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Im von der EU mitfinanzierten Haft- und Abschiebezentrum in Pehlivankoy, Kirklareli haben Anwälte und Menschenrechtsorganisationen keinen Zutritt. Die Situation der inhaftierten Flüchtlinge ist unklar. Foto: picture alliance / AP images

Die Menschenrechtsorganisation Mülteci-DER ist Teil des Refugee Support Program Aegean (RSPA) von PRO ASYL. Die Organisation beobachtet die Situation von Schutzsuchenden entlang der Westküste der Türkei, insbesondere in Izmir. Fritz Rickert hat Irem Somer, RSPA-Projektkoordinatorin von Mülteci-DER, zu ihrer Arbeit und Problemen vor Ort interviewt

Irem, wor­an arbei­tet ihr bei Mül­teci-DER aktuell?

Einer unse­rer Schwer­punk­te hier in Izmir liegt im Moni­to­ring der See­gren­ze zwi­schen der Tür­kei und Grie­chen­land. Dabei doku­men­tie­ren wir die Situa­ti­on an der Gren­ze sowie Menschenrechts­verletzungen, um Flücht­lin­ge gegen Rechts­brü­che zu schützen.

Aktu­ell beob­ach­ten und doku­men­tie­ren wir haupt­säch­lich die Situa­ti­on von Men­schen, die bei dem Ver­such, die grie­chi­schen Inseln zu errei­chen, durch die Behör­den auf­ge­grif­fen und inhaf­tiert wer­den. Wir ver­su­chen sicher­zu­stel­len, dass ihre Rech­te nicht ver­letzt wer­den und sie die not­wen­di­gen Infor­ma­tio­nen erhalten. 

Könn­test du die aktu­el­le Dyna­mik in der Ägä­is beschreiben?

Bis im letz­ten Jahr erreich­ten uns regel­mä­ßig Berich­te von Push Backs (völ­ker­rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sun­gen) von Flücht­lin­gen in der Ägä­is, die ver­such­ten, per Boot auf die grie­chi­schen Inseln zu gelan­gen. Als die Anzahl der Über­fah­ren im Lau­fe des letz­ten Jah­res stieg und die öffent­li­che Wahr­neh­mung grö­ßer wur­de, wur­den die Push Backs auf See ein­ge­stellt – an der Land­gren­ze fan­den sie wei­ter­hin statt. 

Wie ist die Situa­ti­on hier in Izmir seit letz­tem Sommer?

Letz­tes Jahr kamen viel mehr Schutz­su­chen­de nach Izmir als je zuvor. Als Orga­ni­sa­ti­on wur­den wir häu­fig nach lega­len Wegen gefragt, um nach Euro­pa zu gelan­gen. Doch lei­der gibt es prak­tisch kei­ne lega­len Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten nach Euro­pa. Ob Resett­le­ment, huma­ni­tä­re Visa oder Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung – es ist extrem schwie­rig. Im Som­mer 2015 waren die Hotels, Moscheen und Parks im Stadt­teil Bas­ma­ne vol­ler Menschen.

Eine Freun­din, die sich ein Bild von der Lage vor Ort gemacht hat, beschrieb die Situa­ti­on als das bes­te Bei­spiel für zivi­len Unge­hor­sam, das sie jemals erlebt hat: Nie­mand schenk­te den Gren­zen Beach­tung, weil Gren­zen auf ein­mal kei­ne Bedeu­tung mehr hat­ten. Die Men­schen über­quer­ten sie einfach. 

»Die grie­chi­schen Inseln sind für die Flücht­lin­ge ein gro­ßes Freiluftgefängnis. «

Irem Som­mer, Mülteci-DER

Und wie hat sich das im Win­ter verändert? 

Mit dem ein­bre­chen­den Win­ter und den schlech­te­ren Wet­ter­be­din­gun­gen ver­än­der­te sich die Situa­ti­on. Man sah auf der Stra­ße kaum mehr Flücht­lin­ge, die sich auf den Weg machten.

Trotz­dem fan­den nach wie vor ein­zel­ne Über­fahr­ten statt. Im Janu­ar und Febru­ar ereig­ne­ten sich außer­dem vie­le Todes­fäl­le. Auch als die Bedin­gun­gen äußerst schlecht waren, ris­kier­ten vie­le Schutz­su­chen­de die Fahrt über das Mit­tel­meer, auch weil sie die Fol­gen der Ver­hand­lun­gen um den bereits im Herbst vor­be­rei­te­ten Deal zwi­schen der EU und der Tür­kei fürchteten. 

Nun ist der Deal seit dem 20. März tat­säch­lich in Kraft. Was sind die Fol­gen der neu­en Situa­ti­on für die Schutzsuchenden?

Einer­seits hat sich die Situa­ti­on auf den grie­chi­schen Inseln dra­ma­tisch ver­än­dert. Wer die grie­chi­schen Inseln nach dem 20. März erreicht hat, stran­det dort und wird mit unmensch­li­chen Lebens­be­din­gun­gen kon­fron­tiert. Dies gilt sowohl für alle, die in den Hot­spots inhaf­tiert wer­den, als auch für die­je­ni­gen, die sich außer­halb der Haft­zen­tren aufhalten.

Obwohl nicht alle Schutz­su­chen­den auf den Inseln im klas­si­schen Sin­ne hin­ter Git­tern inhaf­tiert wer­den, sind die Inseln für die Flücht­lin­ge den­noch ein gro­ßes Frei­luft­ge­fäng­nis. Nie­mand kann in Rich­tung Fest­land wei­ter­rei­sen. Die ein­zi­ge Mög­lich­keit aus die­ser Situa­ti­on zu ent­kom­men besteht dar­in ein Papier zur „frei­wil­li­gen Rück­rei­se“ zu unterschrieben.

Men­schen, die schutz­be­dürf­tig sind und begrün­de­te Angst vor Ver­fol­gung haben, wer­den seit Inkraft­tre­ten des Deals in die Tür­kei abge­scho­ben. Dies ver­letzt inter­na­tio­na­les Flücht­lings­recht und die im Deal pro for­ma zuge­sag­ten Verpflichtungen. 

Und das Moni­to­ring die­ses Deals ist jetzt einer eurer Arbeitsschwerpunkte?

Ja, wir beob­ach­ten die Situa­ti­on der Schutz­su­chen­den, die von den Inseln abge­scho­ben und in der Tür­kei inhaf­tiert wer­den sehr genau. 

»Die gesam­te Zivil­ge­sell­schaft erhält kei­nen Zugang zu den Haftzentren.«

Irem Som­mer, Mülteci-DER

Was könnt ihr bis­her zur Situa­ti­on der abge­scho­be­nen und inhaf­tier­ten Flücht­lin­ge sagen?

Bis­her wer­den alle in die Tür­kei Abge­scho­be­nen (außer syri­schen Flücht­lin­gen) direkt in einem Haft­zen­trum im Nord­wes­ten der Tür­kei inhaf­tiert. Hier­bei han­delt es sich um eines der sie­ben Haft­zen­tren, die von der Euro­päi­schen Uni­on finan­ziert wur­den. Was die Situa­ti­on der Inhaf­tier­ten angeht, haben wir bis­her gro­ße Pro­ble­me, über­haupt an Infor­ma­tio­nen zu kom­men. Wir bemü­hen uns sehr, doch die Behör­den ver­wei­gern uns jeg­li­che Koope­ra­ti­on. Hier lau­fen wir gegen Wände.

Nicht nur wir, die gesam­te Zivil­ge­sell­schaft erhält kei­nen Zugang zu den Haft­zen­tren. Selbst Anwäl­tin­nen und Anwäl­ten wur­de unter­sagt, mit den inhaf­tier­ten Flücht­lin­gen zu spre­chen (sie­he Pres­se­er­klä­rung). Die all­ge­mei­nen Bedin­gun­gen im Haft­zen­trum blei­ben unklar. Wir wis­sen weder wer genau inhaf­tiert ist, auf wel­cher recht­li­chen Grund­la­ge und  für wie lan­ge, noch haben wir ein  rich­ti­ges Bild von den Haft­be­din­gun­gen. Nie­mand weiß, was genau passiert.

Was deut­lich wur­de: Vie­le Betrof­fe­ne woll­ten in Grie­chen­land einen Asyl­an­trag stel­len. Das wur­de ihnen ver­wehrt. Hier fin­det eine Ver­let­zung von inter­na­tio­na­lem Recht statt. 

Was sind die nächs­ten Schrit­te für eure Arbeit?

Wir wer­den wei­ter ver­su­chen, die abge­scho­be­nen Schutz­su­chen­den zu unter­stüt­zen und wer­den ihre Situa­ti­on wei­ter beob­ach­ten. Es muss gewähr­leis­tet wer­den, dass die Inhaf­tier­ten Unter­stüt­zung durch Anwäl­tin­nen und Anwäl­te erhal­ten. Glück­li­cher­wei­se arbei­ten vie­le Aktivist*innen in Grie­chen­land und der Tür­kei mit viel Enga­ge­ment dar­an, die Namen der Abge­scho­be­nen zu ermit­teln und schließ­lich an uns wei­ter zu geben. Ein Ein­satz, der für unse­re Arbeit essen­ti­ell ist, um den Kon­takt zu den Betrof­fe­nen herzustellen.

Die Zusam­men­ar­beit mit die­sen Unter­stüt­zungs­netz­wer­ken zu ver­bes­sern, ist für uns daher ein sehr wich­ti­ges Anlie­gen. Es ist eine gute Ent­wick­lung, dass immer mehr Men­schen den Deal hin­ter­fra­gen und dies auch durch prak­ti­sches Han­deln äußern. Sol­che Koope­ra­tio­nen müs­sen inten­si­viert werden.