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Flüchtlinge auf der griechischen Insel Kos in einem Matratzenlager in einem leerstehenden Gebäude. Schutzsuchende, die auf den griechischen Inseln stranden, bleiben sich selbst überlassen, viele leben auf der Straße. Foto: Christina Palitzsch

Unsere griechischen und türkischen Projektpartner vom Refugee Support Program Aegean (RSPA) sind an den Grenzen ihrer Kapazitäten, ihr aktueller Bericht ist dramatisch: Weit über 48.000 Bootsflüchtlinge sind bis Ende Mai 2015 bereits auf den griechischen Inseln angelandet, mindestens 23 Menschen starben – es herrscht ein humanitärer Notstand.

Auf den grie­chi­schen Inseln spie­len sich täg­lich Dra­men ab. Min­des­tens 23 Men­schen ver­lo­ren seit Anfang des Jah­res auf der Flucht über die Ägä­is ihr Leben. Die ankom­men­den Flücht­lin­ge fin­den kei­ne funk­tio­nie­ren­den Auf­nah­me­struk­tu­ren vor, sie müs­sen unter frei­em Him­mel aus­har­ren, vie­le wer­den nach wie vor direkt nach ihrer Ankunft inhaf­tiert. Eine staat­lich orga­ni­sier­te und koor­di­nier­te Kri­sen­in­ter­ven­ti­on gibt es nicht. Flücht­lin­ge und Ein­hei­mi­sche wer­den glei­cher­ma­ßen mit der Situa­ti­on allein gelassen.

Davon berich­ten unse­re Pro­jekt­part­ner des Refu­gee Sup­port Pro­gram Aege­an (RSPA), die auf den grie­chi­schen Inseln sowie in der Tür­kei grenz­über­schrei­tend huma­ni­tä­re Hil­fe leis­ten, in vie­len Ein­zel­fäl­len recht­lich inter­ve­nie­ren und die dra­ma­ti­sche Ent­wick­lung in der Ägä­is dokumentieren.

Aktu­ell infor­miert das RSPA-Team mit einem News­let­ter über die die poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen in Grie­chen­land, die Situa­ti­on an der grie­chisch-tür­ki­schen Gren­ze und ihre Arbeit im Rah­men des von PRO ASYL initi­ier­ten und koor­di­nier­ten Projekts.

60 Kilo­me­ter Fuß­marsch, um sich fest­neh­men zu lassen

„Über­all wo man hin­geht sieht man Flücht­lin­ge auf der Stra­ße lau­fen. Zu jeder Tages­zeit. Die Situa­ti­on ist außer Kon­trol­le. Hoch­schwan­ge­re Frau­en, behin­der­te Men­schen, alte Men­schen… alle lau­fen zu Fuß mehr als 60 Kilo­me­ter von Moly­vos im Nor­den der Insel bis zur Haupt­stadt Myti­le­ne, um die Poli­zei­sta­ti­on zu errei­chen und sich dort fest­neh­men zu las­sen. Nur dann kön­nen sie regis­triert wer­den und ihre Rei­se fort­set­zen”. So beschreibt Efi Latsou­di, Mit­ar­bei­te­rin des PRO ASYL-Pro­jekts Refu­gee Sup­port Pro­gram­me in the Aege­an (RSPA) die aktu­el­le Situa­ti­on auf der Insel.

Efi Latsou­di schätzt, dass sich Mit­te Juni mehr als 2.500 Flücht­lin­ge und Migran­ten auf der Insel befin­den. Ein Groß­teil die­ser Men­schen ver­harrt im Hafen­ge­län­de von Myti­le­ne unter offe­nem Him­mel, ohne sani­tä­re Ein­rich­tun­gen, ohne Ver­pfle­gung und ohne medi­zi­ni­sche Versorgung.

Ins­ge­samt hat sich die Zahl der Ankünf­te auf den Inseln im Ver­gleich zum Vor­jahr ver­fünf­facht: 26.969 Men­schen wur­den nach Anga­ben der grie­chi­schen Poli­zei an der tür­kisch-grie­chi­schen Gren­ze im ers­ten Quar­tal 2015 auf­ge­grif­fen. Im glei­chen Zeit­raum 2014 waren es 5.098 Flücht­lin­ge. Der Groß­teil der Flücht­lin­ge stammt aus Syri­en und Afgha­ni­stan. Die meis­ten von ihnen neh­men den ris­kan­ten Flucht­weg mit dem Boot über die Ägä­is. Ledig­lich 473 Men­schen wur­den an der streng bewach­ten Land­gren­ze aufgegriffen.

Hel­fer von Flücht­lin­gen wer­den kriminalisiert

Flücht­lin­ge, die auf Les­bos stran­den, müs­sen, um sich regis­trie­ren las­sen zu kön­nen, nach Myti­le­ne gelan­gen. Schutz­su­chen­de – von denen ein Groß­teil in der Nähe des Küs­ten­orts Moly­vos ankom­men – lau­fen, wie von Latsou­di beschrie­ben, den 60-Kilo­me­ter lan­gen Weg bis in die Haupt­stadt. Zu Fuß. Denn für Bus­fah­rer, Taxi­fah­rer und pri­va­te Auto­fah­rer ist es straf­bar, Flücht­lin­ge zu transportieren.

Die Group of Lawy­ers for the rights of migrants and refu­gees sowie Soli­da­rida­ri­täts­grup­pen von ver­schie­de­nen ägäi­schen Inseln haben offe­ne Brie­fe an die Lokal­be­hör­den ver­fasst und for­dern, die Kri­mi­na­li­sie­rung des Trans­ports von Flücht­lin­gen zu been­den. Denn gro­ße Tei­le der Zivil­ge­sell­schaft zei­gen sich hilfs­be­reit gegen­über den Schutz­su­chen­den – wer­den aber von der unsäg­li­chen Kri­mi­na­li­sie­rungs­stra­te­gie dar­an gehin­dert, den Flücht­lin­gen den unzu­mut­ba­ren Gewalt­marsch zu ersparen.

Kei­ne Auf­nah­me­struk­tur in Griechenland

Grie­chen­land sieht sich nicht in der Lage, auf die hohe Zahl von Flücht­lin­gen ange­mes­sen zu reagie­ren. Inseln der Nord­ägä­is wie Les­vos, Samos oder Chi­os haben weder aus­rei­chend räum­li­che Kapa­zi­tä­ten noch genü­gend Per­so­nal für die Regis­trie­rung und Ver­sor­gung der Men­schen. Zum Teil wer­den die Betrof­fe­nen nicht nur sich selbst über­las­sen, son­dern gar inhaf­tiert:  Noch immer wer­den  auf­ge­grif­fe­ne Flücht­lin­ge anfäng­lich für eini­ge Stun­den bis zu meh­re­ren Tagen durch die Küs­ten­wa­che in Bara­cken und käfig­ar­ti­gen Kon­struk­ten (z.B. in Chi­os) oder im Frei­en (z.B. im Hafen von Myti­le­ne) festgesetzt.

Asyl­an­trags­stel­lung unmög­lich gemacht

Schaf­fen es Schutz­su­chen­de, auf den Inseln regis­triert zu wer­den und auf das Fest­land wei­ter­zu­rei­sen, ste­hen Sie dort vor dem nächs­ten Pro­blem. Für vie­le gibt es auch hier kei­ne Unter­kunft. Zudem haben die Schutz­su­chen­den schlech­te Chan­cen, ihren Asyl­an­trag zu stel­len: Vor der Asyl­be­hör­de in Athen bil­den sich täg­lich schon im Mor­gen­grau­en lan­ge Schlan­gen von War­ten­den. Zugang zur Asyl­be­hör­de zu bekom­men ist zur­zeit fast unmöglich.

Am 25. Mai wur­de bekannt gege­ben, dass wegen per­so­nel­ler Unter­be­set­zung der Behör­de neue Anträ­ge nur noch per Sky­pe auf­ge­nom­men wür­den. Nur bereits ver­ein­bar­te Inter­views wür­den noch geführt.

Wäh­rend der erfolg­lo­sen Ver­su­che, Asyl zu bean­tra­gen, gel­ten die meis­ten Betrof­fe­nen als undo­ku­men­tiert und sind in die­ser Zeit stän­dig der Gefahr einer Fest­nah­me und Inhaf­tie­rung aus­ge­setzt. Mitt­ler­wei­le kommt es des­halb fast täg­lich zu Pro­tes­ten vor der Asyl­be­hör­de. Zwi­schen Janu­ar und März 2015 regis­trier­te die Asyl­be­hör­de ledig­lich 2.992 Asyl­an­trä­ge, die meis­ten davon von Syrern (722) sowie von Afgha­nen (551) – bei gleich­zei­tig fast 27.000 Neuankünften.

Grie­chi­sche Regie­rung kün­digt Not­plan an 

Am 15. April 2015 kün­dig­te die grie­chi­sche Regie­rung einen Not­plan als Reak­ti­on auf die stark zuneh­men­den Ankünf­te von Flücht­lin­gen an. Der Plan umfasst Regie­rungs­an­ga­ben zufol­ge den Trans­fer Neu­an­kom­men­der in Auf­nah­me­ein­rich­tun­gen auf dem Fest­land, wo sie regis­triert, befragt und medi­zi­nisch unter­sucht wer­den sollen.

Im Lau­fe des nächs­ten Monats soll den Anga­ben der Regie­rung zufol­ge auf Les­vos ein zwei­tes Erst­auf­nah­me­la­ger für 250 Per­so­nen eröff­net wer­den. Auch auf Kos und Leros suche man drin­gend nach wei­te­ren Gebäu­den, die für die Erst­auf­nah­me von Flücht­lin­gen genutzt wer­den könn­ten, so die Regie­rung. Gleich­zei­tig sieht ihr Plan eine per­so­nel­le Ver­stär­kung in den Erst­auf­nah­me­zen­tren vor. Zudem soll in Athen ein zwei­tes Asyl­bü­ro eröff­net wer­den. Wann und inwie­weit die Maß­nah­men umge­setzt wer­den, ist noch unklar.

Immer mehr Tote auch auf Land­flucht­rou­te über den Balkan

Auf­grund der men­schen­un­wür­di­gen Auf­nah­me­be­din­gun­gen und der Per­spek­tiv­lo­sig­keit in Grie­chen­land sehen sich Schutz­su­chen­de gezwun­gen, in ande­re EU-Staa­ten wei­ter­zu­flie­hen – auf ille­ga­len Wegen, da die Schutz­su­chen­den im Rah­men der Dub­lin-Ver­ord­nung kein Recht haben, in ande­re EU-Staa­ten auszureisen.

In der Regel führt die Flucht­rou­te aus Grie­chen­land über Maze­do­ni­en und Ser­bi­en nach Ungarn und von dort Rich­tung Nord- und Mit­tel­eu­ro­pa. Um von Thes­sa­lo­ni­ki bis zur maze­do­ni­schen Gren­ze zu gelan­gen bleibt den Flücht­lin­gen mitt­ler­wei­le kaum etwas ande­res übrig als die Stre­cke zu Fuß zu bewäl­ti­gen – Bus­ge­sell­schaf­ten ver­wei­gern ihnen den Trans­port. Im grie­chi­schen Ido­me­ni nahe der maze­do­ni­schen Gren­ze fin­den sich täg­lich im Durch­schnitt 200 bis 300 Men­schen ein, um von dort aus über die Gren­ze nach Maze­do­ni­en zu gelangen.

Auch auf der Flucht­rou­te wei­ter Rich­tung Nor­den kommt es immer wie­der zu Todes­fäl­len: Min­des­tens 30 Men­schen ver­lo­ren ihr Leben in den letz­ten 12 Mona­ten auf der Flucht von Grie­chen­land über die Bal­kan­staa­ten. Die meis­ten von ihnen star­ben auf Eisen­bahn­glei­sen, mit deren Hil­fe Flücht­lin­ge ver­su­chen, sich zu ori­en­tie­ren und unent­deckt Brü­cken zu über­que­ren. Nach Berich­ten der grie­chi­schen Sek­ti­on von Ärz­te ohne Gren­zen kommt es in Maze­do­ni­en ver­mehrt zu gewalt­tä­ti­gen Über­grif­fen gegen­über Flüchtlingen.

Fron­tex rüs­tet auf

Bis­lang gibt es kaum Anzei­chen, dass die EU ver­sucht, die sich anbah­nen­de huma­ni­tä­re Kri­se in Grie­chen­land abzu­wen­den. Dass die EU-Staa­ten sich bereit erklä­ren, das Nahe­lie­gens­te zur Ent­schär­fung der Situa­ti­on zu tun – den in Grie­chen­land im Elend fest­sit­zen­den Flücht­lin­gen die lega­le Wei­ter­rei­se in ande­re EU-Staa­ten zu ermög­li­chen – ist nicht in Sicht. Statt auf Not­hil­fe für die Betrof­fe­nen in Grie­chen­land und eine Reform der Asyl­zu­stän­dig­keits­re­ge­lung zuguns­ten der Schutz­su­chen­den setzt die EU dar­auf, Anlan­dun­gen von Flücht­lin­gen in Grie­chen­land zu verhindern.

So soll zwi­schen Juni und Sep­tem­ber 2015, in der Hoch­sai­son der Grenz­über­trit­te, die euro­päi­sche Grenz­agen­tur Fron­tex ihre Prä­senz in der Ägä­is ver­stär­ken, unter ande­rem wird die Anzahl der im Ein­satz befind­li­chen Grenz­kon­troll­boo­te ver­drei­facht. „Wir sind besorgt wegen der Situa­ti­on in Grie­chen­land und des­halb wer­den wir unser Vor­ge­hen dort und unse­re Hil­fe an die grie­chi­schen Behör­den erwei­tern“, so Fron­tex Direk­tor Fabri­ce Leg­ge­ri am 14. Mai 2015. Die „Hil­fe für die Behör­den“ dürf­ten Hil­fen zum Schutz der Gren­zen umfas­sen – nicht Hil­fen zum Schutz der Flüchtlinge.

Wei­ter­füh­ren­de Infor­ma­tio­nen zur Situa­ti­on in Grie­chen­land fin­den Sie hier im News­let­ter des RSPA-Projekts

„Die Situa­ti­on treibt eini­ge in den Wahn­sinn“ (31.07.15)

Wie grie­chi­sche Behör­den Hel­fe­rin­nen und Hel­fer von Flücht­lin­gen kri­mi­na­li­sie­ren (14.07.15)

Elend und bru­ta­le Gewalt an der maze­do­nisch-grie­chi­schen Gren­ze (10.07.15)

Huma­ni­tä­re Kata­stro­phe in der Ägä­is: Grie­chen­land geht in die Knie – EU ver­sagt (09.07.15)

Flücht­lings­kri­se in der Ägä­is – Euro­pa lässt Grie­chen­land im Stich (16.06.15)

Grie­chen­land: Tau­sen­de Flücht­lin­ge stran­den im Elend (29.05.15)