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„Die Situation ist außer Kontrolle“ – RSPA-Bericht aus Griechenland

Unsere griechischen und türkischen Projektpartner vom Refugee Support Program Aegean (RSPA) sind an den Grenzen ihrer Kapazitäten, ihr aktueller Bericht ist dramatisch: Weit über 48.000 Bootsflüchtlinge sind bis Ende Mai 2015 bereits auf den griechischen Inseln angelandet, mindestens 23 Menschen starben – es herrscht ein humanitärer Notstand.
Auf den griechischen Inseln spielen sich täglich Dramen ab. Mindestens 23 Menschen verloren seit Anfang des Jahres auf der Flucht über die Ägäis ihr Leben. Die ankommenden Flüchtlinge finden keine funktionierenden Aufnahmestrukturen vor, sie müssen unter freiem Himmel ausharren, viele werden nach wie vor direkt nach ihrer Ankunft inhaftiert. Eine staatlich organisierte und koordinierte Krisenintervention gibt es nicht. Flüchtlinge und Einheimische werden gleichermaßen mit der Situation allein gelassen.
Davon berichten unsere Projektpartner des Refugee Support Program Aegean (RSPA), die auf den griechischen Inseln sowie in der Türkei grenzüberschreitend humanitäre Hilfe leisten, in vielen Einzelfällen rechtlich intervenieren und die dramatische Entwicklung in der Ägäis dokumentieren.
60 Kilometer Fußmarsch, um sich festnehmen zu lassen
„Überall wo man hingeht sieht man Flüchtlinge auf der Straße laufen. Zu jeder Tageszeit. Die Situation ist außer Kontrolle. Hochschwangere Frauen, behinderte Menschen, alte Menschen… alle laufen zu Fuß mehr als 60 Kilometer von Molyvos im Norden der Insel bis zur Hauptstadt Mytilene, um die Polizeistation zu erreichen und sich dort festnehmen zu lassen. Nur dann können sie registriert werden und ihre Reise fortsetzen”. So beschreibt Efi Latsoudi, Mitarbeiterin des PRO ASYL-Projekts Refugee Support Programme in the Aegean (RSPA) die aktuelle Situation auf der Insel.
Efi Latsoudi schätzt, dass sich Mitte Juni mehr als 2.500 Flüchtlinge und Migranten auf der Insel befinden. Ein Großteil dieser Menschen verharrt im Hafengelände von Mytilene unter offenem Himmel, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Verpflegung und ohne medizinische Versorgung.
Insgesamt hat sich die Zahl der Ankünfte auf den Inseln im Vergleich zum Vorjahr verfünffacht: 26.969 Menschen wurden nach Angaben der griechischen Polizei an der türkisch-griechischen Grenze im ersten Quartal 2015 aufgegriffen. Im gleichen Zeitraum 2014 waren es 5.098 Flüchtlinge. Der Großteil der Flüchtlinge stammt aus Syrien und Afghanistan. Die meisten von ihnen nehmen den riskanten Fluchtweg mit dem Boot über die Ägäis. Lediglich 473 Menschen wurden an der streng bewachten Landgrenze aufgegriffen.
Helfer von Flüchtlingen werden kriminalisiert
Flüchtlinge, die auf Lesbos stranden, müssen, um sich registrieren lassen zu können, nach Mytilene gelangen. Schutzsuchende – von denen ein Großteil in der Nähe des Küstenorts Molyvos ankommen – laufen, wie von Latsoudi beschrieben, den 60-Kilometer langen Weg bis in die Hauptstadt. Zu Fuß. Denn für Busfahrer, Taxifahrer und private Autofahrer ist es strafbar, Flüchtlinge zu transportieren.
Die Group of Lawyers for the rights of migrants and refugees sowie Solidaridaritätsgruppen von verschiedenen ägäischen Inseln haben offene Briefe an die Lokalbehörden verfasst und fordern, die Kriminalisierung des Transports von Flüchtlingen zu beenden. Denn große Teile der Zivilgesellschaft zeigen sich hilfsbereit gegenüber den Schutzsuchenden – werden aber von der unsäglichen Kriminalisierungsstrategie daran gehindert, den Flüchtlingen den unzumutbaren Gewaltmarsch zu ersparen.
Keine Aufnahmestruktur in Griechenland
Griechenland sieht sich nicht in der Lage, auf die hohe Zahl von Flüchtlingen angemessen zu reagieren. Inseln der Nordägäis wie Lesvos, Samos oder Chios haben weder ausreichend räumliche Kapazitäten noch genügend Personal für die Registrierung und Versorgung der Menschen. Zum Teil werden die Betroffenen nicht nur sich selbst überlassen, sondern gar inhaftiert: Noch immer werden aufgegriffene Flüchtlinge anfänglich für einige Stunden bis zu mehreren Tagen durch die Küstenwache in Baracken und käfigartigen Konstrukten (z.B. in Chios) oder im Freien (z.B. im Hafen von Mytilene) festgesetzt.
Asylantragsstellung unmöglich gemacht
Schaffen es Schutzsuchende, auf den Inseln registriert zu werden und auf das Festland weiterzureisen, stehen Sie dort vor dem nächsten Problem. Für viele gibt es auch hier keine Unterkunft. Zudem haben die Schutzsuchenden schlechte Chancen, ihren Asylantrag zu stellen: Vor der Asylbehörde in Athen bilden sich täglich schon im Morgengrauen lange Schlangen von Wartenden. Zugang zur Asylbehörde zu bekommen ist zurzeit fast unmöglich.
Am 25. Mai wurde bekannt gegeben, dass wegen personeller Unterbesetzung der Behörde neue Anträge nur noch per Skype aufgenommen würden. Nur bereits vereinbarte Interviews würden noch geführt.
Während der erfolglosen Versuche, Asyl zu beantragen, gelten die meisten Betroffenen als undokumentiert und sind in dieser Zeit ständig der Gefahr einer Festnahme und Inhaftierung ausgesetzt. Mittlerweile kommt es deshalb fast täglich zu Protesten vor der Asylbehörde. Zwischen Januar und März 2015 registrierte die Asylbehörde lediglich 2.992 Asylanträge, die meisten davon von Syrern (722) sowie von Afghanen (551) – bei gleichzeitig fast 27.000 Neuankünften.
Griechische Regierung kündigt Notplan an
Am 15. April 2015 kündigte die griechische Regierung einen Notplan als Reaktion auf die stark zunehmenden Ankünfte von Flüchtlingen an. Der Plan umfasst Regierungsangaben zufolge den Transfer Neuankommender in Aufnahmeeinrichtungen auf dem Festland, wo sie registriert, befragt und medizinisch untersucht werden sollen.
Im Laufe des nächsten Monats soll den Angaben der Regierung zufolge auf Lesvos ein zweites Erstaufnahmelager für 250 Personen eröffnet werden. Auch auf Kos und Leros suche man dringend nach weiteren Gebäuden, die für die Erstaufnahme von Flüchtlingen genutzt werden könnten, so die Regierung. Gleichzeitig sieht ihr Plan eine personelle Verstärkung in den Erstaufnahmezentren vor. Zudem soll in Athen ein zweites Asylbüro eröffnet werden. Wann und inwieweit die Maßnahmen umgesetzt werden, ist noch unklar.
Immer mehr Tote auch auf Landfluchtroute über den Balkan
Aufgrund der menschenunwürdigen Aufnahmebedingungen und der Perspektivlosigkeit in Griechenland sehen sich Schutzsuchende gezwungen, in andere EU-Staaten weiterzufliehen – auf illegalen Wegen, da die Schutzsuchenden im Rahmen der Dublin-Verordnung kein Recht haben, in andere EU-Staaten auszureisen.
In der Regel führt die Fluchtroute aus Griechenland über Mazedonien und Serbien nach Ungarn und von dort Richtung Nord- und Mitteleuropa. Um von Thessaloniki bis zur mazedonischen Grenze zu gelangen bleibt den Flüchtlingen mittlerweile kaum etwas anderes übrig als die Strecke zu Fuß zu bewältigen – Busgesellschaften verweigern ihnen den Transport. Im griechischen Idomeni nahe der mazedonischen Grenze finden sich täglich im Durchschnitt 200 bis 300 Menschen ein, um von dort aus über die Grenze nach Mazedonien zu gelangen.
Auch auf der Fluchtroute weiter Richtung Norden kommt es immer wieder zu Todesfällen: Mindestens 30 Menschen verloren ihr Leben in den letzten 12 Monaten auf der Flucht von Griechenland über die Balkanstaaten. Die meisten von ihnen starben auf Eisenbahngleisen, mit deren Hilfe Flüchtlinge versuchen, sich zu orientieren und unentdeckt Brücken zu überqueren. Nach Berichten der griechischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen kommt es in Mazedonien vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber Flüchtlingen.
Frontex rüstet auf
Bislang gibt es kaum Anzeichen, dass die EU versucht, die sich anbahnende humanitäre Krise in Griechenland abzuwenden. Dass die EU-Staaten sich bereit erklären, das Naheliegenste zur Entschärfung der Situation zu tun – den in Griechenland im Elend festsitzenden Flüchtlingen die legale Weiterreise in andere EU-Staaten zu ermöglichen – ist nicht in Sicht. Statt auf Nothilfe für die Betroffenen in Griechenland und eine Reform der Asylzuständigkeitsregelung zugunsten der Schutzsuchenden setzt die EU darauf, Anlandungen von Flüchtlingen in Griechenland zu verhindern.
So soll zwischen Juni und September 2015, in der Hochsaison der Grenzübertritte, die europäische Grenzagentur Frontex ihre Präsenz in der Ägäis verstärken, unter anderem wird die Anzahl der im Einsatz befindlichen Grenzkontrollboote verdreifacht. „Wir sind besorgt wegen der Situation in Griechenland und deshalb werden wir unser Vorgehen dort und unsere Hilfe an die griechischen Behörden erweitern“, so Frontex Direktor Fabrice Leggeri am 14. Mai 2015. Die „Hilfe für die Behörden“ dürften Hilfen zum Schutz der Grenzen umfassen – nicht Hilfen zum Schutz der Flüchtlinge.
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