News
Das Sterben geht weiter: Zehn Jahre nach den Schiffsunglücken von Lampedusa
Zehn Jahre ist es her, dass bei zwei Schiffsunglücken vor Lampedusa innerhalb von acht Tagen mehr als 600 Menschen starben. Nie wieder dürfe das passieren, forderten damals Politiker*innen. Doch das Sterben geht weiter: Die EU nimmt mit ihrem aktuellen Kurs der Abschreckung, Abschottung und Auslagerung von Grenzen jeden Tag weitere Tote in Kauf.
Am 11. Oktober 2013 flohen etwa 400 Menschen auf einem Boot aus Libyen. Die meisten von ihnen kamen aus Syrien und Palästina. Die Schutzsuchenden wurden von einem libyschen Schnellboot verfolgt, das mehrere Schüsse auf das Schiff abfeuerte, sodass Wasser in das Boot eindrang. Die Menschen setzten ihre Fahrt Richtung Norden fort.
Über fünf Stunden hinweg setzten die Menschen auf dem Boot verzweifelte Notrufe über ein Satelliten-Telefon an die Küstenwachen in Italien und Malta ab, doch beide wiesen die Zuständigkeit von sich. Ein nur 17 Seemeilen entferntes italienisches Marineschiff wurde von der italienischen Seenotrettungs-Einsatzzentrale vorsätzlich nicht zum Unfallort geschickt. Als die Rettungskräfte schließlich nach mehreren Stunden eintrafen, waren bereits 268 Menschen ertrunken, darunter 60 Kinder.
Left-to-die: Auf der Suche nach Gerechtigkeit
Dabei hätten alle Menschen auf dem Boot gerettet werden können, wenn die italienischen Behörden die Seenotrettung sofort eingeleitet hätten, so das Ergebnis der Recherchen des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti. Auf die Veröffentlichungen des PRO ASYL Menschenrechtspreisträgers folgten Ermittlungen und ein jahrelanger Prozess. Auch das Monitoring-Projekt »Watch the Med« hatte die Ereignisse vom 11. Oktober akribisch rekonstruiert.
Im Dezember 2022, also mehr als neun Jahre nach dem Schiffsunglück, urteilte der Gerichtshof in Rom, dass die Offiziere der italienischen Küstenwache und der Marine für das unterlassene Eingreifen verantwortlich sowie des Totschlags und der Fahrlässigkeit schuldig sind. Die beiden Angeklagten entgingen letztlich jedoch einer Verurteilung, weil der Fall inzwischen verjährt ist. PRO ASYL hatte das Verfahren in Rom aus Mitteln der internationalen Rechtshilfe unterstützt.
Lampedusa 2013: Kein Wendepunkt für die EU-Flüchtlingspolitik
Bei einem weiteren Schiffsunglück vor Lampedusa waren wenige Tage zuvor, am 3. Oktober 2013, bereits mehr als 360 Geflüchtete kurz vor der italienischen Küste ertrunken. Die meisten Menschen kamen aus Somalia und Eritrea, viele von ihnen waren libyschen Folterlagern entflohen. Ihr Boot mit etwa 545 Geflüchteten an Bord hatte Feuer gefangen und war gekentert.
Bilder von den aufgereihten Särgen gingen damals um die Welt. Es gab einen öffentlichen Aufschrei, Politiker*innen zeigten sich betroffen. »Europa kann nicht akzeptieren, dass viele tausend Menschen an seinen Grenzen umkommen«, so José Manuel Barroso, damaliger Präsident der Europäischen Kommission nach dem Unglück. Und: »So eine Katastrophe darf es nicht wieder geben«. »Lampedusa muss ein Wendepunkt für die europäische Flüchtlingspolitik sein«, forderte auch Martin Schulz, damaliger Präsident des Europa-Parlaments, Ende Oktober 2013.
Schiffsunglück vor Lampedusa – 07.08.2023
Zwar lancierte die damalige sozialdemokratische Regierung in Italien kurz nach den beiden Schiffsunglücken vor Lampedusa die Operation »Mare Nostrum« und rettete rund 150.000 Menschen vor dem Ertrinken. Doch wegen mangelnder finanzieller Unterstützung durch die EU wurde diese proaktive Rettungsmission ein Jahr später nicht verlängert. Stattdessen folgten der Ausbau von Frontex und der Überwachung des Mittelmeers sowie EU-Operationen, deren Fokus auf der »Sicherung der Grenzen« und »Schleuserbekämpfung« lag, und nicht auf der Rettung von Menschenleben.
Ein wirklicher Wendepunkt in der Flüchtlingspolitik blieb aus: Seit 2014 starben laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) über 28.000 Menschen im Mittelmeer – die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein. Bis heute gibt es weder eine staatlich koordinierte europäische Seenotrettung, noch sichere Fluchtwege oder ein solidarisches europäisches Aufnahmesystem.
Civil Fleet: Zivilgesellschaft gegen das Sterben
Wo staatliche Akteure versagen, springt die Zivilgesellschaft ein: Zum Jahrestag des 11. Oktobers gründete sich im Jahr 2014 das transnationale Netzwerk Alarm Phone, Menschenrechtspreisträger von PRO ASYL, das 24 Stunden für Schutzsuchende auf dem Mittelmeer erreichbar ist und Druck auf Behörden ausübt, wenn Rettungen unterbleiben. Zudem versuchen zivile Seenotrettungsorganisationen mit mittlerweile rund 22 Schiffen und drei Flugzeugen tagtäglich, als zivile Flotte das Rettungs- und Verantwortungsvakuum im Mittelmeer zu füllen.
Dabei werden sie insbesondere von Italien massiv behindert. Im August 2023 warnten 56 Organisationen eindringlich vor den tödlichen Folgen, die die Behinderung und Festsetzung von NGO-Schiffen für die zivilen Such- und Rettungsmaßnahmen haben: Weniger Rettungsmaßnahmen bedeuten, dass mehr Menschen im Mittelmeer ihr Leben verlieren.
Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung
Die Postfaschistin Giorgia Meloni hatte im Wahlkampf versprochen, die Fluchtroute über das Mittelmeer zu schließen. Unter anderem mit dem Piantedosi Dekret und der seit Dezember 2022 gängigen Praxis italienischer Behörden, unnötig weit entfernte Häfen für die Ausschiffung von Überlebenden zuzuweisen, werden Rettungskräfte bewusst gebunden.
Dabei wurden nur rund acht Prozent der in diesem Jahr an italienischen Küsten ankommenden Geflüchteten von NGO-Schiffen nach Italien gebracht, die meisten Schutzsuchenden kommen autonom an oder werden von der italienischen Küstenwache bzw. Guardia di Finanza gerettet. Doch Meloni möchte Härte demonstrieren und Ergebnisse vorzeigen können.
Die EU macht derweil keine Anstalten, das Sterben im Mittelmeer zu beenden.
EU-Pakt zur Asylverhinderung
Die EU macht derweil keine Anstalten, das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Sie setzt weiterhin auf ihre Kooperation mit der sogenannten libyschen Küstenwache, deren massive Menschenrechtsverletzungen seit Jahren gut dokumentiert sind. Auch die tunesische Küstenwache, die für Misshandlungen und Pull-Backs bekannt ist, wird von der EU ausgebildet und ausgestattet, um Menschen an der Überfahrt zu hindern.
Die Bundesregierung hat im Juni 2023 der geplanten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zugestimmt, die ein Ende des Menschenrechtsschutzes und des Asylrechts bedeutet und die Situation an den EU-Außengrenzen verschärfen wird. Eine staatlich organisierte Seenotrettung ist darin ebenso wenig enthalten wie ein effektiver Solidarmechanismus bei der Aufnahme von Schutzsuchenden. Stattdessen setzt die EU auf Abwehr, Abschottung und die Auslagerung von Grenzkontrollen – wie zuletzt mit dem EU-Tunesien Deal und dem 10-Punkte-Plan der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen
In ihrem Koalitionsvertrag hatten die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP die »zivilisatorische und rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen«, bekräftigt. Zudem wurde versprochen, sich für eine »staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung« einzusetzen sowie Maßnahmen wie den Malta-Mechanismus weiterzuentwickeln.
Doch auch die Bundesregierung versuchte jüngst, die zivile Seenotrettung zu behindern – die durch das FDP-geführte Verkehrsministerium erarbeitete Änderung der Schiffssicherheitsverordnung (SchSV) würde den Einsatz von Seenotrettungsschiffen laut Seenotrettungsorganisationen dramatisch einschränken. Die regierungsinternen Abstimmungen zu der Verordnung sind derzeit noch nicht abgeschlossen.
Das Retten von Menschenleben scheint auch heute nicht selbstverständlich zu sein: Die rechtsextreme Ministerpräsidentin Giorgia Meloni beschwerte sich jüngst in einem Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz über die Pläne der deutschen Regierung, zivile Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer finanziell zu unterstützen. Die CDU und die FDP forderten daraufhin ebenfalls ein Ende der Finanzierung – denn die NGOs würden das Geschäft der Schleuserbanden erst ermöglichen, seien also mitverantwortlich dafür, dass Menschen die Flucht über das Mittelmeer wagten.
Distanzierung von öffentlicher Finanzierung der Seenotrettung
Hinter derartigen Äußerungen steht vielfach die Annahme, dass Seenotrettung ein Anreiz bzw. »Pull-Faktor« für die Flucht über das Mittelmeer sei. Dieser Mythos hält sich hartnäckig, obwohl er bereits durch zahlreiche Studien widerlegt wurde, zuletzt im Rahmen eines Projekts am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).
10 Jahre nach dem Verbrechen vom 11. Oktober 2013 dominiert nicht das Gedenken an die Toten und kein »nie wieder« den Diskurs, sondern der Ruf nach mehr Abwehr von Flüchtlingen.
Dennoch gab nun auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Rechten nach und distanzierte sich öffentlich von der geplanten finanziellen Unterstützung der Seenotrettung sowie Versorgung von Geflüchteten in Italien. Das Auswärtige Amt plant nach eigenen Angaben jedoch weiterhin, den Auftrag des Bundestags zur Förderung ziviler Seenotrettung mit Projekten an Land und auf See umzusetzen. Zahlungen seien weiterhin bis 2026 vorgesehen.
Es ist bitter, dass 10 Jahre nach dem Verbrechen vom 11. Oktober 2013 in europäischen wie deutschen Debatten nicht das Gedenken an die Toten und kein »nie wieder« den Diskurs dominiert, sondern der Ruf nach mehr Abwehr von Flüchtlingen. Es scheint schon lange nicht mehr um Humanität oder Fakten zu gehen. Das Sterbenlassen wird also weitergehen.
(hk)