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„Die Situation treibt einige in den Wahnsinn“
Unsere Projektpartnerinnen vom „Refugee Support Program Aegean“ (RSPA) berichten über die sich zuspitzende humanitäre Krise in Griechenland. Von den griechischen Inseln über Athen bis an die mazedonisch-griechische Grenze: Die Situation für Flüchtlinge in Griechenland ist nach wie vor katastrophal.
Das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) spricht von einer humanitären Flüchtlingskrise in Griechenland. Etwa 1.000 Fliehende gelangen im Durchschnitt täglich nach Griechenland, so die Schätzungen von UNHCR. Mehr als 100.000 Flüchtlinge sind nach UN-Angaben seit Beginn des Jahres auf dem Seeweg in Griechenland angekommen. Griechenland sei das europäische Mittelmeerland, in dem 2015 bislang die meisten Bootsflüchtlinge registriert worden seien, sagte der Sprecher des Hilfswerks UNHCR, Adrian Edwards, am 24. Juli 2015 in Genf. Etwa 60 Prozent sind Kriegsflüchtlinge aus Syrien.
„Dass die Menschen in verlassenen Gebäuden oder auf Müllfeldern sich selbst überlassen bleiben, wo kaum Zugang zu Wasser oder gar Toiletten besteht, ist einfach inakzeptabel und bringt die Gesundheit dieser Menschen in Gefahr“, beschreibt Elisabetta Faga, Koordinatorin des Noteinsatzes von Ärzte ohne Grenzen (MSF) auf Lesbos, die sich zuspitzende humanitäre Krise auf den griechischen Inseln. Die Appelle der humanitären Hilfsorganisationen vor Ort werden von Tag zu Tag dringlicher.
Bootskatastrophen und neue Ära von Push Backs?
Am 16. Juli 2015 ertranken sechs syrische Flüchtlinge auf dem Weg nach Lesbos. Unter ihnen waren auch Kinder. Das Unglück ereignete sich nur wenige Tage nachdem ein anderes Flüchtlingsboot mit etwa 40 Passagieren am 7. Juli 2015 in der Nähe von Farmakonisi in Seenot geraten war. Auch hier kamen mindestens fünf Menschen ums Leben. Über 15 gelten als vermisst.
Ein lokaler Nachrichtenblog aus Lesbos veröffentlichte am 22. Juli 2015 ein Dokument, das den internen Befehl der griechischen Küstenwache an alle nationalen Küstenwachen der Nordägäis enthält, bei Lokalisierung eines Flüchtlingsbootes sofort Maßnahmen der „Vorbeugung der Einreise“ auf griechisches Territorium einzuleiten. Die türkische Küstenwache sei zu alarmieren, damit diese sich um den Vorfall kümmere. Es ist zu befürchten, dass diese Anweisung wieder zu neuen Push Backs – oft mit Brutalität ausgeführte völkerrechtsrechtswidrige Zurückweisungen von Flüchtlingen – an der griechisch-türkischen Grenze führen wird. Aktuell häufen sich wieder Gerüchte um illegale Zurückweisungen auf See durch maskierte Beamte.
Lesbos: “Die Situation im Zeltlager ´Kara Tepe´ trieb einige in den Wahnsinn.“
Zurzeit kommen nahezu 1.000 Menschen täglich auf der Insel Lesbos an. Die meisten sind syrische Schutzsuchende, viele sind aus Afghanistan geflohen. Im Juni 2015 kamen mit insgesamt 15.000 Flüchtlingen mehr Menschen auf Lesbos an als im gesamten Vorjahr (12.187). Ein Sprecher von MSF beschrieb die Situation auf der Insel als das Schlimmste, was er je in Europa gesehen habe. Das Erstaufnahmehaftlager ist überfüllt. Rund 1.000 Menschen zelten davor. Weitere 3.000 sind provisorisch im Zeltlager Kara Tepe untergebracht.
M. ist aus Afghanistan geflohen. Mitte Juli ist die 19jährige mit ihrem 15jährigen Bruder auf Lesbos angekommen. „Wir mussten drei bis vier Stunden zur nächsten Polizeiwache laufen“, berichtet die junge Frau. Die meisten Flüchtlingsboote kommen im Norden der Insel an, etwa 40 Kilometer von der Hauptstadt Mytilene entfernt. Die Polizei weigert sich nach wie vor systematische Transfers von den Ankunftsorten zu den Stellen der Erstregistrierung durchzuführen. Die meisten Menschen müssen daher inmitten der sommerlichen Hitze und trotz Erschöpfung die rund 40 Kilometer lange Strecke zu Fuß laufen. Transportfahrten von Privatpersonen und ein von MSF organisierter Bus ersparen zumindest einigen Flüchtlingen den anstrengenden Fußmarsch.
M. erzählt weiter: „Als wir an der Haltestelle ankamen, warteten schon Dutzende andere Menschen. (…) Als die Polizei uns nach zwei Stunden abholte, wurden wir in eine alte Schwimmhalle am Hafen gebracht. Dort waren 500 bis 600 Menschen. Es roch überall nach Exkrementen. Wegen der Hitze waren wir aber gezwungen drinnen Schutz zu suchen vor der Sonne. Einige schliefen da sogar.“ Die Schwimmhalle ist mittlerweile wieder geschlossen.
„Vom Hafen brachte man uns am Abend in ein Zeltlager (Kara Tepe). Sie nannten es ´Camp´, aber es war ein karger Sandplatz mit wenig Gebüsch und Bäumen. Wir sollten entweder selbstständig eine Gruppe von 25 Menschen bilden, um eines der staatlichen Zelte belegen zu können oder uns ein eigenes Zelt für 30 Euro kaufen. Wir hatten insgesamt nur 50 Euro, aber es gab keine Alternative.“ Täglich habe ein Catering etwa 100 bis 150 Mahlzeiten gebracht, während über 1.000 Menschen auf dem Feld hausten, so M. Vor den übel riechenden Duschen habe es eine reisen Schlange und ständig Streit gegeben. „Die Situation trieb einige in den Wahnsinn. Ich habe mich kein einziges Mal gewaschen. Wir wurden dort registriert und dann entlassen.“ Schließlich gelangten sie nach Athen.
Athen: Obdachlosigkeit und Hunger im Transit
„In Athen hatten wir zunächst keine Bleibe“, berichtet M. „Wir gingen zum Victoria Platz, wo alle Afghanen sind. Die Polizei verscheuchte uns. Wir zogen in den Alexander Park um. Dort roch es unangenehm, alles war voller Müll und es gab viele Menschen, die dort Drogen konsumierten und auch verkauften.“
Viele, die nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügen oder den Dreck in den Hotels nicht aushalten, übernachten auf dem Omonia Platz oder im Park „Pedion tou Areos“ in der Athener Innenstadt. Einige der Schutzsuchenden bauen Zelte im öffentlichen Raum auf, andere schlafen unter freiem Himmel. Die Polizei führt immer wieder Kontrollen durch.
Mubarak Shah, Mitarbeiter des RSPA-Projekts von PRO ASYL, hat sich vor Ort ein Bild gemacht: „Die Situation ist äußerst kritisch. Von Seiten der Regierung gibt es keine Unterstützung. Kindern, Frauen und Männern fehlt es am Grundlegendsten: Es mangelt an Essen, Wasser und Medizin. Einige AnwohnerInnen haben begonnen, Kleider, Schuhe und andere Dinge für die Flüchtlinge zu bringen, aber das reicht bei Weitem nicht aus.“
Einige Flüchtlinge versuchen bei der Asylbehörde in Athen einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen, um zu ihren Angehörigen in anderen europäischen Ländern weiterreisen zu können. Doch die Behörde ist nach wie vor vollkommen überlastet. Wer einen Termin vereinbaren will, muss über den Onlienedienst Skype versuchen, zur Asylbehörde durchzudringen. Die Chancen stehen schlecht, denn häufig ist die Skype-Leitung überlastet.
Während das fehlende Aufnahmesystem das Leben für Flüchtlinge auch in der griechischen Hauptstadt unerträglich macht, hetzen die griechischen Massenmedien mit fremdenfeindlichen Berichten über massenweise Obdachlose, übertragbare Krankheiten und wachsende Müllhaufen, die Flüchtlinge zu verantworten hätten.
Idomeni: Humanitäre Krise an der griechisch-mazedonischen Grenze
Das Elend der Flüchtlinge setzt sich nach der Weiterflucht von den Inseln auf dem griechischen Festland fort. Den beschwerlichen Weg über Athen und Thessaloniki bis ins griechisch-mazedonische Grenzgebiet müssen die Schutzsuchenden teilweise zu Fuß bestreiten. Viele erreichen den Grenzort Idomeni völlig entkräftet. Die Menschenrechtsverletzungen an den Flüchtlingen reichen hin bis zu gewaltsamen Übergriffen durch Beamte an der mazedonischen Grenze.
A., 46 Jahre alt, war Universitätsprofessor in seiner Heimatstadt Homs in Syrien. Mitte Juni erreichte er die Insel Kos. Aufgrund der unhaltbaren Zustände flüchtete A. wie die meisten syrischen Flüchtlinge in den Norden Griechenlands, um über die Balkanroute nach Deutschland zu gelangen und dort Asyl zu beantragen. Projektmitarbeiterinnen von RSPA, die ihn auf Kos getroffen hatten, sind mit A. in Kontakt geblieben. Einen der gefährlichsten Momente auf seiner Reise erlebte er beim Übertritt der griechisch-mazedonischen Grenze. Dort hätten Beamte Warnschüsse in Richtung einer anderen Gruppe von Flüchtlingen abgefeuert und sie mit Elektroschocks verletzt, als sie versuchten auf mazedonisches Territorium zu gelangen.
“Ein Flüchtling von dieser Gruppe trug sehr schwere Verletzungen im Gesicht davon. Er musste in die Notaufnahme gebracht werden”, so A. Auch er verletzte sich während der Reise. “Es war an der griechisch-mazedonischen Grenze. Wir sind 15 bis 17 Stunden gelaufen auf den Bahnschienen, weil die Polizei zu uns sagte, wir können nur diesem Weg folgen.“ Schließlich habe er sich durch einen Stein schwer am Fuß verletzt. „Der Arzt sagte mir, ich muss mich ausruhen. Ich konnte aber nicht darauf warten bis ich gesund werde. Ich musste weiter.“ Nach 17 Tagen ist A. in Deutschland angekommen. Seine Frau und seine vier Kinder sind noch in Homs. Er hofft, dass sich die Familie bald wieder zusammenfindet.
„Warum führen die europäischen Länder keine legalen Reisemöglichkeiten ein?“
Während ihrer gefährlichen Reise durch den Balkan haben A. und seine Mitreisenden sich öfters gefragt, warum es keinen legalen Weg für sie gibt: “Warum führen die europäischen Länder keine legalen Reisemöglichkeiten ein, anstatt uns in die Arme der Schmuggler zu treiben? Wir hoffen, dass die Regierungen von Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn sich dazu verständigen, den Prozess der Umsiedlung in westeuropäischen Ländern zu erleichtern, insbesondere nach Deutschland, wo viele von uns ihre Freunde und Familien haben, anstatt bewaffnete Kontrollen durchzuführen und Barrieren zu bauen wie Zäune. Wir hoffen, dass unsere Worte die Ohren der EU-Regierungen erreichen. Wir sind auf der Suche nach Frieden für die Zukunft unserer Kinder.“
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