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Einmarsch in Nordsyrien und »sichere Zonen«: Folgen des Deals zwischen EU und Türkei

Erdoğan marschiert in kurdische Gebiete ein, Hunderttausende werden vertrieben. Sein Plan: die Errichtung einer sogenannten »Schutzzone« und die Zwangsansiedlung syrischer Flüchtlinge. Die EU gibt sich ratlos und entsetzt – dabei hat ihr Türkei-Deal Erdoğans Treiben in Nordsyrien den Weg bereitet.
Die Europäische Union trägt Mitschuld am völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Nordsyrien und an der Vertreibung Hunderttausender dort lebender Menschen. Der Deal, den die EU vor dreieinhalb Jahren mit der Türkei abgeschlossen hat, hat Erdoğan den Freifahrtschein für den Einmarsch in kurdische Gebiete in Nordsyrien und die Errichtung sogenannter »Schutzzonen« erteilt.
Türkei-Deal spricht von »sicheren Zonen«
Zur Erinnerung: In der EU-Erklärung vom 18. März 2016 heißt es wörtlich unter Punkt 9: »Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden mit der Türkei bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien, hier insbesondere in bestimmten Zonen nahe der türkischen Grenze, zusammenarbeiten, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sichereren Zonen leben können.« (Hervorhebung der Red.)
Die aktuellen Bestrebungen Erdoğans waren vorhersehbar.
Die aktuellen Bestrebungen Erdoğans, syrische Flüchtlinge in »Schutzzonen« in Nordsyrien zu verfrachten, waren also vorhersehbar – die Unterstützung der EU hat sich Erdoğan damals gesichert. Vergeblich hatte PRO ASYL zuvor am 16. März 2016 vor dem EU-Türkei-Deal und seinen Folgen für Nordsyrien gewarnt: »Dies ist aus Sicht von PRO ASYL in höchstem Maße problematisch. Die Türkei verfolgt mit allen Mitteln das Ziel, in sich zusammenhängende kurdische Gebiete zu verhindern. Es besteht die Gefahr, dass Flüchtlinge im Spiel regionaler militärpolitischer Interessen missbraucht werden und die EU damit die argumentative Basis für militärische Interventionen der Türkei liefert«.
Blankoscheck für Erdoğan
Der befürchtete Ernstfall ist jetzt eingetreten. Erdoğan setzt seine Vorstellungen gnadenlos um: Hunderttausende werden gewaltsam aus Nordsyrien vertrieben, mit dem Ziel, in völkerrechtswidrig eroberte Gebiete syrische Flüchtlinge zwangsanzusiedeln. Mit dem EU-Türkei-Deal hat die EU Erdoğan einen Blankoscheck für den Einmarsch ausgestellt.
Angesichts der von der Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer losgetretenen Debatte um vermeintliche »sichere Zonen« in Nordsyrien, kann die EU und die Bundesregierung nur davor gewarnt werden, Erdoğans Vertreibungspolitik nun auch noch militärisch abzusichern. Ein Völkerrechtsbruch lässt sich nicht im Nachgang durch einen scheinbar völkerrechtskonformen Militäreinsatz legitimieren. Schutzzonen mit der Massenvertreibung der dort lebenden Zivilbevölkerung zu erzwingen, ist völkerrechtswidrig.
Zwangsansiedlung ist völkerrechtswidrig
Erdoğans Pläne zur Zwangsumsiedlung syrischer Flüchtlinge verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht: Nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 17. Oktober 2019 verstößt die Ansiedelung syrischer Geflüchteter in ein militärisch erobertes Gebiet gegen die Genfer Konventionen: »Besatzungsrechtlich sind jegliche Formen der Umsiedlung geschützter Personen in besetzten Gebieten untersagt (vgl. Art. 49 der 4. Genfer Konvention von 1949).«
Artikel 49 des Genfer Abkommens vom 12. August 1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten besagt wörtlich: »Einzel- oder Massenzwangsverschickungen sowie Verschleppungen von geschützten Personen aus besetztem Gebiet nach dem Gebiet der Besatzungsmacht oder dem irgendeines anderen besetzten oder unbesetzten Staates, sind ohne Rücksicht auf deren Beweggrund untersagt.«
Bereits jetzt sind rund 200.000 Menschen auf der Flucht, darunter 70.000 Kinder.
Hunderttausende auf der Flucht
Genau dies wird in Nordsyrien derzeit vorbereitet: Die türkische Offensive hat eine weitere Fluchtbewegung ausgelöst. Das International Rescue Committee schätzt, dass in Nordsyrien durch den Angriff bis zu 400.000 Menschen fliehen müssen. Bereits jetzt sind rund 200.000 Menschen auf der Flucht, darunter 70.000 Kinder.
Vertreibungsdruck auch in der Türkei
In der Türkei steigt derweil der Vertreibungsdruck auf die dort lebenden syrischen Flüchtlinge. Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur eingeschränkt ratifiziert, für syrische Staatsangehörige gilt sie nicht. Schon 2018 haben mehrere Provinzen, darunter auch Istanbul, aufgehört, Syrer*innen zu registrieren – wodurch sie ohne Status und ohne Schutz in der Türkei leben. Auch wachsen die Ressentiments gegen Flüchtlinge in der Türkei und es kommt zu Übergriffen.
Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur eingeschränkt ratifiziert, für syrische Staatsangehörige gilt sie nicht.
Der »temporäre Schutz«, den syrische Flüchtlinge anstelle einer tatsächlichen Flüchtlingsanerkennung in der Türkei haben, kann von einen Tag auf den anderen durch eine politische Entscheidung entzogen werden. Damit wären die Betroffenen schutzlos gestellt – Massenrückführungen drohen. Schon jetzt schieben türkische Behörden Syrer*innen zu Hunderten aus der Türkei nach Syrien ab, zum Teil mit zuvor in Haft erzwungenen »freiwilligen Rückkehrerklärungen«. Angesichts des bewaffneten Konflikts und der massiven politischen Verfolgung durch das Assad-Regime in Syrien, ist dies ein klarer Verstoß gegen das völkerrechtliche Abschiebungsverbot (Non-Refoulement-Gebot).
Der Bericht von Amnesty International »Sent to a War Zone« vom 25. Oktober 2019 dokumentiert, wie syrische Flüchtlinge rechtswidrig aus der Türkei nach Syrien abgeschoben werden. Die türkische Regierung etikettiert diese Abschiebungen gerne als »freiwillige Rückkehr«, Überprüfungen von Amnesty International zeichnen ein anderes Bild. Zu befürchten ist, dass die Praxis nach dem Einmarsch der Türkei in Nordsyrien und den Verhandlungen über sogenannte »sichere Zonen« nun noch weiter zunimmt.
Türkei-Deal fordert Todesopfer
Überdies hat das von der EU geförderte Grenzregime der Türkei an der Grenze zu Syrien viele Todesopfer gefordert: Wie in der Vergangenheit dokumentiert wurde, versucht die Türkei selbst mit Schüssen an der Grenze neue Flüchtlinge davon abzuhalten, in die Türkei zu fliehen – seit 2011 wurden über 430 Personen getötet.
Menschenrechte statt Deals!
Die Abschottungspolitik der EU kostet Menschenleben, führt massenhaft zu neuer Fluchtbewegung in Syrien und nimmt rücksichtslose Vertreibung von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei hin. Die Staats- und Regierungschefs der EU sind jetzt dringend aufgefordert, zu einer menschenrechtsbasierten Flüchtlings- und Migrationspolitik umzukehren und diesbezüglich die menschenverachtende Zusammenarbeit mit der Türkei Erdoğans zu beenden.
(akr/wj)
zuletzt geändert am 25.10.2019 um 13.30 Uhr