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Ein Jahr »vorübergehender Schutz« für Ukrainer*innen: Zeit für eine Zwischenbilanz
Vor einem Jahr greift Russland die Ukraine an. Millionen Menschen flüchten vor dem Krieg, viele davon in die osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine. Auf die massiven Fluchtbewegungen reagiert die Europäische Union mit der Aktivierung der Richtlinie über den sogenannten »vorübergehenden Schutz«. Ein Erfolgsmodell?
Als am 24. Februar 2022 russische Truppen die Ukraine angreifen, bilden sich an den Grenzübergängen schnell lange Schlangen. Zehntausende Menschen haben nur noch ein Ziel vor Augen: Sich und ihre Kinder schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. In den Gesichtern spiegelt sich das blanke Entsetzen wieder. Obwohl es bereits seit Monaten massive Warnungen vor einem russischen Einmarsch gegeben hatte, hatte sich fast niemand vorstellen können, dass es tatsächlich zum Krieg kommen würde.
Viele Familien fahren in diesen ersten Kriegstagen gemeinsam an die Grenze. Die Familienväter müssen zurückbleiben, denn die ukrainische Regierung hatte umgehend eine bis heute geltende Regelung eingeführt, die es Männern im Alter zwischen 18 und 60 Jahren nur in Ausnahmefällen erlaubt, die Ukraine zu verlassen. Auch die 60.000 ausländischen Studierenden, die sich bei Kriegsausbruch in der Ukraine aufhalten, versuchen, die Ukraine zu verlassen. Vor allem Polen verweigert ihnen jedoch zunächst die Einreise mit der Begründung, dass sie im Gegensatz zu ukrainischen Staatsangehörigen ein Visum für die Einreise in den Schengenraum benötigen.
Innerhalb von nur elf Tagen fliehen fast zwei Millionen Ukrainer*innen in die angrenzenden EU-Staaten. Der Großteil davon nach Polen, aber auch an der Grenze zur Slowakei, nach Ungarn und nach Rumänien werden täglich zehntausende Einreisen registriert. Schnell ist klar: Es handelt sich um eine Fluchtbewegung von historischem Ausmaß, in der EU kommen in wenigen Tagen mehr Schutzsuchende an als 2015 und 2016.
PRO ASYL und Bordermonitoring.eu fahren frühzeitig an die EU-Außengrenze und starten ein gemeinsames Monitoring-Projekt, um die Situation von ukrainischen Geflüchteten in den Nachbarstaaten der Ukraine fortlaufend zu dokumentieren
Schneller Schutz jenseits langwieriger Asylverfahren
Im krassen Gegensatz zu den repressiven und auf Abwehr ausgerichteten Maßnahmen der EU-Länder, mit denen Geflüchtete aus anderen Ländern konfrontiert sind, herrschte bei den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine von Beginn an große Einigkeit: Sie sollten schnell und unbürokratisch aufgenommen werden. Dafür aktivierte der Rat der Europäischen Union am 4. März 2022 einstimmig und erstmals in der Geschichte der EU die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (auf Deutsch auch »Massenzustrom-Richtlinie« genannt). Seit ihrer Verabschiedung im Jahr 2001 war die Verordnung allenfalls Expert*innen bekannt und hatte in der Praxis keinerlei Bedeutung.
Im Kern zielt die Richtlinie darauf ab, im Fall einer großen Fluchtbewegung in die EU eine pragmatische Aufenthaltsgewährung jenseits langwieriger Asylverfahren zu ermöglichen. Zudem gibt die Richtlinie Mindeststandards vor, die von den Mitgliedstaaten etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Sozialleistungen oder zur Gesundheitsversorgung eingehalten werden müssen. Sie ersetzt dabei nicht das Asylverfahren , sondern ergänzt es: Wer will, kann alternativ auch einen Asylantrag stellen – und dies sogar dann, wenn bereits temporärer Schutz gemäß der Richtlinie erteilt worden ist.
Von der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz umfasst sind zwingend alle ukrainischen Staatsangehörigen, die sich vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben, in der Ukraine anerkannte Flüchtlinge und die Familienangehörigen dieser beiden Gruppen. Komplizierter wird es bei Menschen aus anderen Ländern, die sich bei Ausbruch des Krieges in der Ukraine aufgehalten haben: Hatten sie in der Ukraine einen dauerhaften Aufenthaltstitel und können nicht sicher und dauerhaft in ihren Herkunftsstaat zurückkehren, ist ihnen ebenfalls Schutz gemäß der Richtlinie zu gewähren. Bei Drittstaatsangehörigen, die wie die ausländischen Studierenden in der Ukraine lediglich eine befristete Aufenthaltserlaubnis hatten, steht es den Mitgliedstaaten frei, ob sie ihnen vorübergehenden Schutz gewähren (zur Anwendung des vorübergehenden Schutzes in Deutschland hat PRO ASYL hier die wichtigsten Informationen zusammen getragen).
Freizügigkeit innerhalb der EU
Für große Überraschung sorgte der Hinweis in dem Aktivierungsbeschluss, dass die Mitgliedstaaten übereingekommen sind, dass sie Artikel 11 der Richtlinie nicht anwenden werden. In diesem ist eigentlich vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Rückführungen von Geflüchteten aus anderen EU-Staaten zu akzeptieren, wenn sie diesen zuvor bereits einen Aufenthaltstitel gemäß der Richtlinie erteilt haben. In der Praxis bedeutet das, dass Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ihren Aufnahmestaat zu jeder Zeit frei wählen können.
Damit überhaupt nachvollziehbar ist, wer in einem anderen EU-Staat bereits Schutz gemäß der Richtlinie erhalten hat, hat die EU-Kommission Ende Mai 2022 die sogenannte Europäische Registrierungsplattform eingerichtet. Darüber können die Mitgliedstaaten Informationen austauschen, wem in welchem Land bereits vorübergehender Schutz gewährt wurde. Aktuell wird die Plattform von den Mitgliedstaaten nur genutzt, um Personen, die bereits Schutz erhalten haben und in einem anderen Land erneut einen Antrag auf vorübergehenden Schutz stellen, im Land der Erstgewährung abzumelden. Damit wird verhindert, dass eine Person in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig vorübergehenden Schutz erhält. Sollten die EU-Staaten zukünftig beschließen, die Freizügigkeit von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine einzuschränken, könnten die in der Europäischen Registrierungsplattform gespeicherten Daten genutzt werden, um Anträge auf vorübergehenden Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn bereits ebendieser Schutz in einem anderen Staat schon gewährt wurde.
EU-Kommission stellt 17 Milliarden Euro bereit
Die Europäische Kommission hat den Mitgliedstaaten zugesagt, insgesamt 17 Milliarden Euro für die Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen bereitzustellen. Diese Mittel werden nicht etwa über ein spezifisches Förderprogramm zugänglich gemacht, sondern nicht abgerufene Gelder bereits bestehender EU-Förderprogramme werden umgewidmet. Hierzu wurden im Eiltempo die »Care-Verordnung«, die »Care+-Verordnung« und die »Fast-Care-Verordnung« verabschiedet. Ob die Mittel tatsächlich gerecht auf die Mitgliedstaaten verteilt und im Sinne der ukrainischen Geflüchteten eingesetzt werden, bleibt abzuwarten. Eine gewisse Skepsis ist allein aufgrund der hastig getroffenen Entscheidungen und andauernden Nachbesserungen sicherlich angebracht
Mit Abstand die meisten Ukrainer*innen wurden von Polen aufgenommen
Laut UNHCR wurden bis jetzt EU-weit knapp fünf Millionen Aufenthaltstitel für den vorübergehenden Schutz erteilt, etwa 1,8 Millionen davon in den Nachbarstaaten der Ukraine: Der Großteil in Polen, wo in über 1,5 Millionen Fällen temporärer Schutz gewährt wurde. In der Slowakei und in Rumänien wurden bisher jeweils knapp über 100.000 Anträge bewilligt, in Ungarn lediglich etwas mehr als 30.000 Anträge. Hinzu kommen etwa 100.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge, die sich in dem Nicht-EU-Land Moldau aufhalten, wo der vorübergehende Schutz jedoch nicht gilt.
Die Anzahl der von einem Land erteilten Aufenthaltstitel vermitteln jedoch nur einen groben Eindruck davon, wie viele ukrainische Kriegsflüchtlinge sich tatsächlich (noch) in dem entsprechenden Land aufhalten. Denn es ist unklar, wie viele zwischenzeitlich in die Ukraine zurückgekehrt sind oder in einem anderen EU-Staat erneut Schutz suchen.
Wie unterschiedlich die Aufnahme und die Bedingungen für Geflüchtete aus der Ukraine trotz der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz in den Mitgliedstaaten sind, zeigt ein Blick in die Nachbarländer der Ukraine:
In Polen lebten bereits vor Ausbruch des Krieges etwa eine Million Ukrainer*innen, was vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen ist: Erstens die sprachliche Nähe zwischen den Sprachen und zweitens der große Bedarf an Arbeitskräften, weshalb Aufenthaltstitel für Studien- oder Arbeitszwecke großzügig erteilt wurden. Viele Ukrainer*innen hatten dadurch Familienangehörige oder Bekannte in Polen, bei denen sie unterkommen konnten. Dies und die Bereitschaft vieler Polen*innen, ukrainische Geflüchtete privat aufzunehmen, sind ursächlich dafür, dass nur wenige Ukrainer*innen längerfristig in Sammelunterkünften leben müssen.
Auf die Ankunft Hunderttausender Kriegsflüchtlinge innerhalb weniger Wochen reagierte die polnische Regierung pragmatisch: Sie sicherte ein 18 Monate gültiges Aufenthaltsrecht (gerechnet ab dem 24. Februar 2022) gemäß der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz zu, ohne dass hierfür eine gesonderte Antragstellung notwendig war. Ohnehin hätte dies die polnischen Migrationsbehörden komplett überfordert. Allerdings ist die Beantragung einer sogenannten »Pesel-Nummer« obligatorisch. Diese persönliche Identifikationsnummer, die auch an polnische Staatsangehörige vergeben wird, ist Voraussetzung dafür, die aus der Aufenthaltsgewährung resultierenden Rechte wie Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und zu Sozialleistungen auch tatsächlich in Anspruch nehmen zu können. Sozialleistungen fallen in Polen relativ gering aus und reichen kaum aus, um hiervon Miete und Lebensunterhalt zu bestreiten. Von dem »Cash-Program«, das der UNHCR nach Kriegsausbruch etabliert hat und das eine monatliche Zahlung in Höhe von etwa 150 Euro pro Person vorsieht, können seit August 2022 nur noch besonders schutzbedürftige Geflüchtete profitieren. Dementsprechend erhalten aktuell nur noch etwa 4.000 Menschen Zuschüsse aus diesem Programm.
Ukrainer*innen, die Polen länger als 30 Tage verlassen, müssen damit rechnen, dass ihre »Pesel-Nummer« ungültig wird. In der Praxis betrifft dies vor allem diejenigen, die längerfristig in die Ukraine zurückkehren. Hinzu kommen die Menschen, die in einen anderen Staat weiter geflüchtet sind. Laut den polnischen Behörden hatten zum 10. Januar 2023 knapp über 950.000 ukrainische Geflüchtete eine aktive »Pesel-Nummer« in Polen. Das bedeutet, dass etwa ein Drittel der 1,5 Millionen Ukrainer*innen, die nach Kriegsausbruch nach Polen geflüchtet sind und dort temporären Schutz erhalten haben, das Land zwischenzeitlich wieder verlassen haben.
Sehr vielen ukrainischen Geflüchteten ist es bereits gelungen, sich in den polnischen Arbeitsmarkt zu integrieren. Schätzungen gehen davon aus, dass aktuell etwa 60 bis 70 Prozent der Erwachsenen einer Beschäftigung nachgehen. Diejenigen, die es nicht geschafft haben, eine Arbeit zu finden, werden es in Zukunft deutlich schwerer haben: Vor Kurzem hat die Regierung weitreichende Gesetzesverschärfungen verabschiedet, die unter anderem vorsehen, dass ukrainische Geflüchtete nur noch für maximal 120 Tage kostenfrei in Sammelunterkünften leben dürfen. Danach müssen sie 50 Prozent der Kosten selber tragen, nach 180 Tagen sogar 75 Prozent. Ausnahmen sind nur für besonders schutzbedürftige Menschen vorgesehen.
Im Gegensatz zu Polen müssen ukrainische Geflüchtete in der Slowakei einen Antrag auf temporären Schutz stellen. Dafür wurden in mehreren Städten Registrierungszentren eingerichtet, in denen bei Vorlage eines ukrainischen Passes direkt vor Ort ein Aufenthaltstitel ausgestellt wird. Dieser galt zunächst für ein Jahr. Vor kurzem gab die slowakische Regierung bekannt, dass die Aufenthaltstitel bis zum 4. März 2024 verlängert werden.
Letzten Dezember lebten laut Schätzung slowakischer Behördenvertreter*innen noch etwa 60.000 ukrainische Geflüchtete im Land, viele davon in Bratislava und Umgebung. Knapp 8.000 Ukrainer*innen erhalten gegenwärtig staatliche Unterstützung, wovon insgesamt etwa 14.000 Familienangehörige profitieren. Eine alleinstehende Frau mit zwei kleinen Kindern erhält etwa 190 Euro monatlich, Mietzuschüsse oder zusätzliches Kindergeld sind nicht vorgesehen. Allerdings können Privatpersonen, die ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen haben, einen staatlichen Zuschuss beantragen. Dieser beträgt pro Tag 10 Euro für jeden Erwachsenen und 5 Euro für jedes Kind unter 15 Jahren. Es ist noch nicht geklärt, ob dieses Programm über den Februar 2023 hinaus verlängert wird. Für ukrainische Kriegsflüchtlinge, die temporären Schutz erhalten haben und keine private Unterbringung finden, stehen landesweit Sammelunterkünfte zur Verfügung.
Höchst problematisch ist, dass ukrainische Kinder in der Slowakei von der Schulpflicht ausgenommen sind. Begründet wird dies damit, dass sie am Online-Unterricht aus der Ukraine teilnehmen könnten. Grundsätzlich ist der Besuch einer slowakischen Schule zwar möglich, allerdings gehen die Behörden davon aus, dass nur ein paar Tausend ukrainische Kinder eine slowakische Schule besuchen.
In Ungarn unterliegen im Gegensatz zur Slowakei auch ukrainische Kinder der allgemeinen Schulpflicht. Ob dies in der Praxis dazu führt, dass sie tatsächlich eine Schule besuchen und ihren besonderen Bedürfnissen entsprechend gefördert werden, darf allerdings bezweifelt werden. Bedingt durch die radikalen Gesetzesverschärfungen für Flüchtlinge in den letzten Jahren gibt es kaum noch Asylsuchende in Ungarn. In der Folge wurden viele Integrations- oder Sprachprogramme eingestellt und in den Schulen gibt es kaum Erfahrungen im Umgang mit fremdsprachigen Kindern.
Hinzu kommt, dass die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz in Ungarn eher widerwillig umgesetzt wird. Dies spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass in Ungarn kein vom UNHCR finanziertes »Cash-Program« eingeführt wurde, so wie dies in den osteuropäischen Nachbarstaaten der Fall war. Zu groß waren offensichtlich die Vorbehalte gegenüber einer internationalen Organisation, die »Migration fördert«. Erwachsene Ukrainer*innen, die den temporären Schutz erhalten haben, können lediglich eine staatliche Zuwendung in Höhe von 60 Euro monatlich beantragen. Minderjährige erhalten 35 Euro pro Monat. Wird ein Jobangebot des Arbeitsamtes abgelehnt, endet der Anspruch. Die monatlich ausgezahlten Leistungen liegen deutlich unter den Leistungen der osteuropäischen Nachbarstaaten. Hinzu kommt, dass es in Ungarn auch kein staatliches Programm gibt, um die private Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen zu fördern. Ukrainische Geflüchtete, die auf Unterbringung angewiesen sind, werden daher in aller Regel an Sammelunterkünfte oder Obdachlosenheimen verwiesen, die sich über das ganze Land verteilen.
Aufgrund der verhältnismäßig schwierigen Lebensumstände und der politischen Nähe der Orbán-Regierung zum Putin-Regime haben in Ungarn weitaus weniger Menschen einen Antrag auf temporären Schutz gestellt als in den Nachbarstaaten. Lediglich 30.000 Anträge sind bisher eingegangen, unter ihnen insbesondere Menschen mit ungarischen Sprachkenntnissen, die sich dazu entscheiden, in Ungarn zu bleiben. Oft kommen sie aus dem westukrainischen Transkarpatien, wo es eine große ungarische Minderheit gibt, darunter auch viele Rom*nija. Viele haben bereits vor Kriegsausbruch in Ungarn unter äußerst prekären Bedingungen auf dem Bau oder in Fabriken gearbeitet.
Ungeachtet der weitreichenden Abwesenheit des Staates hat die ungarische Zivilgesellschaft beachtliches geleistet. So betreibt etwa die Gruppe »Migration Aid« in Budapest ein Aufnahmezentrum mit einer Kapazität von 300 Betten. Auch die lutherische Kirche hat ein Hilfszentrum eröffnet, welches 180 aus der Ukraine geflüchtete Familien mit Sach- und Lebensmittelspenden versorgt. Weitaus mehr stehen auf der Warteliste.
Anders als in Ungarn gab es in Rumänien mit Beginn des Kriegs von Seiten der Regierung eine große Bereitschaft, mit lokalen NGOs und dem UNHCR zusammenzuarbeiten. Dies zeigt sich in Bukarest auch in dem zentralen Ankunftszentrum, das sich auf dem Messegelände befindet. Verschiedenste staatliche und nichtstaatliche Institutionen arbeiten dort gemeinsam unter einem Dach zusammen, betreiben einen »Free Supermarket«, in dem sich bedürftige Ukrainer*innen mit Hygieneprodukten und Lebensmitteln versorgen können.
Viele nach Rumänien geflüchtete Ukrainer*innen haben mit Armut zu kämpfen, denn bisher haben nur etwa 5.000 Menschen eine Arbeit gefunden. Auch wenn sich sicherlich nicht mehr alle der insgesamt knapp über 100.000 Ukrainer*innen, denen bisher temporärer Schutz gewährt wurde, in Rumänen aufhalten, so ist dies dennoch eine äußerst niedrige Beschäftigungsquote. Wer keiner Arbeit nachgeht, bekommt in Rumänien nur wenig finanzielle Unterstützung: Die Unterstützung durch das »Cash-Program« des UNHCR ist auf drei Monate begrenzt und die staatliche Sozialhilfe beträgt nur 30 Euro im Monat, das Kindergeld gerade einmal 40 Euro. Zudem ist für die Beantragung eine offizielle Meldeadresse Voraussetzung, die viele Ukrainer*innen nicht vorweisen können. Über keine offizielle Meldeadresse zu verfügen, führt darüber hinaus zu Problemen bei der Arbeitsplatzsuche.
Zudem können ukrainische Kinder rumänische Schulen ohne offizielle Meldeadresse nur als »Gäste« besuchen und bekommen keine Zeugnisse. Für sie besteht unter Verweis auf den Online-Unterricht aus der Ukraine keine Schulpflicht. In Verbindung mit der Sprachbarriere und der Hoffnung vieler Eltern, bald in die Ukraine zurückkehren zu können, führt dies dazu, dass nur ein kleiner Bruchteil der Kinder eine rumänische Schule besucht. Zu Beginn des laufenden Schuljahres hat gerade einmal eines von zehn ukrainischen Kindern eine rumänische Schule oder einen Kindergarten besucht.
Trotz dieser offensichtlichen Probleme ist positiv hervorzuheben, dass in Rumänien nur sehr wenige Ukrainer*innen in Sammelunterkünften leben. Maßgeblich dazu beigetragen hat ein staatliches Programm, das die Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen in privaten Haushalten, Pensionen und Studierendenheimen fördert: Für Unterkunft und Verlegung kann, wenn gewisse Standards erfüllt sind, eine Kompensation von knapp 15 Euro pro Tag und Person beantragt werden.
Unterbringungsangebote können über eine Onlineplattform eingereicht werden, in der sich auch wohnungssuchende Ukrainer*innen registrieren können. Die App wurde von der NGO »Code for Romania« entwickelt und wird in enger Kooperation mit den rumänischen Behörden, dem rumänischen Flüchtlingsrat, dem UNHCR und weiteren Organisationen betrieben. So ist es möglich, dort verifizierte und aktualisierte Informationen, die für ukrainische Kriegsflüchtlinge relevant sind, zur Verfügung zu stellen – auf Ukrainisch, Rumänisch, Russisch und Englisch. Die Onlineplattform, auf der sich auch eine Jobbörse befindet, kann sicherlich als Vorbild für eine zeitgemäße und digitale Unterstützung von Geflüchteten gelten, wie sie auch in anderen Staaten wünschenswert wäre.
Bisher werden die etwa 100.000 ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die sich laut offiziellen Angaben in Moldau aufhalten, lediglich »geduldet«. Da das Land kein EU-Mitglied ist, gilt die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz in Moldau nicht. Es wurde lediglich eine Regelung eingeführt, die vorsieht, dass sich ukrainische Staatsangehörige, solange in Moldau aufhalten dürfen, wie der landesweite Notstand gilt, der alle paar Monate von der Regierung verlängert wird. Ukrainische Kriegsflüchtlinge haben hier zwar weitreichende Rechte (wie etwa Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Gesundheitsversorgung), allerdings dürfen ukrainische Kinder moldauische Schulen bisher nur als Gastschüler*in besuchen. Aktuell besuchen gerade einmal 2.000 ukrainische Kinder eine Schule – eine äußerst niedrige Zahl, wenn man bedenkt, dass etwa die Hälfte der ukrainischen Geflüchteten in Moldau minderjährig ist.
Auch in Moldau sind die meisten ukrainischen Kriegsflüchtlinge in Privatunterkünften untergekommen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass viele Ukrainer*innen Verwandte und Freunde in Moldau haben – vor allem, wenn sie aus der Grenzregion stammen. Hinzu kommt, dass es auch in Moldau eine Welle der Solidarität gab und viele Menschen ihre Türen für Geflüchtete geöffnet haben. Weniger als 3.000 Menschen leben in den landesweit etwa 70 Sammelunterkünften, die von der Regierung, Gemeinden, NGOs und Kirchen betrieben werden. Für die private Aufnahme von bis zu fünf Personen kann alle sechs Wochen ein Zuschuss von insgesamt knapp 200 Euro beim »World Food Programme« beantragt werden.
Zudem bekommen Familien monatlich 110 Euro pro Familienmitglied über das »Cash-Program« des UNHCR. Auch besonders schutzbedürftige Einzelpersonen sind antragsberechtigt. Die Zahlung wird vom UNHCR auf eine Prepaid-Karte überwiesen, die ausschließlich in Moldau verwendet werden kann. Aktuell erhalten rund 65.000 Menschen monatliche Zahlungen, mittelfristig strebt der UNHCR jedoch die Einstellung des Programms an.
Äußerst erfreulich ist, dass sich die moldauische Regierung nach langem Zögern dazu entschieden hat, einen an dem vorübergehenden Schutz orientierten Aufenthaltstitel für ukrainische Kriegsflüchtlinge einzuführen. Es wird damit gerechnet, dass die neue Regelung zum 1. März 2023 in Kraft tritt. Bei der Versorgung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge wird Moldau, das sich in großen finanziellen Schwierigkeiten befindet und unter russischer Einflussnahme zu leiden hat, jedoch auch weiterhin dringend auf die Unterstützung durch internationale Organisationen und die EU angewiesen sein.
Erfolgsmodell »vorübergehender Schutz«?
Ein Jahr nach der Aktivierung der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz zeigt sich immer deutlicher, dass sich dieser Schritt bewährt hat. Und dies nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene und hier insbesondere in den osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine. Wären ukrainische Geflüchtete ins Asylverfahren gedrängt worden, wären langwierige Verfahren, Arbeitsverbote, überfüllte Lager und großer Streit um eine gerechte Verteilung innerhalb der EU wohl traurige Realität geworden.
In den osteuropäischen Staaten wurden die geflüchteten Ukrainer*innen weitestgehend freundlich empfangen und aufgenommen. Die wenigsten müssen in Sammelunterkünften leben, die meisten sind privat untergekommen. Maßgeblich dazu beigetragen haben staatliche Programme, welche die private Aufnahme gezielt gefördert haben. Auch ist die Bedeutung direkter finanzieller Unterstützung, wie sie der UNHCR zur Verfügung gestellt hat und zum Teil immer noch anbietet, kaum hoch genug einzuschätzen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Sozialleistungen in den osteuropäischen Staaten vergleichsweise gering sind und oft nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Trotz aller Herausforderungen muss die Aufnahme von fast fünf Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlingen innerhalb nur eines Jahres als Erfolg gewertet werden. Entscheidend für diesen Erfolg ist, dass die Geflüchteten aus der Ukraine den Staat ihrer Aufnahme selbst wählen können. Dabei hat sich auch gezeigt, dass es schlichtweg ein Mythos ist, dass Geflüchtete vor allem in jenen Staaten Zuflucht suchen, in denen die Sozialleistungen vorgeblich am höchsten sind. Viel wichtiger scheinen familiäre und bekanntschaftliche Netzwerke, sprachliche Nähe und Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu sein. Nur so lässt sich erklären, warum mit Abstand am meisten Ukrainer*innen in Polen Schutz ersucht haben. Es bleibt zu hoffen, dass hieraus auch Lehren für die Debatte um ein gemeinsames europäisches Asylsystem gezogen werden.
Marc Speer (bordermonitoring.eu)
Marc Speer berichtet im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von Geflüchteten aus der Ukraine in den Nachbarstaaten der Ukraine.