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Ausverkauf der Menschenrechte: Deutschland stimmt für Aushebelung des Flüchtlingsschutzes
Beim Rat der EU-Innenminister*innen wurde sich auf eine Reform des europäischen Asylsystems geeinigt, die Haftzentren an den Außengrenzen und Abschiebungen in fast beliebige außereuropäische Staaten vorsieht. Solidarisches Aufnahmesystem? Fehlanzeige. Auch die deutsche Bundesregierung stimmte dem Ausverkauf der Menschenrechte zu
Eigentlich lagen die Mitgliedstaaten in den letzten Tagen in ihren Positionen sehr weit auseinander und deutsche Politiker*innen verkündeten vollmundig, bestimmte Aspekte der Vorschläge – wie die Inhaftierung von Kindern in Grenzverfahren – nicht mittragen zu wollen. Doch dann wurde offenbar in Luxemburg beim Rat der EU-Innenminister*innen unter hohem Einigungsdruck verhandelt und um 21 Uhr wurde gemeldet: Es steht eine Einigung zwischen einer Mehrheit der Mitgliedstaaten über die in vielen Punkten katastrophalen Vorschläge.
Angesichts der Vorschläge macht es sprachlos, dass die deutsche Innenministerin Nancy Faeser bei Twitter diesen Ausverkauf der Menschenrechte als »historischen Erfolg« verkauft.
PRO ASYL hat seit Wochen und Monaten auf die Gefahren der Asylverfahrensverordnung (AVVO) und der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (AMM-VO) hingewiesen. Mit der Einigung der Mitgliedstaaten ist der entscheidende Schritt hin zu einem tatsächlichen Gesetzesbeschluss getan. Zwar müssen die Mitgliedstaaten nun noch mit dem Europäischen Parlament verhandeln, doch ob die Reform so noch gestoppt wird, ist mehr als fraglich.
Werden durch die Reform neue Morias verhindert? Nein, aber mehr Haft wird die Zukunft sein!
Seit der Bekanntgabe der Ergebnisse versuchen Mitglieder der Bundesregierung angestrengt, die Zustimmung als Erfolg zu präsentieren. Außenministerin Annalena Baerbock lobte die Einigung, sie sei »seit Jahren überfällig, um zu verhindern, dass es wieder zu Zuständen an den EU-Außengrenzen wie in Moria kommt«. Doch das Gegenteil ist der Fall, denn durch die Reform sollen Grenzverfahren wie auf den griechischen Inseln verschärft werden. Auch nach dem geltenden Recht, das bereits verpflichtende Aufnahmestandards vorsieht, hätte es nie zu solchen Zuständen wie in dem griechischen Elendslager Moria aus Lesbos, das 2020 abbrannte, kommen dürfen. Die katastrophalen Zustände waren aber zur Abschreckung politisch gewollt – und das wird sich nicht ändern, denn es wird weiterhin nicht im Interesse der Außengrenzstaaten sein, menschenwürdige Bedingungen an ihren Außengrenzen zu gewährleisten. Denn effektive Solidarität im Sinne von Umverteilung von Flüchtlingen ist in der Reform nicht vorgesehen.
Durch den starken Fokus auf Grenzverfahren, die mit Verabschiedung der Reform verpflichtend sein werden, ist die Gefahr menschenrechtswidriger Zustände an den Außengrenzen noch größer. Während Grenzverfahren bislang nur vier Wochen dauern dürfen, wird diese Zeit auf bis zu 12 Wochen verdreifacht – mit Option der Verlängerung auf 16 Wochen für den Rechtsbehelf. Damit werden Schutzsuchende nur für das Asylverfahren schon vier Monate an den Außengrenzen festgehalten, und zwar absehbar hinter Stacheldraht und Mauern.
Während Grenzverfahren bislang nur vier Wochen dauern dürfen, wird diese Zeit auf bis zu 12 Wochen verdreifacht.
Denn während der Grenzverfahren sollen Schutzsuchende, obwohl sie eindeutig auf europäischem Territorium sind, als »nicht eingereist« gelten. Absehbar führt dies zur Inhaftierung der asylsuchenden Menschen. Unter Haftbedingungen sind aber faire Asylverfahren nicht möglich: Die Menschen sind oft noch von der Flucht traumatisiert und in einem psychischen Ausnahmezustand, eine Inhaftierung belastet sie zusätzlich und wirkt wie eine Bestrafung dafür, einen Asylantrag gestellt zu haben. Unabhängige Unterstützung für die Schutzsuchenden wird kaum möglich sein. Schon jetzt ist beispielsweise in den »geschlossenen Einrichtungen« in Griechenland der Zugang für NGOs nicht gewährleistet und selbst für Rechtsanwält*innen in der Praxis oft eingeschränkt. Unter solchen Bedingungen kommt es absehbar zu falschen Ablehnungen, was für die Betroffenen fatale Konsequenzen bis hin zur Abschiebung haben kann. Insgesamt sollen stets 30.000 Plätze für solche Grenzverfahren in der EU bereitgehalten werden. Pro Jahr können so 120.000 schutzsuchende Menschen inhaftiert werden! An das Asylgrenzverfahren schließt sich bei Ablehnung ein bis zu 12-wöchiges Abschiebungsgrenzverfahren (bis zu 18 Monate) an und dann könnte zusätzlich noch Abschiebungshaft angeordnet werden. Damit könnten Personen bis zu zwei Jahren an den Grenzen inhaftiert werden.
Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan kommen nicht in die Grenzverfahren? Doch!
Laut den Vorschlägen sollen bestimmte Personengruppen stets ins Grenzverfahren kommen. Dies soll u.a.bei Staatsangehörigen der Fall sein, bei denen die EU-weite durchschnittliche Anerkennungsquote eines Herkunftsstaates unter 20 Prozent liegt. Dazu zählten im Jahr 2021 laut EU-Asylagentur unter anderem auch Russland, Pakistan, Nigeria und Bangladesch. Diese Einstufung missachtet das individuelle Recht auf Asyl und verkennt, dass auch in »Nichtkriegsgebieten« bestimmte vulnerable Gruppen von Verfolgung bedroht sein können. Auch Kinder werden hiervon betroffen sein. Die deutsche Bundesregierung hat für keine Ausnahme gesorgt. Nur sogenannte unbegleitete Minderjährige sollen in der Regel ausgenommen werden – andere Kinder müssen mit ihren Angehörigen hinter den Stacheldraht.
Auch Kinder werden hiervon betroffen sein. Die deutsche Bundesregierung hat für keine Ausnahme gesorgt.
Das schließt aber, im Gegensatz zu dem, was Innenministerin Faeser und Außenministerin Baerbock behaupten, überhaupt nicht aus, dass auch Schutzsuchenden zum Beispiel aus Syrien oder Afghanistan in die Grenzverfahren kommen. Denn dies wäre schon der Fall, wenn sie ohne Reisepass ankommen und ihnen vorgeworfen wird, dass sie diesen absichtlich entsorgt haben. Außerdem können die Mitgliedstaaten entscheiden, das Grenzverfahren darüber hinaus noch auf weitere Asylsuchende auszuweiten – etwa auf alle Personen, die über einen angeblich »sicheren Drittstaat« gekommen sind (siehe auch Erwägungsgrund 40b der Asylverfahrensverordnung: »In other cases, such as when the applicant is from a safe country of origin or a safe third country, the use of the border procedure should be optional for the Member States«). Das würde zum Beispiel in Griechenland de facto alle syrischen und afghanischen Flüchtlinge treffen, da Griechenland die Türkei als »sicher« ansieht.
Der Flüchtlingsschutz in Europa wurde doch jetzt gerettet? Von wegen!
Die nun beschlossene Position der Mitgliedstaaten sieht die weitgehende Möglichkeit der Aushebelung des Flüchtlingsschutzes durch Deals mit außereuropäischen Drittstaaten vor. Das läuft in der Praxis wie folgt: In jedem Asylverfahren – auch in den diskutierten Grenzverfahren – kann zuallererst entschieden werden, ob ein Asylantrag überhaupt zulässig ist. Wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird unabhängig von den eigentlichen Fluchtgründen abgelehnt. Mit der Reform soll diese »Vorprüfung« stark ausgebaut werden. Denn weil die EU aktuell nicht von funktionierenden Demokratien mit guten Schutzsystemen umgeben ist, werden die Kriterien massiv gesenkt, damit unsichere Staaten für sicher erklärt werden können. Es müsste nun auch nicht mehr das ganze Land sicher sein, Teilgebiete sollen ausreichen können. Besonders dramatisch ist eine solche Zulässigkeitsprüfung in den Grenzverfahren, da in diesen Klagemöglichkeiten eingeschränkt sind und rechtliche Unterstützung nicht ausreichend vorhanden sein werden. So werden Abschiebungen in unsichere Drittstaaten und (Ketten-)Abschiebungen in die Verfolgung ins Herkunftsland möglich.
Stark diskutiert wurde bis zuletzt die Frage, welche Verbindung es zwischen der in der EU schutzsuchenden Person und dem »sicheren Drittstaat« geben muss. Hardliner wie zum Beispiel der österreichische Innenminister Karner forderten offensiv das »Ruanda-Modell«, also Asylsuchende in quasi egal welchen Drittstaat abschieben zu können, egal ob die Person das Land je betreten hat. Auch die italienische Ministerpräsidentin Meloni hatte wohl ein starkes Interesse an der Frage und ist aktuell besonders viel in Tunesien unterwegs – wohl um einen möglichen Flüchtlingsdeal anzubahnen. Beschlossen wurde jetzt, dass es weiterhin eine Verbindung geben muss, die einen Verweis auf den Schutz in dem Drittland »vernünftig« erscheinen lässt (so auch die aktuelle Formulierung der Asylverfahrensrichtlinie). Ausnahme ist, dass die Person zustimmt, in den Drittstaat zu gehen. In den Verhandlungen wurde zudem im erklärenden Erwägungsgrund betont, dass es die Mitgliedstaaten sind, die entscheiden, was eine solche Verbindung wirklich ist. Damit könnte potenziell in der nationalen Praxis von zum Beispiel Italien minimaler Gebietskontakt ausreichen, damit eine schutzsuchende Person in den Drittstaat zurückgeschickt wird. Ein »Ruanda-Modell« in der EU ist zwar so – hoffentlich – erstmal nicht möglich. Aber desaströse Deals mit allen Staaten auf den Fluchtrouten können weiterhin möglich sein, wie aktuell bereits zwischen der EU und der Türkei.
Aber jetzt gibt es doch einen Solidaritätsmechanismus? Aber ohne verpflichtende Umverteilung von Geflüchteten!
Zunächst muss festgehalten werden, dass mit der Reform wird das Grundproblem des europäischen Aufnahmesystems nicht gelöst. Denn obwohl das Dublin-System nach einhelliger Meinung gescheitert ist, wird weiterhin an dessen Grundprinzip der Verantwortung des Ersteinreisestaats festgehalten. Durch die neuen verpflichtenden Grenzverfahren werden Aufwand und Verantwortung für die Außengrenzstaaten sogar absehbar höher als bisher. Eine vergleichbare Entlastung von ihnen durch die Umverteilung von Geflüchteten ist zwischen den Mitgliedstaaten nicht beschlossen worden.
Neben dem noch strengeren Dublin-System (u.a. schnellere Abläufe für die Rücküberstellung, eingeschränkter Rechtsschutz und auch Rücküberstellung von unbegleiteten Minderjährigen) soll es zukünftig einen ziemlich komplizierten Solidaritätsmechanismus geben für den Fall, dass Mitgliedstaaten unter »Migrationsdruck« stehen. Zwar sind Mitgliedstaaten dann verpflichtet, Solidaritätsbeiträge zu leisten – aber in welcher Form wird ihnen überlassen. Und hier ist die Übernahme bzw. Umverteilung (sogenannte relocation) von Asylsuchenden oder Flüchtlingen damit gleich gestellt, einfach Geld zu zahlen, sogar an außereuropäische Drittstaaten zur Flüchtlingsabwehr. Als Ziel wird eine Umverteilung von 30.000 Menschen pro Jahr. Wenn ein Staat nicht aufnehmen will, müssen sie 20.000 € pro nicht aufgenommener Person zahlen. Damit ist eine wirksame Entlastung der Außengrenzstaaten nicht sichergestellt.
Eine neue Idee in den nun von den EU-Innenminister*innen beschlossenen Ratspositionen sind die sogenannten »responsibility offsets«. Dies kann als eine Art ergänzende Form der Solidarität angewendet werden und Deutschland könnte dann z. B. anstatt Geflüchtete wie abgemacht aus Griechenland zu übernehmen, keine Rücküberstellungen nach Griechenland durchführen. Wenn sich der überlastete Mitgliedstaat aber nicht an die verschärften Dublin-Regeln der AMM-Verordnung hält, so müssen die anderen Mitgliedstaaten ihm keine Solidarität zeigen oder die Aussetzung der Rücküberstellungen (»responsibility offsets«) anwenden.
Diese Reform ist notwendig, weil sie die Kommunen entlasten wird? Das stimmt nicht!
Auch das Argument, wie von Justizminister Marco Buschmann bei Twitter vorgebracht, dass nun die Kommunen in Deutschland entlastet werden, ist völlig fehlgeleitet. Denn erstmal muss diese Reform noch zwischen Europaparlament und Rat final verhandelt und beschlossen werden. Dann gibt es eine Umsetzungsfrist, bevor die neuen Rechtseinschränkungen überhaupt greifen. Es können also leicht bis zu drei Jahre vergehen, bis die Reform wirksam in Kraft ist. Für die Kommunen wird dies also aktuell keinen Unterschied machen und ob dies in Zukunft der Fall sein wird, ist ebenso fraglich. Denn es darf nicht vergessen werden: Die Reform wird auch in Deutschland gelten und hier zu starken Rechtsänderungen führen, die erstmal umgesetzt werden müssen. Und wenn sich die Lage an den Außengrenzen so verschärft, werden viele Schutzsuchende erst recht versuchen, in anderen Mitgliedstaaten Schutz zu bekommen.
(wj)