Solidarität und Humanität sind beliebte Begriffe bei Politiker*innen. Doch in der Realität kann davon nicht die Rede sein. Die Debatte um die Verhinderung von Fluchtbewegungen über das zentrale Mittelmeer wird immer abwegiger. In Einem ist man sich einig: Wenn Schutzsuchende in Libyen festsitzen, muss sich Europa die Hände nicht schmutzig machen.

Alle reden von Soli­da­ri­tät, doch nach soli­da­ri­schen Vor­schlä­gen auf euro­päi­scher Ebe­ne sucht man ver­geb­lich. Auf dem Tref­fen der Innen­mi­nis­ter aus zwölf euro­päi­schen und afri­ka­ni­schen Staa­ten (dar­un­ter auch Bun­des­in­nen­mi­nis­ter de Mai­ziè­re) sowie EU-Migra­ti­ons­kom­mis­sar Avra­mo­pou­los am 24. Juli in Tunis wur­den alt­be­kann­te Deals im Stil von »Ent­wick­lungs­hil­fe für Grenz­ab­schot­tung « beschworen.

»Die afri­ka­ni­schen Staa­ten enga­gie­ren sich beim Aus­bau ihrer Grenz­ver­wal­tung, die euro­päi­schen Staa­ten ihrer­seits wil­li­gen ein, sich in ihren Ent­wick­lungs­hil­fe­kon­zep­ten den Her­aus­for­de­run­gen der Migra­ti­on zu stel­len«, so berich­tet das schwei­ze­ri­sche Innen­mi­nis­te­ri­um zum Tref­fen. Anstatt lega­ler Wege nach Euro­pa und einer euro­päi­schen See­not­ret­tung sol­len Todes­fäl­le durch Fest­set­zen von Schutz­su­chen­den in Nord­afri­ka ver­hin­dert wer­den: »Gemein­schaft­li­ches Ziel ist die Ret­tung von Men­schen­le­ben dank weni­ger Wüs­ten- und Meerüberquerungen«.

Der öster­rei­chi­sche Innen­mi­nis­ter Wolf­gang Sobot­ka beton­te, eine Ret­tung auf dem Mit­tel­meer dür­fe nicht auto­ma­tisch die Anlan­dung in einem euro­päi­schen Hafens mit sich brin­gen. »Viel­mehr ist sicher­zu­stel­len, dass Flücht­lin­ge an die nächs­te siche­re Anle­ge­stel­le inner­halb nord­afri­ka­ni­scher Gewäs­ser gebracht wür­den, um eine Anlan­dung in Euro­pa im Vor­hin­ein zu verhindern«.

EU-Außenminister: Devise »Festsetzen in Libyen«

Ganz ähn­lich sahen das die EU-Außen­mi­nis­ter ver­gan­ge­ne Woche. Auch in den Schluss­fol­ge­run­gen der EU-Außen­mi­nis­ter vom 17. Juli: Kei­ne Spur von soli­da­ri­schen Ansät­zen. Flucht­ver­hin­de­rungs-stra­te­gien vor den euro­päi­schen Gren­zen blei­ben die Devi­se – in Koope­ra­ti­on mit dem zer­fal­le­nen Staat Libyen.

»Das sind zum Teil Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Men­schen wer­den dort ver­ge­wal­tigt, es gilt kein Recht.«

Jean Assel­born, Außen­mi­nis­ter von Luxemburg

Kaum über­ra­schend hat­ten die EU-Außen­mi­nis­ter beschlos­sen die euro­päi­sche Grenz­schutz-Mis­si­on in Liby­en (EUBAM) bis Ende 2018 zu ver­län­gern, um die Siche­rung der Süd­gren­ze des Lan­des zu for­cie­ren. Auch die Aus­fuhr von Schlauch­boo­ten und Außen­bord­mo­to­ren nach Liby­en wird ein­ge­schränkt. Schutz­su­chen­den in Liby­en sol­len damit die not­wen­di­gen tech­ni­schen Mit­tel für die Flucht vor den uner­träg­li­chen Zustän­den in Liby­en genom­men werden.

Die Gewalt­ex­zes­se gegen Schutz­su­chen­de und Migrant*innen in Liby­en sind mehr­fach – unter ande­rem auch von der UN – doku­men­tiert. Der luxem­bur­gi­sche Außen­mi­nis­ter Jean Assel­born warn­te am 17. Juli: »Das sind zum Teil Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Men­schen wer­den dort ver­ge­wal­tigt, es gilt kein Recht.«

Streitigkeiten um »Sophia«

Erst am 25. Juli wur­de die EU-Mili­tär­ope­ra­ti­on Sophia im zen­tra­len Mit­tel­meer eben­so ver­län­gert – bis Ende 2018. Noch beim Außen­mi­nis­ter­tref­fen hat­te sich die ita­lie­ni­sche Regie­rung gewei­gert, der Ver­län­ge­rung zuzu­stim­men. Die Ope­ra­ti­on wur­de im Juni 2015 im zen­tra­len Mit­tel­meer zur »Schlep­per­be­kämp­fung« lan­ciert, im Juni 2016 wur­de das Man­dat der Ope­ra­ti­on erwei­tert – das Trai­ning der liby­schen Küs­ten­wa­che soll­te fort­an zum zen­tra­len Pro­jekt werden.

Wenn es um das Abfan­gen von Flücht­lings­boo­ten in liby­schen Ter­ri­to­ri­al­ge­wäs­sern geht, herrscht Einig­keit bei den poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen in Brüs­sel. Noch unklar ist, wel­che Zuge­ständ­nis­se der ita­lie­ni­schen Regie­rung als Gegen­leis­tung in Aus­sicht gestellt wurden.

Die Mili­tär­ope­ra­ti­on mit einer Aus­stat­tung von aktu­ell sechs Schif­fen, drei Heli­ko­ptern und vier Flug­zeu­gen steht immer stär­ker in der Kri­tik – von Sei­ten der Hard­li­ner, weil sie angeb­lich als Pull-Fak­tor fun­gie­re und Schutz­su­chen­de nach Euro­pa locke. Von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und kürz­lich auch vom Euro­pa­aus­schuss des bri­ti­schen Ober­hau­ses (House of Lords), weil die Ope­ra­ti­on die Todes­ra­te im zen­tra­len Mit­tel­meer wei­ter erhöhe.

Massive Kritik: Steigende Todesrate durch Militäroperation

2,7%

beträgt die Todes­ra­te bei der Flucht übers Mit­tel­meer laut Amnesty.

So kri­ti­siert das zustän­di­ge Komi­tee des bri­ti­schen Par­la­ments in einem Bericht vom 12. Juli 2017, »Sophia« habe das Ziel der Zer­schla­gung von Schleu­ser­netz­wer­ken nicht erreicht. Viel­mehr hät­te die Zer­stö­rung von Boo­ten (über 450 bis Juni 2017) durch die Ope­ra­ti­on dazu geführt, dass sich die Schleu­ser ange­passt und Schutz­su­chen­de auf noch see­un­taug­li­che­re Boo­te ver­bracht hät­ten – die Todes­ra­te sei infol­ge­des­sen wei­ter gestie­gen. Statt die Mili­tär­ope­ra­ti­on wei­ter­zu­füh­ren, sol­le die See­not­ret­tung inten­si­viert wer­den. Dafür müss­ten geeig­ne­te­re Boo­te ein­ge­setzt werden.

Auch Amnes­ty Inter­na­tio­nal kommt in einem kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten Bericht zum Schluss, die EU-Regie­run­gen hät­ten ihren Fokus auf die Bekämp­fung von Schleu­ser­netz­wer­ken und die Ver­hin­de­rung von Boots­ab­fahr­ten in Liby­en gelegt: »Eine geschei­ter­te Stra­te­gie, die zu immer gefähr­li­che­ren Über­fahr­ten und zu einer Ver­drei­fa­chung der Todes­ra­te von 0,89% in der zwei­ten Hälf­te von 2015 auf 2,7% in 2017 geführt hat«.

Zivi­le See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen hat­ten immer wie­der öffent­lich ange­pran­gert, dass sich die Ein­hei­ten der Mili­tär­ope­ra­ti­on von den Ein­satz­ge­bie­ten nahe Liby­ens, wo ein Groß­teil der Ret­tungs­ope­ra­tio­nen erfolgt, zurück­zie­hen wür­den, wäh­rend die NGOs weit über ihre Kapa­zi­tä­ten im Ein­satz seien.

Diffamierungskampagne geht weiter

Indes­sen trägt die unsäg­li­che Kri­tik gegen zivi­le See­not­ret­tungs­in­itia­ti­ven in den letz­ten Mona­ten immer men­schen­ver­ach­ten­de­re Züge. Der öster­rei­chi­sche Innen­mi­nis­ter Wolf­gang Sobot­ka for­der­te Stra­fen für »selbst ernann­te See­not­ret­ter« und warf den Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen am 18. Juli vor, mit Schlep­pern zu koope­rie­ren. Auch sein deut­scher Amts­kol­le­ge Tho­mas de Mai­ziè­re stimm­te in die Dif­fa­mie­run­gen mit ein.

Auf die Unter­stel­lun­gen reagier­ten nicht nur Ver­tre­ter der See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen mit Kri­tik. Die Vor­wür­fe sei­en halt­los, es fehl­ten jeg­li­che Bewei­se für die Diffamierungen.

Euro­pa manö­vriert sich in men­schen­recht­li­ches Niemandsland.

Anstatt den huma­ni­tä­ren Orga­ni­sa­tio­nen bei ihrer Arbeit zu hel­fen und end­lich einen robus­ten, flä­chen­de­cken­den EU-See­not­ret­tungs­ein­satz zu orga­ni­sie­ren, wer­den sie von Rechts­ra­di­ka­len, dem öster­rei­chi­schen Außen­mi­nis­ter, den deut­schen und öster­rei­chi­schen Innen­mi­nis­tern und dem Fron­tex-Chef und ande­ren attackiert.

Zynismus überwinden!

Die Debat­ten und poli­ti­schen Vor­stö­ße der letz­ten Wochen zei­gen erneut: Wird ver­sucht, euro­päi­sche »Soli­da­ri­tät« im Kon­text von Flücht­lings­schutz durch­zu­de­kli­nie­ren, manö­vriert sich die EU in men­schen­recht­li­ches Nie­mands­land. Lebensretter*innen wer­den an den Pran­ger gestellt und Abschot­tungs­maß­nah­men gegen Schutz­su­chen­de als huma­ni­tä­re Pflicht deklariert.

Die schie­re Not, die Tau­sen­den Ertrun­ke­nen und täg­li­chen Todes­mel­dun­gen ver­lan­gen nach einer grund­le­gend ande­ren Flücht­lings- und Migra­ti­ons­po­li­tik. Denn nur Safe Pas­sa­ges, also siche­re und lega­le Wege, eine euro­päi­sche See­not­ret­tung, die soli­da­ri­sche Auf­nah­me von Flücht­lin­gen in Euro­pa und eine ande­re Migra­ti­ons­po­li­tik kön­nen das Ster­ben an Euro­pas Gren­zen beenden.

(jk / kk)