10.10.2023
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Tausende Menschen haben ihr Leben auf dem Weg über das Mittelmeer verloren. Einige konnten geborgen werden und haben ein Grab auf dem örtlichen Friedhof erhalten. Foto: PRO ASYL

Zehn Jahre ist es her, dass bei zwei Schiffsunglücken vor Lampedusa innerhalb von acht Tagen mehr als 600 Menschen starben. Nie wieder dürfe das passieren, forderten damals Politiker*innen. Doch das Sterben geht weiter: Die EU nimmt mit ihrem aktuellen Kurs der Abschreckung, Abschottung und Auslagerung von Grenzen jeden Tag weitere Tote in Kauf.

Am 11. Okto­ber 2013 flo­hen etwa 400 Men­schen auf einem Boot aus Liby­en. Die meis­ten von ihnen kamen aus Syri­en und Paläs­ti­na. Die Schutz­su­chen­den wur­den von einem liby­schen Schnell­boot ver­folgt, das meh­re­re Schüs­se auf das Schiff abfeu­er­te, sodass Was­ser in das Boot ein­drang. Die Men­schen setz­ten ihre Fahrt Rich­tung Nor­den fort.

Über fünf Stun­den hin­weg setz­ten die Men­schen auf dem Boot ver­zwei­fel­te Not­ru­fe über ein Satel­li­ten-Tele­fon an die Küs­ten­wa­chen in Ita­li­en und Mal­ta ab, doch bei­de wie­sen die Zustän­dig­keit von sich. Ein nur 17 See­mei­len ent­fern­tes ita­lie­ni­sches Mari­ne­schiff wur­de von der ita­lie­ni­schen See­not­ret­tungs-Ein­satz­zen­tra­le vor­sätz­lich nicht zum Unfall­ort geschickt. Als die Ret­tungs­kräf­te schließ­lich nach meh­re­ren Stun­den ein­tra­fen, waren bereits 268 Men­schen ertrun­ken, dar­un­ter 60 Kin­der.

Left-to-die: Auf der Suche nach Gerechtigkeit 

Dabei hät­ten alle Men­schen auf dem Boot geret­tet wer­den kön­nen, wenn die ita­lie­ni­schen Behör­den die See­not­ret­tung sofort ein­ge­lei­tet hät­ten, so das Ergeb­nis der Recher­chen des ita­lie­ni­schen Jour­na­lis­ten Fabri­zio Gat­ti. Auf die Ver­öf­fent­li­chun­gen des PRO ASYL Men­schen­rechts­preis­trä­gers folg­ten Ermitt­lun­gen und ein jah­re­lan­ger Pro­zess. Auch das Moni­to­ring-Pro­jekt »Watch the Med« hat­te die Ereig­nis­se vom 11. Okto­ber akri­bisch rekonstruiert.

Im Dezem­ber 2022, also mehr als neun Jah­re nach dem Schiffs­un­glück, urteil­te der Gerichtshof in Rom, dass die Offi­zie­re der ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che und der Mari­ne für das unter­las­se­ne Ein­grei­fen ver­ant­wort­lich sowie des Tot­schlags und der Fahr­läs­sig­keit schul­dig sind. Die bei­den Ange­klag­ten ent­gin­gen letzt­lich jedoch einer Ver­ur­tei­lung, weil der Fall inzwi­schen ver­jährt ist. PRO ASYL hat­te das Ver­fah­ren in Rom aus Mit­teln der inter­na­tio­na­len Rechts­hil­fe unterstützt.

Lampedusa 2013: Kein Wendepunkt für die EU-Flüchtlingspolitik

Bei einem wei­te­ren Schiffs­un­glück vor Lam­pe­du­sa waren weni­ge Tage zuvor, am 3. Okto­ber 2013, bereits mehr als 360 Geflüch­te­te kurz vor der ita­lie­ni­schen Küs­te ertrun­ken. Die meis­ten Men­schen kamen aus Soma­lia und Eri­trea, vie­le von ihnen waren liby­schen Fol­ter­la­gern ent­flo­hen. Ihr Boot mit etwa 545 Geflüch­te­ten an Bord hat­te Feu­er gefan­gen und war gekentert.

Bil­der von den auf­ge­reih­ten Sär­gen gin­gen damals um die Welt. Es gab einen öffent­li­chen Auf­schrei, Politiker*innen zeig­ten sich betrof­fen. »Euro­pa kann nicht akzep­tie­ren, dass vie­le tau­send Men­schen an sei­nen Gren­zen umkom­men«, so José Manu­el Bar­ro­so, dama­li­ger Prä­si­dent der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on nach dem Unglück. Und: »So eine Kata­stro­phe darf es nicht wie­der geben«. »Lam­pe­du­sa muss ein Wen­de­punkt für die euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik sein«, for­der­te auch Mar­tin Schulz, dama­li­ger Prä­si­dent des Euro­pa-Par­la­ments, Ende Okto­ber 2013.

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Schiffs­un­glück vor Lam­pe­du­sa – 07.08.2023

Zwar lan­cier­te die dama­li­ge sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Regie­rung in Ita­li­en kurz nach den bei­den Schiffs­un­glü­cken vor Lam­pe­du­sa die Ope­ra­ti­on »Mare Nos­trum« und ret­te­te rund 150.000 Men­schen vor dem Ertrin­ken. Doch wegen man­geln­der finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung durch die EU wur­de die­se pro­ak­ti­ve Ret­tungs­mis­si­on ein Jahr spä­ter nicht ver­län­gert. Statt­des­sen folg­ten der Aus­bau von Fron­tex und der Über­wa­chung des Mit­tel­meers sowie EU-Ope­ra­tio­nen, deren Fokus auf der »Siche­rung der Gren­zen« und »Schleu­ser­be­kämp­fung« lag, und nicht auf der Ret­tung von Men­schen­le­ben.

Ein wirk­li­cher Wen­de­punkt in der Flücht­lings­po­li­tik blieb aus: Seit 2014 star­ben laut der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM) über 28.000 Men­schen im Mit­tel­meer – die Dun­kel­zif­fer dürf­te um eini­ges höher sein. Bis heu­te gibt es weder eine staat­lich koor­di­nier­te euro­päi­sche See­not­ret­tung, noch siche­re Flucht­we­ge oder ein soli­da­ri­sches euro­päi­sches Aufnahmesystem. 

Civil Fleet: Zivilgesellschaft gegen das Sterben

Wo staat­li­che Akteu­re ver­sa­gen, springt die Zivil­ge­sell­schaft ein: Zum Jah­res­tag des 11. Okto­bers grün­de­te sich im Jahr 2014 das trans­na­tio­na­le Netz­werk Alarm Pho­ne, Men­schen­rechts­preis­trä­ger von PRO ASYL, das 24 Stun­den für Schutz­su­chen­de auf dem Mit­tel­meer erreich­bar ist und Druck auf Behör­den aus­übt, wenn Ret­tun­gen unter­blei­ben. Zudem ver­su­chen zivi­le See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen mit mitt­ler­wei­le rund 22 Schif­fen und drei Flug­zeu­gen tag­täg­lich, als zivi­le Flot­te das Ret­tungs- und Ver­ant­wor­tungs­va­ku­um im Mit­tel­meer zu füllen.

Dabei wer­den sie ins­be­son­de­re von Ita­li­en mas­siv behin­dert. Im August 2023 warn­ten 56 Orga­ni­sa­tio­nen ein­dring­lich vor den töd­li­chen Fol­gen, die die Behin­de­rung und Fest­set­zung von NGO-Schif­fen für die zivi­len Such- und Ret­tungs­maß­nah­men haben: Weni­ger Ret­tungs­maß­nah­men bedeu­ten, dass mehr Men­schen im Mit­tel­meer ihr Leben verlieren. 

Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung

Die Post­fa­schis­tin Gior­gia Melo­ni hat­te im Wahl­kampf ver­spro­chen, die Flucht­rou­te über das Mit­tel­meer zu schlie­ßen. Unter ande­rem mit dem Pian­te­do­si Dekret und der seit Dezem­ber 2022 gän­gi­gen Pra­xis ita­lie­ni­scher Behör­den, unnö­tig weit ent­fern­te Häfen für die Aus­schif­fung von Über­le­ben­den zuzu­wei­sen, wer­den Ret­tungs­kräf­te bewusst gebun­den.

Dabei wur­den nur rund acht Pro­zent der in die­sem Jahr an ita­lie­ni­schen Küs­ten ankom­men­den Geflüch­te­ten von NGO-Schif­fen nach Ita­li­en gebracht, die meis­ten Schutz­su­chen­den kom­men auto­nom an oder wer­den von der ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che bzw. Guar­dia di Finan­za geret­tet. Doch Melo­ni möch­te Här­te demons­trie­ren und Ergeb­nis­se vor­zei­gen können.

Die EU macht der­weil kei­ne Anstal­ten, das Ster­ben im Mit­tel­meer zu beenden.

EU-Pakt zur Asylverhinderung 

Die EU macht der­weil kei­ne Anstal­ten, das Ster­ben im Mit­tel­meer zu been­den. Sie setzt wei­ter­hin auf ihre Koope­ra­ti­on mit der soge­nann­ten liby­schen Küs­ten­wa­che, deren mas­si­ve Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen seit Jah­ren gut doku­men­tiert sind. Auch die tune­si­sche Küs­ten­wa­che, die für Miss­hand­lun­gen und Pull-Backs bekannt ist, wird von der EU aus­ge­bil­det und aus­ge­stat­tet, um Men­schen an der Über­fahrt zu hindern.

Die Bun­des­re­gie­rung hat im Juni 2023 der geplan­ten Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems (GEAS) zuge­stimmt, die ein Ende des Men­schen­rechts­schut­zes und des Asyl­rechts bedeu­tet und die Situa­ti­on an den EU-Außen­gren­zen ver­schär­fen wird. Eine staat­lich orga­ni­sier­te See­not­ret­tung ist dar­in eben­so wenig ent­hal­ten wie ein effek­ti­ver Soli­dar­me­cha­nis­mus bei der Auf­nah­me von Schutz­su­chen­den. Statt­des­sen setzt die EU auf Abwehr, Abschot­tung und die Aus­la­ge­rung von Grenz­kon­trol­len – wie zuletzt mit dem EU-Tune­si­en Deal und dem 10-Punk­te-Plan der Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Leyen.

Rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen

In ihrem Koali­ti­ons­ver­trag hat­ten die Ampel­par­tei­en SPD, Grü­ne und FDP die »zivi­li­sa­to­ri­sche und recht­li­che Ver­pflich­tung, Men­schen nicht ertrin­ken zu las­sen«, bekräf­tigt. Zudem wur­de ver­spro­chen, sich für eine »staat­lich koor­di­nier­te und euro­pä­isch getra­ge­ne See­not­ret­tung« ein­zu­set­zen sowie Maß­nah­men wie den Mal­ta-Mecha­nis­mus weiterzuentwickeln.

Doch auch die Bun­des­re­gie­rung ver­such­te jüngst, die zivi­le See­not­ret­tung zu behin­dern – die durch das FDP-geführ­te Ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um erar­bei­te­te Ände­rung der Schiffs­si­cher­heits­ver­ord­nung (SchSV) wür­de den Ein­satz von See­not­ret­tungs­schif­fen laut See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen dra­ma­tisch ein­schrän­ken. Die regie­rungs­in­ter­nen Abstim­mun­gen zu der Ver­ord­nung sind der­zeit noch nicht abge­schlos­sen.

Das Ret­ten von Men­schen­le­ben scheint auch heu­te nicht selbst­ver­ständ­lich zu sein: Die rechts­extre­me Minis­ter­prä­si­den­tin Gior­gia Melo­ni beschwer­te sich jüngst in einem Brief an Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz über die Plä­ne der deut­schen Regie­rung, zivi­le See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen im Mit­tel­meer finan­zi­ell zu unter­stüt­zen. Die CDU und die FDP for­der­ten dar­auf­hin eben­falls ein Ende der Finan­zie­rung – denn die NGOs wür­den das Geschäft der Schleu­ser­ban­den erst ermög­li­chen, sei­en also mit­ver­ant­wort­lich dafür, dass Men­schen die Flucht über das Mit­tel­meer wagten.

Distanzierung von öffentlicher Finanzierung der Seenotrettung

Hin­ter der­ar­ti­gen Äuße­run­gen steht viel­fach die Annah­me, dass See­not­ret­tung ein Anreiz bzw. »Pull-Fak­tor« für die Flucht über das Mit­tel­meer sei. Die­ser Mythos hält sich hart­nä­ckig, obwohl er bereits durch zahl­rei­che Stu­di­en wider­legt wur­de, zuletzt im Rah­men eines Pro­jekts am Deut­schen Zen­trum für Inte­gra­ti­ons- und Migra­ti­ons­for­schung (DeZIM).

10 Jah­re nach dem Ver­bre­chen vom 11. Okto­ber 2013 domi­niert nicht das Geden­ken an die Toten und kein »nie wie­der« den Dis­kurs, son­dern der Ruf nach mehr Abwehr von Flüchtlingen.

Den­noch gab nun auch Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) den Rech­ten nach und distan­zier­te sich öffent­lich von der geplan­ten finan­zi­el­len Unter­stüt­zung der See­not­ret­tung sowie Ver­sor­gung von Geflüch­te­ten in Ita­li­en. Das Aus­wär­ti­ge Amt plant nach eige­nen Anga­ben jedoch wei­ter­hin, den Auf­trag des Bun­des­tags zur För­de­rung zivi­ler See­not­ret­tung mit Pro­jek­ten an Land und auf See umzu­set­zen. Zah­lun­gen sei­en wei­ter­hin bis 2026 vorgesehen.

Es ist bit­ter, dass 10 Jah­re nach dem Ver­bre­chen vom 11. Okto­ber 2013 in euro­päi­schen wie deut­schen Debat­ten nicht das Geden­ken an die Toten und kein »nie wie­der« den Dis­kurs domi­niert, son­dern der Ruf nach mehr Abwehr von Flücht­lin­gen. Es scheint schon lan­ge nicht mehr um Huma­ni­tät oder Fak­ten zu gehen. Das Ster­ben­las­sen wird also weitergehen.

(hk)