24.02.2023
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Zum Jahrestag des Kriegsbeginns auf die Ukraine ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Foto:Unsplash

Vor einem Jahr greift Russland die Ukraine an. Millionen Menschen flüchten vor dem Krieg, viele davon in die osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine. Auf die massiven Fluchtbewegungen reagiert die Europäische Union mit der Aktivierung der Richtlinie über den sogenannten »vorübergehenden Schutz«. Ein Erfolgsmodell?

Als am 24. Febru­ar 2022 rus­si­sche Trup­pen die Ukrai­ne angrei­fen, bil­den sich an den Grenz­über­gän­gen schnell lan­ge Schlan­gen. Zehn­tau­sen­de Men­schen haben nur noch ein Ziel vor Augen: Sich und ihre Kin­der schnellst­mög­lich in Sicher­heit zu brin­gen. In den Gesich­tern spie­gelt sich das blan­ke Ent­set­zen wie­der. Obwohl es bereits seit Mona­ten mas­si­ve War­nun­gen vor einem rus­si­schen Ein­marsch gege­ben hat­te, hat­te sich fast nie­mand vor­stel­len kön­nen, dass es tat­säch­lich zum Krieg kom­men würde.

Vie­le Fami­li­en fah­ren in die­sen ers­ten Kriegs­ta­gen gemein­sam an die Gren­ze. Die Fami­li­en­vä­ter müs­sen zurück­blei­ben, denn die ukrai­ni­sche Regie­rung hat­te umge­hend eine bis heu­te gel­ten­de Rege­lung ein­ge­führt, die es Män­nern im Alter zwi­schen 18 und 60 Jah­ren nur in Aus­nah­me­fäl­len erlaubt, die Ukrai­ne zu ver­las­sen. Auch die 60.000 aus­län­di­schen Stu­die­ren­den, die sich bei Kriegs­aus­bruch in der Ukrai­ne auf­hal­ten, ver­su­chen, die Ukrai­ne zu ver­las­sen. Vor allem Polen ver­wei­gert ihnen jedoch zunächst die Ein­rei­se mit der Begrün­dung, dass sie im Gegen­satz zu ukrai­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen ein Visum für die Ein­rei­se in den Schen­gen­raum benötigen.

Inner­halb von nur elf Tagen flie­hen fast zwei Mil­li­onen Ukrainer*innen in die angren­zen­den EU-Staa­ten. Der Groß­teil davon nach Polen, aber auch an der Gren­ze zur Slo­wa­kei, nach Ungarn und nach Rumä­ni­en wer­den täg­lich zehn­tau­sen­de Ein­rei­sen regis­triert. Schnell ist klar: Es han­delt sich um eine Flucht­be­we­gung von his­to­ri­schem Aus­maß, in der EU kom­men in weni­gen Tagen mehr Schutz­su­chen­de an als 2015 und 2016.

PRO ASYL und Bordermonitoring.eu fah­ren früh­zei­tig an die EU-Außen­gren­ze und star­ten ein gemein­sa­mes Moni­to­ring-Pro­jekt, um die Situa­ti­on von ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten in den Nach­bar­staa­ten der Ukrai­ne fort­lau­fend zu dokumentieren

Schneller Schutz jenseits langwieriger Asylverfahren 

Im kras­sen Gegen­satz zu den repres­si­ven und auf Abwehr aus­ge­rich­te­ten Maß­nah­men der EU-Län­der, mit denen Geflüch­te­te aus ande­ren Län­dern kon­fron­tiert sind, herrsch­te bei den Kriegs­flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne von Beginn an gro­ße Einig­keit: Sie soll­ten schnell und unbü­ro­kra­tisch auf­ge­nom­men wer­den. Dafür akti­vier­te der Rat der Euro­päi­schen Uni­on am 4. März 2022 ein­stim­mig und erst­mals in der Geschich­te der EU die Richt­li­nie zum vor­über­ge­hen­den Schutz (auf Deutsch auch »Mas­sen­zu­strom-Richt­li­nie« genannt). Seit ihrer Ver­ab­schie­dung im Jahr 2001 war die Ver­ord­nung allen­falls Expert*innen bekannt und hat­te in der Pra­xis kei­ner­lei Bedeutung.

Im Kern zielt die Richt­li­nie dar­auf ab, im Fall einer gro­ßen Flucht­be­we­gung in die EU eine prag­ma­ti­sche Auf­ent­halts­ge­wäh­rung jen­seits lang­wie­ri­ger Asyl­ver­fah­ren zu ermög­li­chen. Zudem gibt die Richt­li­nie Min­dest­stan­dards vor, die von den Mit­glied­staa­ten etwa beim Zugang zum Arbeits­markt, zu Sozi­al­leis­tun­gen oder zur Gesund­heits­ver­sor­gung ein­ge­hal­ten wer­den müs­sen. Sie ersetzt dabei nicht das Asyl­ver­fah­ren  , son­dern ergänzt es: Wer will, kann alter­na­tiv auch einen Asyl­an­trag stel­len – und dies sogar dann, wenn bereits tem­po­rä­rer Schutz gemäß der Richt­li­nie erteilt wor­den ist.

Von der Richt­li­nie zum vor­über­ge­hen­den Schutz umfasst sind zwin­gend alle ukrai­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen, die sich vor dem 24. Febru­ar 2022 in der Ukrai­ne auf­ge­hal­ten haben, in der Ukrai­ne aner­kann­te Flücht­lin­ge und die Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen die­ser bei­den Grup­pen. Kom­pli­zier­ter wird es bei Men­schen aus ande­ren Län­dern, die sich bei Aus­bruch des Krie­ges in der Ukrai­ne auf­ge­hal­ten haben: Hat­ten sie in der Ukrai­ne einen dau­er­haf­ten Auf­ent­halts­ti­tel und kön­nen nicht sicher und dau­er­haft in ihren Her­kunfts­staat zurück­keh­ren, ist ihnen eben­falls Schutz gemäß der Richt­li­nie zu gewäh­ren. Bei Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen, die wie die aus­län­di­schen Stu­die­ren­den in der Ukrai­ne ledig­lich eine befris­te­te Auf­ent­halts­er­laub­nis hat­ten, steht es den Mit­glied­staa­ten frei, ob sie ihnen vor­über­ge­hen­den Schutz gewäh­ren (zur Anwen­dung des vor­über­ge­hen­den Schut­zes in Deutsch­land hat PRO ASYL hier die wich­tigs­ten Infor­ma­tio­nen zusam­men getragen).

Freizügigkeit innerhalb der EU 

Für gro­ße Über­ra­schung sorg­te der Hin­weis in dem Akti­vie­rungs­be­schluss, dass die Mit­glied­staa­ten über­ein­ge­kom­men sind, dass sie Arti­kel 11 der Richt­li­nie nicht anwen­den wer­den. In die­sem ist eigent­lich vor­ge­se­hen, dass die Mit­glied­staa­ten ver­pflich­tet sind, Rück­füh­run­gen von Geflüch­te­ten aus ande­ren EU-Staa­ten zu akzep­tie­ren, wenn sie die­sen zuvor bereits einen Auf­ent­halts­ti­tel gemäß der Richt­li­nie erteilt haben. In der Pra­xis bedeu­tet das, dass Kriegs­flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne ihren Auf­nah­me­staat zu jeder Zeit frei wäh­len können.

Damit über­haupt nach­voll­zieh­bar ist, wer in einem ande­ren EU-Staat bereits Schutz gemäß der Richt­li­nie erhal­ten hat, hat die EU-Kom­mis­si­on Ende Mai 2022 die soge­nann­te Euro­päi­sche Regis­trie­rungs­platt­form ein­ge­rich­tet. Dar­über kön­nen die Mit­glied­staa­ten Infor­ma­tio­nen aus­tau­schen, wem in wel­chem Land bereits vor­über­ge­hen­der Schutz gewährt wur­de. Aktu­ell wird die Platt­form von den Mit­glied­staa­ten nur genutzt, um Per­so­nen, die bereits Schutz erhal­ten haben und in einem ande­ren Land erneut einen Antrag auf vor­über­ge­hen­den Schutz stel­len, im Land der Erst­ge­wäh­rung abzu­mel­den. Damit wird ver­hin­dert, dass eine Per­son in meh­re­ren Mit­glied­staa­ten gleich­zei­tig vor­über­ge­hen­den Schutz erhält. Soll­ten die EU-Staa­ten zukünf­tig beschlie­ßen, die Frei­zü­gig­keit von Kriegs­flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne ein­zu­schrän­ken, könn­ten die in der Euro­päi­schen Regis­trie­rungs­platt­form gespei­cher­ten Daten genutzt wer­den, um Anträ­ge auf vor­über­ge­hen­den Schutz als unzu­läs­sig abzu­leh­nen, wenn bereits eben­die­ser Schutz in einem ande­ren Staat schon gewährt wurde.

EU-Kommission stellt 17 Milliarden Euro bereit 

Die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on hat den Mit­glied­staa­ten zuge­sagt, ins­ge­samt 17 Mil­li­ar­den Euro für die Auf­nah­me von ukrai­ni­schen Kriegs­flücht­lin­gen bereit­zu­stel­len. Die­se Mit­tel wer­den nicht etwa über ein spe­zi­fi­sches För­der­pro­gramm zugäng­lich gemacht, son­dern nicht abge­ru­fe­ne Gel­der bereits bestehen­der EU-För­der­pro­gram­me wer­den umge­wid­met. Hier­zu wur­den im Eil­tem­po die »Care-Ver­ord­nung«, die »Care+-Verordnung« und die »Fast-Care-Ver­ord­nung« ver­ab­schie­det. Ob die Mit­tel tat­säch­lich gerecht auf die Mit­glied­staa­ten ver­teilt und im Sin­ne der ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten ein­ge­setzt wer­den, bleibt abzu­war­ten. Eine gewis­se Skep­sis ist allein auf­grund der has­tig getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen und andau­ern­den Nach­bes­se­run­gen sicher­lich angebracht

Mit Abstand die meisten Ukrainer*innen wurden von Polen aufgenommen

Laut UNHCR wur­den bis jetzt EU-weit knapp fünf Mil­lio­nen Auf­ent­halts­ti­tel für den vor­über­ge­hen­den Schutz erteilt,  etwa 1,8 Mil­lio­nen davon in den Nach­bar­staa­ten der Ukrai­ne: Der Groß­teil in Polen, wo in über 1,5 Mil­lio­nen Fäl­len tem­po­rä­rer Schutz gewährt wur­de. In der Slo­wa­kei und in Rumä­ni­en wur­den bis­her jeweils knapp über 100.000 Anträ­ge bewil­ligt, in Ungarn ledig­lich etwas mehr als 30.000 Anträ­ge. Hin­zu kom­men etwa 100.000 ukrai­ni­sche Kriegs­flücht­lin­ge, die sich in dem Nicht-EU-Land Mol­dau auf­hal­ten, wo der vor­über­ge­hen­de Schutz jedoch nicht gilt.

Die Anzahl der von einem Land erteil­ten Auf­ent­halts­ti­tel ver­mit­teln jedoch nur einen gro­ben Ein­druck davon, wie vie­le ukrai­ni­sche Kriegs­flücht­lin­ge sich tat­säch­lich (noch) in dem ent­spre­chen­den Land auf­hal­ten. Denn es ist unklar, wie vie­le zwi­schen­zeit­lich in die Ukrai­ne zurück­ge­kehrt sind oder in einem ande­ren EU-Staat erneut Schutz suchen.

Wie unter­schied­lich die Auf­nah­me und die Bedin­gun­gen für Geflüch­te­te aus der Ukrai­ne trotz der Richt­li­nie über den vor­über­ge­hen­den Schutz in den Mit­glied­staa­ten sind, zeigt ein Blick in die Nach­bar­län­der der Ukraine:

In Polen leb­ten bereits vor Aus­bruch des Krie­ges etwa eine Mil­li­on Ukrainer*innen, was vor allem auf zwei Grün­de zurück­zu­füh­ren ist: Ers­tens die sprach­li­che Nähe zwi­schen den Spra­chen und zwei­tens der gro­ße Bedarf an Arbeits­kräf­ten, wes­halb Auf­ent­halts­ti­tel für Stu­di­en- oder Arbeits­zwe­cke groß­zü­gig erteilt wur­den. Vie­le Ukrainer*innen hat­ten dadurch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge oder Bekann­te in Polen, bei denen sie unter­kom­men konn­ten. Dies und die Bereit­schaft vie­ler Polen*innen, ukrai­ni­sche Geflüch­te­te pri­vat auf­zu­neh­men, sind ursäch­lich dafür, dass nur weni­ge Ukrainer*innen län­ger­fris­tig in Sam­mel­un­ter­künf­ten leben müssen.

Auf die Ankunft Hun­dert­tau­sen­der Kriegs­flücht­lin­ge inner­halb weni­ger Wochen reagier­te die pol­ni­sche Regie­rung prag­ma­tisch: Sie sicher­te ein 18 Mona­te gül­ti­ges Auf­ent­halts­recht (gerech­net ab dem 24. Febru­ar 2022) gemäß der Richt­li­nie über den vor­über­ge­hen­den Schutz zu, ohne dass hier­für eine geson­der­te Antrag­stel­lung not­wen­dig war. Ohne­hin hät­te dies die pol­ni­schen Migra­ti­ons­be­hör­den kom­plett über­for­dert. Aller­dings ist die Bean­tra­gung einer soge­nann­ten »Pesel-Num­mer« obli­ga­to­risch. Die­se per­sön­li­che Iden­ti­fi­ka­ti­ons­num­mer, die auch an pol­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge ver­ge­ben wird, ist Vor­aus­set­zung dafür, die aus der Auf­ent­halts­ge­wäh­rung resul­tie­ren­den Rech­te wie Zugang zum Arbeits­markt, zur Gesund­heits­ver­sor­gung und zu Sozi­al­leis­tun­gen auch tat­säch­lich in Anspruch neh­men zu kön­nen. Sozi­al­leis­tun­gen fal­len in Polen rela­tiv gering aus und rei­chen kaum aus, um hier­von Mie­te und Lebens­un­ter­halt zu bestrei­ten. Von dem »Cash-Pro­gram«, das der UNHCR nach Kriegs­aus­bruch eta­bliert hat und das eine monat­li­che Zah­lung in Höhe von etwa 150 Euro pro Per­son vor­sieht, kön­nen seit August 2022 nur noch beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Geflüch­te­te pro­fi­tie­ren. Dem­entspre­chend erhal­ten aktu­ell nur noch etwa 4.000 Men­schen Zuschüs­se aus die­sem Programm.

Ukrainer*innen, die Polen län­ger als 30 Tage ver­las­sen, müs­sen damit rech­nen, dass ihre »Pesel-Num­mer« ungül­tig wird. In der Pra­xis betrifft dies vor allem die­je­ni­gen, die län­ger­fris­tig in die Ukrai­ne zurück­keh­ren. Hin­zu kom­men die Men­schen, die in einen ande­ren Staat wei­ter geflüch­tet sind. Laut den pol­ni­schen Behör­den hat­ten zum 10. Janu­ar 2023 knapp über 950.000 ukrai­ni­sche Geflüch­te­te eine akti­ve »Pesel-Num­mer« in Polen. Das bedeu­tet, dass etwa ein Drit­tel der 1,5 Mil­lio­nen Ukrainer*innen, die nach Kriegs­aus­bruch nach Polen geflüch­tet sind und dort tem­po­rä­ren Schutz erhal­ten haben, das Land zwi­schen­zeit­lich wie­der ver­las­sen haben.

Sehr vie­len ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten ist es bereits gelun­gen, sich in den pol­ni­schen Arbeits­markt zu inte­grie­ren. Schät­zun­gen gehen davon aus, dass aktu­ell etwa 60 bis 70 Pro­zent der Erwach­se­nen einer Beschäf­ti­gung nach­ge­hen. Die­je­ni­gen, die es nicht geschafft haben, eine Arbeit zu fin­den, wer­den es in Zukunft deut­lich schwe­rer haben: Vor Kur­zem hat die Regie­rung weit­rei­chen­de Gesetzesver­schär­fun­gen ver­ab­schie­det, die unter ande­rem vor­se­hen, dass ukrai­ni­sche Geflüch­te­te nur noch für maxi­mal 120 Tage kos­ten­frei in Sam­mel­un­ter­künf­ten leben dür­fen. Danach müs­sen sie 50 Pro­zent der Kos­ten sel­ber tra­gen, nach 180 Tagen sogar 75 Pro­zent. Aus­nah­men sind nur für beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen vorgesehen.

Im Gegen­satz zu Polen müs­sen ukrai­ni­sche Geflüch­te­te in der Slo­wa­kei einen Antrag auf tem­po­rä­ren Schutz stel­len. Dafür wur­den in meh­re­ren Städ­ten Regis­trie­rungs­zen­tren ein­ge­rich­tet, in denen bei Vor­la­ge eines ukrai­ni­schen Pas­ses direkt vor Ort ein Auf­ent­halts­ti­tel aus­ge­stellt wird. Die­ser galt zunächst für ein Jahr. Vor kur­zem gab die slo­wa­ki­sche Regie­rung bekannt, dass die Auf­ent­halts­ti­tel bis zum 4. März 2024 ver­län­gert werden.

Letz­ten Dezem­ber leb­ten laut Schät­zung slo­wa­ki­scher Behördenvertreter*innen noch etwa 60.000 ukrai­ni­sche Geflüch­te­te im Land, vie­le davon in Bra­tis­la­va und Umge­bung. Knapp 8.000 Ukrainer*innen erhal­ten gegen­wär­tig staat­li­che Unter­stüt­zung, wovon ins­ge­samt etwa 14.000 Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge pro­fi­tie­ren. Eine allein­ste­hen­de Frau mit zwei klei­nen Kin­dern erhält etwa 190 Euro monat­lich, Miet­zu­schüs­se oder zusätz­li­ches Kin­der­geld sind nicht vor­ge­se­hen. Aller­dings kön­nen Pri­vat­per­so­nen, die ukrai­ni­sche Geflüch­te­te bei sich auf­ge­nom­men haben, einen staat­li­chen Zuschuss bean­tra­gen. Die­ser beträgt pro Tag 10 Euro für jeden Erwach­se­nen und 5 Euro für jedes Kind unter 15 Jah­ren. Es ist noch nicht geklärt, ob die­ses Pro­gramm über den Febru­ar 2023 hin­aus ver­län­gert wird. Für ukrai­ni­sche Kriegs­flücht­lin­ge, die tem­po­rä­ren Schutz erhal­ten haben und kei­ne pri­va­te Unter­brin­gung fin­den, ste­hen lan­des­weit Sam­mel­un­ter­künf­te zur Verfügung.

Höchst pro­ble­ma­tisch ist, dass ukrai­ni­sche Kin­der in der Slo­wa­kei von der Schul­pflicht aus­ge­nom­men sind. Begrün­det wird dies damit, dass sie am Online-Unter­richt aus der Ukrai­ne teil­neh­men könn­ten. Grund­sätz­lich ist der Besuch einer slo­wa­ki­schen Schu­le zwar mög­lich, aller­dings gehen die Behör­den davon aus, dass nur ein paar Tau­send ukrai­ni­sche Kin­der eine slo­wa­ki­sche Schu­le besuchen.

In Ungarn unter­lie­gen im Gegen­satz zur Slo­wa­kei auch ukrai­ni­sche Kin­der der all­ge­mei­nen Schul­pflicht. Ob dies in der Pra­xis dazu führt, dass sie tat­säch­lich eine Schu­le besu­chen und ihren beson­de­ren Bedürf­nis­sen ent­spre­chend geför­dert wer­den, darf aller­dings bezwei­felt wer­den. Bedingt durch die radi­ka­len Geset­zes­ver­schär­fun­gen für Flücht­lin­ge in den letz­ten Jah­ren gibt es kaum noch Asyl­su­chen­de in Ungarn. In der Fol­ge wur­den vie­le Inte­gra­ti­ons- oder Sprach­pro­gram­me ein­ge­stellt und in den Schu­len gibt es kaum Erfah­run­gen im Umgang mit fremd­spra­chi­gen Kindern.

Hin­zu kommt, dass die Richt­li­nie über den vor­über­ge­hen­den Schutz in Ungarn eher wider­wil­lig umge­setzt wird. Dies spie­gelt sich bei­spiels­wei­se dar­in wider, dass in Ungarn kein vom UNHCR finan­zier­tes »Cash-Pro­gram« ein­ge­führt wur­de, so wie dies in den ost­eu­ro­päi­schen Nach­bar­staa­ten der Fall war. Zu groß waren offen­sicht­lich die Vor­be­hal­te gegen­über einer inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on, die »Migra­ti­on för­dert«. Erwach­se­ne Ukrainer*innen, die den tem­po­rä­ren Schutz erhal­ten haben, kön­nen ledig­lich eine staat­li­che Zuwen­dung in Höhe von 60 Euro monat­lich bean­tra­gen. Min­der­jäh­ri­ge erhal­ten 35 Euro pro Monat. Wird ein Job­an­ge­bot des Arbeits­am­tes abge­lehnt, endet der Anspruch. Die monat­lich aus­ge­zahl­ten Leis­tun­gen lie­gen deut­lich unter den Leis­tun­gen der ost­eu­ro­päi­schen Nach­bar­staa­ten. Hin­zu kommt, dass es in Ungarn auch kein staat­li­ches Pro­gramm gibt, um die pri­va­te Auf­nah­me von ukrai­ni­schen Kriegs­flücht­lin­gen zu för­dern. Ukrai­ni­sche Geflüch­te­te, die auf Unter­brin­gung ange­wie­sen sind, wer­den daher in aller Regel an Sam­mel­un­ter­künf­te oder Obdach­lo­sen­hei­men ver­wie­sen, die sich über das gan­ze Land verteilen.

Auf­grund der ver­hält­nis­mä­ßig schwie­ri­gen Lebens­um­stän­de und der poli­ti­schen Nähe der Orbán-Regie­rung zum Putin-Regime haben in Ungarn weit­aus weni­ger Men­schen einen Antrag auf tem­po­rä­ren Schutz gestellt als in den Nach­bar­staa­ten. Ledig­lich 30.000 Anträ­ge sind bis­her ein­ge­gan­gen, unter ihnen ins­be­son­de­re Men­schen mit unga­ri­schen Sprach­kennt­nis­sen, die sich dazu ent­schei­den, in Ungarn zu blei­ben. Oft kom­men sie aus dem west­ukrai­ni­schen Trans­kar­pa­ti­en, wo es eine gro­ße unga­ri­sche Min­der­heit gibt, dar­un­ter auch vie­le Rom*nija. Vie­le haben bereits vor Kriegs­aus­bruch in Ungarn unter äußerst pre­kä­ren Bedin­gun­gen auf dem Bau oder in Fabri­ken gearbeitet.

Unge­ach­tet der weit­rei­chen­den Abwe­sen­heit des Staa­tes hat die unga­ri­sche Zivil­ge­sell­schaft beacht­li­ches geleis­tet. So betreibt etwa die Grup­pe »Migra­ti­on Aid« in Buda­pest ein Auf­nah­me­zen­trum mit einer Kapa­zi­tät von 300 Bet­ten. Auch die luthe­ri­sche Kir­che hat ein Hilfs­zen­trum eröff­net, wel­ches 180 aus der Ukrai­ne geflüch­te­te Fami­li­en mit Sach- und Lebens­mit­tel­spen­den ver­sorgt. Weit­aus mehr ste­hen auf der Warteliste.

Anders als in Ungarn gab es in Rumä­ni­en mit Beginn des Kriegs von Sei­ten der Regie­rung eine gro­ße Bereit­schaft, mit loka­len NGOs und dem UNHCR zusam­men­zu­ar­bei­ten. Dies zeigt sich in Buka­rest auch in dem zen­tra­len Ankunfts­zen­trum, das sich auf dem Mes­se­ge­län­de befin­det. Ver­schie­dens­te staat­li­che und nicht­staat­li­che Insti­tu­tio­nen arbei­ten dort gemein­sam unter einem Dach zusam­men, betrei­ben einen »Free Super­mar­ket«, in dem sich bedürf­ti­ge Ukrainer*innen mit Hygie­ne­pro­duk­ten und Lebens­mit­teln ver­sor­gen können.

Vie­le nach Rumä­ni­en geflüch­te­te Ukrainer*innen haben mit Armut zu kämp­fen, denn bis­her haben nur etwa 5.000 Men­schen eine Arbeit gefun­den. Auch wenn sich sicher­lich nicht mehr alle der ins­ge­samt knapp über 100.000 Ukrainer*innen, denen bis­her tem­po­rä­rer Schutz gewährt wur­de, in Rumä­nen auf­hal­ten, so ist dies den­noch eine äußerst nied­ri­ge Beschäf­ti­gungs­quo­te. Wer kei­ner Arbeit nach­geht, bekommt in Rumä­ni­en nur wenig finan­zi­el­le Unter­stüt­zung: Die Unter­stüt­zung durch das »Cash-Pro­gram« des UNHCR ist auf drei Mona­te begrenzt und die staat­li­che Sozi­al­hil­fe beträgt nur 30 Euro im Monat, das Kin­der­geld gera­de ein­mal 40 Euro. Zudem ist für die Bean­tra­gung eine offi­zi­el­le Mel­de­adres­se Vor­aus­set­zung, die vie­le Ukrainer*innen nicht vor­wei­sen kön­nen. Über kei­ne offi­zi­el­le Mel­de­adres­se zu ver­fü­gen, führt dar­über hin­aus zu Pro­ble­men bei der Arbeitsplatzsuche.

Zudem kön­nen ukrai­ni­sche Kin­der rumä­ni­sche Schu­len ohne offi­zi­el­le Mel­de­adres­se nur als »Gäs­te« besu­chen und bekom­men kei­ne Zeug­nis­se. Für sie besteht unter Ver­weis auf den Online-Unter­richt aus der Ukrai­ne kei­ne Schul­pflicht. In Ver­bin­dung mit der Sprach­bar­rie­re und der Hoff­nung vie­ler Eltern, bald in die Ukrai­ne zurück­keh­ren zu kön­nen, führt dies dazu, dass nur ein klei­ner Bruch­teil der Kin­der eine rumä­ni­sche Schu­le besucht. Zu Beginn des lau­fen­den Schul­jah­res hat gera­de ein­mal eines von zehn ukrai­ni­schen Kin­dern eine rumä­ni­sche Schu­le oder einen Kin­der­gar­ten besucht.

Trotz die­ser offen­sicht­li­chen Pro­ble­me ist posi­tiv her­vor­zu­he­ben, dass in Rumä­ni­en nur sehr weni­ge Ukrainer*innen in Sam­mel­un­ter­künf­ten leben. Maß­geb­lich dazu bei­getra­gen hat ein staat­li­ches Pro­gramm, das die Auf­nah­me von ukrai­ni­schen Kriegs­flücht­lin­gen in pri­va­ten Haus­hal­ten, Pen­sio­nen und Stu­die­ren­den­hei­men för­dert: Für Unter­kunft und Ver­le­gung kann, wenn gewis­se Stan­dards erfüllt sind, eine Kom­pen­sa­ti­on von knapp 15 Euro pro Tag und Per­son bean­tragt werden.

Unter­brin­gungs­an­ge­bo­te kön­nen über eine Online­platt­form ein­ge­reicht wer­den, in der sich auch woh­nungs­su­chen­de Ukrainer*innen regis­trie­ren kön­nen. Die App wur­de von der NGO »Code for Roma­nia« ent­wi­ckelt und wird in enger Koope­ra­ti­on mit den rumä­ni­schen Behör­den, dem rumä­ni­schen Flücht­lings­rat, dem UNHCR und wei­te­ren Orga­ni­sa­tio­nen betrie­ben. So ist es mög­lich, dort veri­fi­zier­te und aktua­li­sier­te Infor­ma­tio­nen, die für ukrai­ni­sche Kriegs­flücht­lin­ge rele­vant sind, zur Ver­fü­gung zu stel­len – auf Ukrai­nisch, Rumä­nisch, Rus­sisch und Eng­lisch. Die Online­platt­form, auf der sich auch eine Job­bör­se befin­det, kann sicher­lich als Vor­bild für eine zeit­ge­mä­ße und digi­ta­le Unter­stüt­zung von Geflüch­te­ten gel­ten, wie sie auch in ande­ren Staa­ten wün­schens­wert wäre.

Bis­her wer­den die etwa 100.000 ukrai­ni­schen Kriegs­flücht­lin­ge, die sich laut offi­zi­el­len Anga­ben in Mol­dau auf­hal­ten, ledig­lich »gedul­det«. Da das Land kein EU-Mit­glied ist, gilt die Richt­li­nie über den vor­über­ge­hen­den Schutz in Mol­dau nicht. Es wur­de ledig­lich eine Rege­lung ein­ge­führt, die vor­sieht, dass sich ukrai­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge, solan­ge in Mol­dau auf­hal­ten dür­fen, wie der lan­des­wei­te Not­stand gilt, der alle paar Mona­te von der Regie­rung ver­län­gert wird. Ukrai­ni­sche Kriegs­flücht­lin­ge haben hier zwar weit­rei­chen­de Rech­te (wie etwa Zugang zum Arbeits­markt und zu Gesund­heits­ver­sor­gung), aller­dings dür­fen ukrai­ni­sche Kin­der mol­daui­sche Schu­len bis­her nur als Gastschüler*in besu­chen. Aktu­ell besu­chen gera­de ein­mal 2.000 ukrai­ni­sche Kin­der eine Schu­le – eine äußerst nied­ri­ge Zahl, wenn man bedenkt, dass etwa die Hälf­te der ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten in Mol­dau min­der­jäh­rig ist.

Auch in Mol­dau sind die meis­ten ukrai­ni­schen Kriegs­flücht­lin­ge in Pri­vat­un­ter­künf­ten unter­ge­kom­men. Dies liegt nicht zuletzt dar­an, dass vie­le Ukrainer*innen Ver­wand­te und Freun­de in Mol­dau haben – vor allem, wenn sie aus der Grenz­re­gi­on stam­men. Hin­zu kommt, dass es auch in Mol­dau eine Wel­le der Soli­da­ri­tät gab und vie­le Men­schen ihre Türen für Geflüch­te­te geöff­net haben. Weni­ger als 3.000 Men­schen leben in den lan­des­weit etwa 70 Sam­mel­un­ter­künf­ten, die von der Regie­rung, Gemein­den, NGOs und Kir­chen betrie­ben wer­den. Für die pri­va­te Auf­nah­me von bis zu fünf Per­so­nen kann alle sechs Wochen ein Zuschuss von ins­ge­samt knapp 200 Euro beim »World Food Pro­gram­me« bean­tragt werden.

Zudem bekom­men Fami­li­en monat­lich 110 Euro pro Fami­li­en­mit­glied über das »Cash-Pro­gram« des UNHCR. Auch beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Ein­zel­per­so­nen sind antrags­be­rech­tigt. Die Zah­lung wird vom UNHCR auf eine Pre­paid-Kar­te über­wie­sen, die aus­schließ­lich in Mol­dau ver­wen­det wer­den kann. Aktu­ell erhal­ten rund 65.000 Men­schen monat­li­che Zah­lun­gen, mit­tel­fris­tig strebt der UNHCR jedoch die Ein­stel­lung des Pro­gramms an.

Äußerst erfreu­lich ist, dass sich die mol­daui­sche Regie­rung nach lan­gem Zögern dazu ent­schie­den hat, einen an dem vor­über­ge­hen­den Schutz ori­en­tier­ten Auf­ent­halts­ti­tel für ukrai­ni­sche Kriegs­flücht­lin­ge ein­zu­füh­ren. Es wird damit gerech­net, dass die neue Rege­lung zum 1. März 2023 in Kraft tritt. Bei der Ver­sor­gung der ukrai­ni­schen Kriegs­flücht­lin­ge wird Mol­dau, das sich in gro­ßen finan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten befin­det und unter rus­si­scher Ein­fluss­nah­me zu lei­den hat, jedoch auch wei­ter­hin drin­gend auf die Unter­stüt­zung durch inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen und die EU ange­wie­sen sein.

Erfolgsmodell »vorübergehender Schutz«?

Ein Jahr nach der Akti­vie­rung der Richt­li­nie zum vor­über­ge­hen­den Schutz zeigt sich immer deut­li­cher, dass sich die­ser Schritt bewährt hat. Und dies nicht nur in Deutsch­land, son­dern auch auf euro­päi­scher Ebe­ne und hier ins­be­son­de­re in den ost­eu­ro­päi­schen Nach­bar­staa­ten der Ukrai­ne. Wären ukrai­ni­sche Geflüch­te­te ins Asyl­ver­fah­ren gedrängt wor­den, wären lang­wie­ri­ge Ver­fah­ren, Arbeits­ver­bo­te, über­füll­te Lager und gro­ßer Streit um eine gerech­te Ver­tei­lung inner­halb der EU wohl trau­ri­ge Rea­li­tät geworden.

In den ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten wur­den die geflüch­te­ten Ukrainer*innen wei­test­ge­hend freund­lich emp­fan­gen und auf­ge­nom­men. Die wenigs­ten müs­sen in Sam­mel­un­ter­künf­ten leben, die meis­ten sind pri­vat unter­ge­kom­men. Maß­geb­lich dazu bei­getra­gen haben staat­li­che Pro­gram­me, wel­che die pri­va­te Auf­nah­me gezielt geför­dert haben. Auch ist die Bedeu­tung direk­ter finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung, wie sie der UNHCR zur Ver­fü­gung gestellt hat und zum Teil immer noch anbie­tet, kaum hoch genug ein­zu­schät­zen. Dies auch vor dem Hin­ter­grund, dass die Sozi­al­leis­tun­gen in den ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten ver­gleichs­wei­se gering sind und oft nicht aus­rei­chen, um den Lebens­un­ter­halt bestrei­ten zu können.

Trotz aller Her­aus­for­de­run­gen muss die Auf­nah­me von fast fünf Mil­lio­nen ukrai­ni­schen Kriegs­flücht­lin­gen inner­halb nur eines Jah­res als Erfolg gewer­tet wer­den. Ent­schei­dend für die­sen Erfolg ist, dass die Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne den Staat ihrer Auf­nah­me selbst wäh­len kön­nen. Dabei hat sich auch gezeigt, dass es schlicht­weg ein Mythos ist, dass Geflüch­te­te vor allem in jenen Staa­ten Zuflucht suchen, in denen die Sozi­al­leis­tun­gen vor­geb­lich am höchs­ten sind. Viel wich­ti­ger schei­nen fami­liä­re und bekannt­schaft­li­che Netz­wer­ke, sprach­li­che Nähe und Chan­cen auf dem Arbeits­markt zu sein. Nur so lässt sich erklä­ren, war­um mit Abstand am meis­ten Ukrainer*innen in Polen Schutz ersucht haben. Es bleibt zu hof­fen, dass hier­aus auch Leh­ren für die Debat­te um ein gemein­sa­mes euro­päi­sches Asyl­sys­tem gezo­gen werden.

Marc Speer (bordermonitoring.eu)

Marc Speer berich­tet im Rah­men eines gemein­sa­men Pro­jekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situa­ti­on von Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne in den Nach­bar­staa­ten der Ukraine.