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Flüchtlinge haben in der Türkei weder Schutz noch Perspektive. Ohne Wasser und Strom harrt eine Familie aus Aleppo in einem einsturzgefährdeten Wohnhaus in einem Vorort von Istanbul aus. Foto: Shawn Baldwin / UNHCR

Vor dem EU-Türkei-Gipfel am kommenden Montag steigt der Druck der EU auf Griechenland, Schutzsuchende in die Türkei zurückzuschicken. Die NATO soll in der Ägäis dafür sorgen, dass Flüchtlingsboote die griechische Küste gar nicht erst erreichen. Doch Abschiebungen von Flüchtlingen und Zurückweisungen von Flüchtlingsbooten in die Türkei sind europa- und völkerrechtswidrig. Das zeigt ein neues Rechtsgutachten von PRO ASYL.

Der Druck auf Grie­chen­land steigt: Öster­reichs Außen­mi­nis­ter Kurz for­der­te, Grie­chen­land sol­le Flücht­lin­ge an der Wei­ter­rei­se hin­dern. Die grie­chi­sche Regie­rung steht unter Druck, die Tür­kei als „siche­ren Dritt­staat“ behan­deln will.  Die Fol­ge: Flücht­lin­ge wür­den aus Grie­chen­land wie­der in die Tür­kei abgeschoben.

Tür­kei ist kein siche­rer Drittstaat!

Die Tür­kei wird als ein Land dis­ku­tiert, in das Flücht­lin­ge pro­blem­los zurück­ge­schickt wer­den kön­nen, in der Annah­me, sie hät­ten dort bereits einen dau­er­haf­ten Schutz vor Ver­fol­gung gefun­den. Gilt ein Staat, in dem sich Flücht­lin­ge zuvor auf­ge­hal­ten haben, als „siche­rer Dritt­staat“, kön­nen sie im Asyl­ver­fah­ren abge­lehnt wer­den und auf die­sen Staat zurück­ver­wie­sen wer­den. Mit der Rea­li­tät in der Tür­kei hat dies nichts zu tun. Flücht­lin­ge dort hin zurück­zu­wei­sen hät­te fata­le Fol­gen: Schutz­su­chen­den dro­hen völ­ker­rechts­wid­ri­ge Abschie­bun­gen durch tür­ki­sche Behör­den in ihr Her­kunfts­land. Die Tür­kei ver­han­delt der­zeit Rück­nah­me­ab­kom­men mit 14 Her­kunfts­län­dern, aus denen Flücht­lin­ge kom­men – mit wel­chen, ist noch nicht bekannt. Dass es sich um Kri­sen­län­der und kei­nes­falls um siche­re Her­kunfts­län­der han­deln dürf­te, deren Situa­ti­on die Men­schen zur Flucht gezwun­gen hat, dürf­te unstrit­tig sein.

Gut­ach­ten: Kein Schutz für Flücht­lin­ge in der Türkei

PRO ASYL hat den renom­mier­ten Asyl­rechts­an­walt Dr. Rein­hard Marx beauf­tragt, ein Rechts­gut­ach­ten zu erstel­len und der Fra­ge nach­zu­ge­hen, ob die Tür­kei durch die EU-Mit­glied­staa­ten als „siche­rer Dritt­staat“ behan­delt wer­den kann. Sei­ne Ant­wort ist ein­deu­tig: Die Tür­kei ist für Flücht­lin­ge kein siche­rer Dritt­staat. Sie erhal­ten in der Tür­kei kei­nen dau­er­haf­ten Schutz­sta­tus, nicht die Rech­te aus der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on. Dr. Marx stellt fest, „dass die Tür­kei das Refou­le­ment­ver­bot weder in sei­ner Form als Zurück­wei­sungs- noch in sei­ner Form als Abschie­bungs­ver­bot ein­hält“ (S. 15). Zusam­men­fas­send kommt Marx zu dem Ergeb­nis: „Weder Art. 38 noch Art. 39 der Ver­fah­rens­richt­li­nie 2013/32/EU erlau­ben den Mit­glied­staa­ten und der Uni­on als sol­cher, Asyl­su­chen­de und Flücht­lin­ge zwangs­wei­se in die Tür­kei abzu­schie­ben, zurück­zu­wei­sen oder auf Hoher See auf­zu­grei­fen und in die Tür­kei aus­zu­schif­fen noch ent­spre­chen­de Abkom­men mit der Tür­kei abzu­schlie­ßen“ (S.17).

Siche­re Her­kunfts- und Dritt­staa­ten: die Unterschiede

In der öffent­li­chen Debat­te wer­den vie­le Punk­te mit­ein­an­der ver­mengt. Das Euro­pa­recht ermög­licht es den Mit­glied­staa­ten, unter Beach­tung bestimm­ter Grund­sät­ze, ande­re Staa­ten außer­halb der EU als siche­re Her­kunfts­län­der oder siche­re Dritt­staa­ten ein­zu­stu­fen. Das Kon­zept des „siche­ren Her­kunfts­lands“ betrifft Asyl­ver­fah­ren von tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen und ob die­se in der Tür­kei Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen aus­ge­setzt sind. Die Fra­ge des Rechts­gut­ach­tens von Dr. Marx betraf aber die Ein­stu­fung als sog. „siche­rer Dritt­staat“. Die EU-Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie regelt die­ses Kon­zept in Art. 38 und Art. 39, bei­de Arti­kel betref­fen aber ver­schie­de­ne Fallkonstellationen.

Art. 38 der Richt­li­nie betrifft Flücht­lin­ge, die sich län­ge­re Zeit in einem Dritt­staat auf­ge­hal­ten haben und dort hät­ten Schutz fin­den kön­nen. In der Tür­kei sind vie­le Flücht­lin­ge, die sich dort schon län­ger  auf­ge­hal­ten haben, bevor sie nach Euro­pa wei­ter­ge­reist sind. Auch die­se Schutz­su­chen­den möch­te die EU in die Tür­kei zurückschicken.

Art. 39 der Richt­li­nie betrifft all jene Flücht­lin­ge, die über einen Dritt­staat in die EU ein­rei­sen, also wenn ihr Flucht­weg über die­se Staa­ten führt und sie dort eben­falls Schutz fin­den könn­ten. Aktu­ell machen sich vie­le Flücht­lin­ge aus Syri­en, dem Irak, Afgha­ni­stan direkt aus ihren Her­kunfts­län­dern nach Euro­pa auf und pas­sie­ren die Tür­kei als Transitland.

Euro­pa­recht­li­che Vor­aus­set­zun­gen für einen siche­ren Drittstaat

Im Kern haben Art. 38 und 39 ver­gleich­ba­re Vor­aus­set­zun­gen. Bei­de Ein­stu­fun­gen ver­lan­gen, dass der Dritt­staat die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) ohne Vor­be­halt umge­setzt hat. Dazu muss man wis­sen: Die GFK wur­de 1951 ursprüng­lich nur für Flücht­lin­ge aus Euro­pa erlas­sen. Erst durch das Zusatz­pro­to­koll von 1967 wur­de die­ser sog. geo­gra­phi­sche Vor­be­halt zurück­ge­nom­men und die Anwend­bar­keit der GFK auf Flücht­lin­ge aus allen Staa­ten ange­wen­det. Doch eini­ge Staa­ten haben die­ses Pro­to­koll nie unter­zeich­net, auch nicht die Türkei.

Wei­ter­hin ent­hält Art. 38 die Vor­aus­set­zung, dass der Dritt­staat das Non-Refou­le­ment Ver­bot ach­tet, also Flücht­lin­ge nicht in Staa­ten abschiebt, in denen ihnen Fol­ter, Todes­stra­fe oder unmensch­li­che bzw. ernied­ri­gen­de Behand­lung droht.

Flücht­lin­gen droht in der Tür­kei die Abschie­bung und Zurückschiebung

Der Schutz vor Abschie­bun­gen und Zurück­schie­bun­gen ist für Flücht­lin­ge in der Tür­kei nicht garan­tiert. Im Rechts­gut­ach­ten von Dr. Marx wer­den Berich­te auf­ge­lis­tet, die Ver­stö­ße gegen das Refou­le­ment-Ver­bot doku­men­tie­ren (bspw. Human Rights Watch, Amnes­ty Inter­na­tio­nal und Sta­te­watch). Neben die­sen fak­ti­schen Rechts­brü­chen ist auch das tür­ki­sche Asyl­ge­setz kein Garant für Schutz vor Refou­le­ment. Dr. Marx kon­sta­tiert, „dass die Tür­kei das völ­ker­recht­lich ver­bind­li­che Refou­le­ment­ver­bot nur unzu­läng­lich umge­setzt hat und tür­ki­sches Recht es nicht ver­bie­tet, schutz­su­chen­de Flücht­lin­ge an der Gren­ze zurück­zu­wei­sen.“ (S. 12)

Flücht­lin­ge haben in der Tür­kei kei­nen Schutz nach der GFK

Die Tür­kei hat gera­de nicht die GFK ohne Vor­be­halt umge­setzt. Flücht­lin­ge aus den Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten erhal­ten dort kei­nen dau­er­haf­ten Flücht­lings­schutz. Ihnen sind ele­men­ta­re Rech­te wie zum Bei­spiel der Fami­li­en­nach­zug ver­wehrt. Dr. Marx stellt in sei­nem Gut­ach­ten fest, dass das tür­ki­sche Asyl­ge­setz nicht der Anwen­dung der GFK dient. Schon der geo­gra­phi­sche Vor­be­halt zur GFK wider­spricht der euro­pa­recht­li­chen Ein­stu­fung der Tür­kei als siche­rer Drittstaat.

Flücht­lin­ge müs­sen ihre Asyl­an­trä­ge auf euro­päi­schem Boden stel­len dürfen

Ohne­hin haben Flücht­lin­ge die Mög­lich­keit, in einem Asyl­ver­fah­ren die Annah­me zu wider­le­gen, der Dritt­staat sei in ihrer spe­zi­fi­schen Situa­ti­on sicher. Dr. Marx geht dabei nach der stän­di­gen Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te davon aus, dass Flücht­lin­ge nicht ein­fach auf Hoher See oder in den euro­päi­schen Gewäs­sern zurück­ge­wie­sen wer­den kön­nen. Viel­mehr „liegt es auf der Hand“, dass das Asyl­ver­fah­ren „nur auf [euro­päi­schem] Hoheits­ge­biet durch­ge­führt wer­den kann und einer­seits Grie­chen­land hier­durch ver­pflich­tet wird, auf­ge­grif­fe­ne Flücht­lin­ge in sein Staats­ge­biet zu ver­brin­gen, ande­rer­seits der Uni­on damit unter­sagt wird, mit der Tür­kei durch Abkom­men oder auf sons­ti­ge Wei­se zu regeln, dass die­se von den Mit­glied­staa­ten auf Hoher See auf­ge­grif­fe­ne Flücht­lin­ge ohne vor­gän­gi­ge Prü­fung der Sicher­heit durch den betref­fen­den Mit­glied­staat, also Grie­chen­land“ (S.7) zurück über­nimmt. Alle Deals mit dem Erdo­gan-Regime, die dar­auf abzie­len, Flücht­lin­ge auf ihren Boo­ten ohne Prü­fung ihres Asyl­ge­suchs sofort in die Tür­kei zurück­zu­schi­cken, sind damit völ­ker­recht­lich hinfällig.

Kei­ne Aus­la­ge­rung des Flücht­lings­schut­zes – Men­schen­rech­te sind nicht verhandelbar

Das Euro­pa­recht und Völ­ker­recht ver­bie­ten es Flücht­lin­ge in die Tür­kei zurück zu brin­gen. Für sie ist die Tür­kei kein siche­rer Staat. Neben dem Gut­ach­ten von Dr. Marx kommt auch die euro­päi­sche Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on Sta­te­watch in ihrem eng­lisch­spra­chi­gen Gut­ach­ten vom Febru­ar 2016 zum glei­chen Ergebnis.

In ihrer Regie­rungs­er­klä­rung vom 27.06.2013 erklär­te Kanz­le­rin Ange­la Mer­kel in Bezug auf einen Bei­tritt der Tür­kei zur EU: „Die Tür­kei ist ein wich­ti­ger Part­ner. Doch unse­re euro­päi­schen Wer­te der Demons­tra­ti­ons­frei­heit, der Mei­nungs­frei­heit, der Rechts­staat­lich­keit, der Reli­gi­ons­frei­heit – die gel­ten immer! Sie sind nicht ver­han­del­bar für uns!“ Man müss­te heu­te ergän­zen: Auch der Flücht­lings­schutz – der zum Kern der Rechts­staat­lich­keit gehört ‑ist nicht verhandelbar.

Der neue UN-Hoch­kom­mis­sar Filip­po Gran­di sag­te bei sei­nem Antritts­be­such in Deutsch­land in einem Inter­view mit dem Stern, 18. Febru­ar 2016: „…Aller­dings darf der Nato-Ein­satz nicht dazu die­nen, Boo­te abzu­fan­gen. Und wenn Men­schen ein­mal in Euro­pa ange­kom­men sind, darf man sie nicht mehr zurückschicken.“

PRO ASYL zum EU-Tür­kei-Gip­fel: Was zu tun wäre und was befürch­tet wer­den muss  (07.03.16)