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Erneut 400 Tote: Das Sterben an den EU-Grenzen nimmt dramatisch zu

Ihr Boot kenterte im Mittelmeer auf dem Weg nach Italien. Damit sind in 2015 mindestens 900 Flüchtlinge an Europas Grenzen ums Leben gekommen. Mehr als zehnmal so viele wie im ersten Quartal 2014. Woher der Anstieg kommt, was für 2015 zu erwarten ist und warum diese Toten keine Opfer des Meeres sind? Die dramatische Situation im Mittelmeer, in der Ägäis und an den EU-Landgrenzen in der Analyse.
Hohe Wellen, Kälte und Regen: In den Winter und Frühjahrsmonaten wagen aufgrund der Witterungsbedingungen nur relativ wenige Flüchtlinge die gefährliche Flucht nach Europa, entsprechend gering sind die Todeszahlen. Zumindest galt diese Regel bisher. In 2015 stimmt sie nicht mehr. Bereits bis Ende März zählte die International Organisation on Migration (IOM) fast 500 Todesfälle von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer. Im selben Zeitraum 2014 waren es IOM zufolge „nur“ 46 Personen.
Jetzt starben erneut rund 400 Flüchtlinge, die von Libyen aus in Richtung Italien aufgebrochen waren. Eine der größten Flüchtlingstragödien seit Jahren. Tausende Flüchtlinge hatten sich in den letzten Tagen von Libyen aus auf den Weg in Richtung italienische Küsten gemacht. Mitglieder des Alarmtelefons von Watch the Med, die aufgrund mehrerer Notrufe in einige Rettungseinsätze involviert waren, sprachen von der größten Rettungsoperation seit Beginn des Jahres. Die italienische Küstenwache berichtet von 8,500 geretteten Flüchtlingen.
Ein weiterer Anstieg der Überfahrten und vermutlich auch der tödlichen Katastrophen ist zu erwarten, da im Sommer deutlich mehr Flüchtlinge aufbrechen. Einmal mehr wird klar: Nur die Schaffung legaler und gefahrenfreier Wege nach Europa und eine EU-Seenotrettung kann weitere Todesfälle verhindern.
Zentrales Mittelmeer: Terror und Gewalt in Libyen treiben Flüchtlinge auf die Boote
Vor allem aus Libyen brechen Flüchtlinge trotz aller Gefahren auf. Sie schätzten das Risiko der Meerespassage offenbar selbst im Winter und Frühjahr geringer ein, als die Gefahren in dem Transitland. Das ölreiche Land versinkt zusehends im Chaos. Islamistische und nationalistische, bzw. ethnische Milizen liefern sich erbitterte Kämpfe. Auch der IS-Terror hat mittlerweile das nordafrikanische Land erreicht. Die EU erwägt einen Militäreinsatz. Mitten im Bürgerkrieg kämpfen mehr als 100.000 Transitmigranten aus Syrien, Eritrea und Somalia um ihr Überleben. Human Rights Watch berichtet, dass Flüchtlinge dort nicht nur unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen gehalten werden, sie erleiden schlimmste Misshandlungen und Folter. Auch die Überlebende der jüngsten Bootskatastrophe seien vier Monate lang in einer alten Sardinenfabrik gefangen gehalten und immer wieder misshandelt worden, berichtet die Hilfsorganisation Save the Children.
In 2014 wurden noch mehr als 150.000 Flüchtlinge durch die italienische Marine-Operation „Mare Nostrum“ gerettet, die bis nahe an die libysche Küste Rettungseinsätze fuhr. Offiziell ist die Operation seit Ende 2014 beendet. Der formale Ersatz ist die EU-Operation Triton. Der Rettungsradius der Frontex-Operation ist jedoch deutlich geringer, das Budget beträgt nur ein Drittel von „Mare Nostrum“ und statt Seenotrettung steht die Flüchtlingsabwehr im Vordergrund. Noch fährt die italienische Küstenwache Rettungseinsätze bis nahe an die libysche Küste. Doch der politische Druck, die Rettungstätigkeiten zurück zu fahren nimmt zu. Dies lässt für 2015 Schlimmstes befürchten.
Viermal so viele Bootsflüchtlinge in der Ägäis: Die Not in Syriens Nachbarländer wächst.
Auch über die Ägäis kommen weit mehr Flüchtlinge an als noch in 2014. 10.445 Flüchtlinge kamen im ersten Quartal 2015 vorrangig auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Leros und Samos an, in 2014 waren es im gleichen Zeitraum nur 2.863 Personen. Auch wenn die Überfahrt weniger gefährlich ist als die nach Lampedusa – die Inseln liegen nur wenige Kilometer von den Abfahrtsorten in der Türkei entfernt – kommt es immer wieder zu Toten. Zuletzt am 6. April 2015: Bei einem Bootsunglück nahe der griechischen Insel Kos kamen mindestens sieben Menschen aus Syrien und dem Irak ums Leben. Eine Gesamtstatistik für das erste Quartal gibt es bisher nicht.
Der Anstieg der Überfahrten in der Ägäis ist mit der Situation in Syriens Nachbarländern zu erklären. Dort spitzt sich die Situation so weit zu, dass mehr Menschen die Überfahrt nach Griechenland wagen. Der Krieg in Syrien geht ins fünfte Jahr. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist zu Flüchtlingen geworden. 3,4 Millionen Syrer leben nach Angaben der Vereinten Nationen im Libanon, Jordanien und der Türkei – die tatsächlichen Flüchtlingszahlen könnten deutlich höher sein. Viele Flüchtlinge besitzen nicht mehr als das, was sie bei ihrer Flucht am Leib trugen. Viele sind obdachlos, es fehlt an Decken, Unterkünften, Lebensmitteln und sauberem Trinkwasser.
Bulgarisch-Türkische Grenze: Anstieg der Einreisen, Tote und erste Bootsflüchtlinge
Neben der Ägäis führt die zweite zentrale Route für syrische Flüchtlinge aus der Türkei über Land. Nachdem die griechisch-türkische Grenze mit einem Grenzzaun hermetisch abgeriegelt wurde, ist Bulgarien eine wichtige Route in die EU geworden. In den letzten zwei Jahren hat sich die Anzahl der Flüchtlinge in dem ärmsten EU-Land verachtfacht. Kamen im Jahr 2012 noch 1.385 Flüchtlinge, wurden in 2014 11.080 Asylanträge gestellt – mehr als die Hälfte sind Syrer.
Auch wenn es erste Fälle von Flüchtlingen gibt, die mit dem Boot über das Schwarze Meer aus der Türkei einreisen, ist die rund 274 Kilometer lange türkisch-bulgarische Landgrenze der zentrale Weg in das EU-Land. Bulgarien arbeitet derzeit an der Abschottung nach griechischem Vorbild: Ein 3,5 Meter hohe Zaun soll bis zum Sommer die Grenze abriegeln. 33 Kilometer stehen bereits, weitere 82 Kilometer Grenzzaun sind in Planung. Dann könnte die Zahl der Bootsflüchtlinge auf dem Schwarzen Meer zunehmen. Bereits jetzt wehrt die bulgarische Grenzpolizei mit brutalen Push Back-Operationen Flüchtlinge ab. Hierbei kam es kürzlich zu Toten. Zwei irakische Flüchtlinge erfroren nachdem sie von bulgarischen Grenzbeamten brutal misshandelt, illegal in die Türkei gebracht und auf türkischer Seite ihrem Schicksal überlassen worden waren.
Die Reaktion der Politik: Auslagerung der Seenotrettung nach Tunesien und Ägypten?
Die EU-Innenminister hatten auf ihrem Treffen im März eingehend über die Auslagerung von Flüchtlingslagern nach Nordafrika debattiert, um Flüchtlinge vor der Überfahrt nach Europa abzuhalten. Nun wurde ein weiterer Vorstoß öffentlich. Bei ihrem Treffen hatten die EU-Innenministertreffen anhand eines sogenannten NON-Papers, das nun von Statewatch veröffentlicht wurde, über weitere Maßnahmen im zentralen Mittelmeer diskutiert. „Marineeinheiten aus Drittländern […] in der Nähe Libyens, könnten eingreifen und Migranten in Seenot retten und danach zu ihren eigenen Häfen bringen“, heißt es in dem Papier. Konkret werden Ägypten und Tunesien als Partner für die Auslagerung der Seenotrettung genannt, die durch „die Finanzierung und Bereitstellung technischer Hilfe“ von der EU unterstützt werden sollen. Es ist mehr als zweifelhaft, ob diese Länder eine effektive Seenotrettung leisten können. Und selbst wenn: Unter welchen Umständen Flüchtlinge dann in Ägypten oder Tunesien leben müssen, die nicht einmal in der Lage sind ihre eigene Bevölkerung zu versorgen und in denen die Gewalt gegen Flüchtlinge massiv zugenommen hat, erklärt das Papier nicht.
Ein eigener robuster Seenotrettungsdienst der EU, wie er von UNHCR, PRO ASYL und zahlreichen weiteren Menschenrechtsorganisationen gefordert wird, lehnen die EU-Innenminister ab. Für eine EU-Seenotrettung fehle angeblich das Geld, wurde offiziell erklärt. Die Verweigerung erfolgt jedoch aus anderen Gründen: Eine Seenotrettung wird allen voran von Deutschland abgelehnt, da ein Pull-Effekt befürchtet wird – wenn die Überfahrt gefährlicher ist, wagen sich weniger Menschen auf die Boote, so das zynische Kalkül. Die aktuellen Zahlen beweisen für einmal mehr das Gegenteil: Verstärkte Kontrolle und mehr Überwachung hindert Menschen in Not nicht daran, sich auf den Weg zu machen. Eine europäische Seenotrettung und die Öffnung legaler Wege nach Europa sind dringender denn je.
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