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Mehr als 300 Tote vor Lampedusa
Es ist eine der größte Flüchtlingstragödien seit Jahren: Nach Informationen des UNHCR sind mehr als 300 Flüchtlinge vor Lampedusa gestorben. Doch die Toten sind keine Opfer des Meeres oder krimineller Schlepper. Es sind die Opfer der zynischen Logik europäischer und deutscher Flüchtlingspolitik.
Nach Angaben des UNHCR stachen am letzten Samstag, den 7. Februar in Libyen vier Flüchtlingsboote mit insgesamt mehr als 400 Flüchtlingen aus Sub-Sahara-Afrika in See. Bei meterhohen Wellen und Eiseskälte seien die Schlauchboote danach in Seenot geraten. Eines der Boote konnte einen Notruf absetzen. Am Sonntag fand die italienische Küstenwache das erste Boot: 29 Flüchtlinge waren erfroren, 110 Insassen hatten überlebt. Am Mittwoch wurden dann weitere Überlebende gerettet. Von einem der Boote mit 107 Menschen überlebten nur sieben Personen. Von dem dritten Boot wurden nur zwei der 109 Insassen gerettet. Das vierte Boot, auf dem sich etwa 100 Personen befunden haben sollen, wird vermisst.
Es muss daher von mehr als 300 Toten und damit der größten Flüchtlingskatastrophe seit dem 3. Oktober 2013 ausgegangen werden. Damals waren vor Lampedusa 336 Menschen gestorben. Europäische Politikerinnen und Politiker reagierten betroffen. „Lampedusa muss ein Wendepunkt für die europäische Flüchtlingspolitik sein“, sagte etwa EU-Parlamentspräsident Schulz. Doch nur Italien reagierte: Die italienische Marine startete die Seenotrettungsoperation „Mare Nostrum“, mehr als 100.000 Menschen wurden gerettet.
Wegsehen mit Kalkül: Europa lässt sterben
Schiffe, Hubschrauber, Personal und Technik für Mare Nostrum wurden alleine von der italienischen Marine und Küstenwache gestellt. Auch die Kosten von monatlich ca. 9 Millionen Euro stemmte Italien allein. Italiens Hilferufe nach Unterstützung durch die anderen EU-Staaten verhallten im Sommer 2014 monatelang ungehört. Zwischendurch hieß es, die EU hätte für die Finanzierung von Mare Nostrum kein Geld – ein schlechter Witz.
Der tatsächliche Grund für die verweigerte Hilfe für die Rettungsmission ist ein anderer: Bei zahlreichen europäischen Innenpolitikern ist „Mare Nostrum“ unbeliebt, da ihrer Meinung nach die Rettungsoperation dafür verantwortlich gewesen sei, dass mehr Menschen nach Europa kamen.
Thomas DeMaizière verweigert sich europäischer Rettungsmission
An vorderster Front der Kritiker von Mare Nostrum steht Deutschland. „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“, kritisierte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am 09.September 2014 im Bundestag die lebensrettenden Einsätze Italiens Marine. Das zynische Kalkül des Innenministers: Wird die Überfahrt wieder gefährlicher, werden Flüchtlinge von der Flucht nach Europa abgeschreckt. Flüchtlinge sterben zu lassen ist Teil der deutschen Flüchtlingspolitik.
In Folge der fehlenden europäischen Solidarität und der heftigen Kritik einflussreicher EU-Staaten ließ Italien die Operation „Mare Nostrum“ ab Oktober 2014 auslaufen. Seither patroulliert eine Frontex-Mission namens Triton im Mittelmeer. Doch war „Mare Nostrum“ vorrangig eine Seenotrettungsoperation, ist bei „Triton“ die Rettung von Flüchtlingen nur nachrangig – Operationsziel ist die Grenzsicherung.
Die ablehnende Haltung der Bundesregierung gegen eine ernsthafte Seenotrettung von Flüchtlingen zeigt sich auch am deutschen Beitrag zu Triton: Bislang stellt Deutschland nur einen Hubschrauber zur Überwachung der Grenzen, kein einziges Schiff zur Seenotrettung wurde entsendet.
Triton: Eine Sterbebeobachtungsoperation
Mit Blick auf das aktuelle Unglück erklärte der UN-Flüchtlingskommissar Guterres, Triton sei ein „beklagenswert unzureichenden Ersatz für Italiens Operation ‚Mare Nostrum‘ “. Während Mare Nostrum in der Vergangenheit bis nahe an die knapp 160 Seemeilen von Lampedusa entfernte libysche Küste heranfuhr, patroulliert Frontex in der Regel nur bis etwa 30 Seemeilen vor Lampedusa. Triton erweist sich daher als Sterbebeobachtungsoperation: Die Anfahrtswege sind schlicht zu weit, die Informationen kommen zu spät, die Mittel reichen zur effektiven Seenotrettung nicht aus.
Grund dafür ist nicht, dass sich Europa Seenotrettungssystem leisten könnte, das Schiffbrüchige im Mittelmeer zu retten vermag – nein, die Rettung von Flüchtlingen ist politisch nicht erwünscht. Ihr Tod ist ein Instrument der europäischen, von Deutschland eisern verteidigten Abschreckungspolitik.
Europa braucht dringend einen zivilen Seenotdienst.
Dieser Zynismus ist durch nichts zu rechtfertigen. Europa braucht dringend einen zivilen Seenotrettungsdienst, der aktiv nach schiffbrüchigen Flüchtlingen im Mittelmeer sucht, sie rettet und in einen sicheren europäischen Hafen bringt. Mehr als 11.00 Menschen fordern daher mit uns: Seenotrettung jetzt!
Klar ist jedoch auch: Wirklich lösen können das Problem nur legale Fluchtwege. Es müssen umfassende Programme zur Flüchtlingsaufnahme geschaffen werden. Menschen, die beispielsweise vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen, müssen Visa zur legalen Einreise erhalten.
Generell verbürgt das internationale Recht, dass Schutzsuchende ein Recht auf menschenwürdige Aufnahme und faire Asylverfahren haben und dass sie an den Grenzen nicht zurückgewiesen werden dürfen. Würden diese Grundsätze des Flüchtlingsrechts von den europäischen Staaten an den EU-Außengrenzen eingehalten – kein Flüchtling müsste es wagen, sein Leben Schleppern und seeuntauglichen Booten anzuvertrauen.
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