant. Zur Zeit beschäftigt EASO auf den griechischen Inseln 98 Personen (47 Experten, 43 Übersetzer und 8 Angestellte).
EASO-Beamte aus verschiedenen Mitgliedsstaaten führen auf Englisch die Interviews zur Zulässigkeit des Asylgesuchs durch und geben dann eine Empfehlung an die griechischen Behörden ab, der im Regelfall Folge geleistet wird. Das Interview wird dadurch im Wesentlichen durch eine nicht zuständige Person (einem EASO-Beamten) und in Abwesenheit eines (zuständigen) Beamten der griechischen Asylbehörde durchgeführt.
Gleichzeitig wird das Interview auf Englisch – und nicht wie gesetzlich geregelt auf Griechisch – aufgenommen. Daher ist die Empfehlung kein gültiges öffentliches Dokument. Dennoch dient es als Grundlage, um die Zulässigkeit zum Asylverfahren zu entscheiden. »Das stellt eine klare Umgehung des griechischen Gesetzes dar«, so RSPA-Anwältin Natassa Strachini. Denn ausländische Beamte können nach der neuen Rechtslage (Gesetz 4375 vom 03.04.16) zwar den griechischen Asylbeamten assistieren, aber nicht selbständig tätig werden.
Die Entscheidungen sind zudem oft stereotyp formuliert und lassen daran zweifeln, ob tatsächlich eine Einzelfallprüfung stattgefunden hat. Die Flüchtlinge in den Hot Spots werden somit ihres Rechtes auf eine faire Anhörung und ein effektives Widerspruchsverfahren systematisch beraubt.
Illegale Haft und unmenschliche Bedingungen
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen prangert die Inhaftierung in den Hot Spots über die gesetzlich festgelegte Maximalhaftzeit von 25 Tage hinaus, von der zahlreiche Schutzsuchende betroffen sind, an. Weiterhin seien Wasser und Betten in einigen Aufnahmehaftlagern zu knapp, sanitäre Einrichtungen unhygienisch und in schlechten Zustand. Nahrungsmittel würden planlos verteilt. Die Zahl der inhaftierten Menschen übersteige in einigen Lagern die vorgesehen Kapazitäten inzwischen um das Doppelte. Männer und Frauen hätten werden nicht getrennt voneinander untergebracht, so die Organisation.
»Die Situation in Moria ist dramatisch. Es gibt Familien mit Babys die selbst Zelte kaufen müssen, um überhaupt irgendwo schlafen zu können. Der Hot Spot ist voller kleiner Zelte«, so RSPA-Mitarbeiter Naim Mohammadi. Viele besonders schutzbedürftige Menschen bleiben unter untragbaren Bedingungen und ohne angemessene Hilfe eingesperrt. Auch Menschen, die vor dem Türkei-Deal auf der Insel ankamen, aber erst danach registriert wurden, sind weiterhin im Hot Spot inhaftiert. »Es herrscht Chaos. Einzelne Familienmitglieder – oft schwangere Frauen – haben Dokumente bekommen und können den Hot Spot verlassen, ihre Männer aber nicht«, so Mohammadi.
Zynischen Flüchtlingsdeal beenden
Der EU-Türkei-Deal stellt Flüchtlinge schutzlos. PRO ASYL hat deshalb eine Kampagne gestartet, die sich an die Bundeskanzlerin richtet. Angela Merkel hat maßgeblich den EU-Türkei-Deal initiiert. Der zynische Großversuch in der Ägäis muss endlich gestoppt werden. Die Abschiebungen in die Türkei müssen beendet werden.