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„Da weitermachen, wo alle anderen aufhören“ – RSPA-MitarbeiterInnen berichten
Die Sommermonate haben die MitarbeiterInnen des PRO ASYL-Projektes Refugee Support Program Aegean weit über die Grenzen ihrer Möglichkeiten beansprucht. Sei es auf der Insel Lesbos, wo sie hunderten Flüchtlingen mit Nothilfe, rechtlicher Beratung, oder Übersetzungsdiensten im Krankenhaus zur Seite stehen, sei es bei Recherchen an den See- und Landgrenzen oder in der Hauptstadt Athen. Die konkrete Hilfe im Einzelfall steht genauso im Fokus wie rechtliche und politische Interventionen. Der Herbst verspricht keine Entspannung der Lage.
Begleitung besonders verletzlicher Flüchtlinge auf Lesbos
Die lokalen Behörden und alle auf Lesbos tätigen NGOs waren während der letzten Wochen mit den Ausmaßen der humanitären Krise überfordert und hatten die Grenzen ihrer Kapazitäten längst überschritten. Ohne die Hilfe dutzender solidarischer Menschen – Einheimischer, AktivistInnen aus dem Ausland sowie Touristen – wäre die Situation längst eskaliert. Das offene Welcome-Center PIKPA, das seit Ende 2012 durch die lokale Solidaritätsgruppe „Dorf der Alle Zusammen“ getragen wird, beherbergt mittlerweile nur noch die ganz Verletzlichen unter den Flüchtlingen. Mit über 150 Schutzsuchenden sind die Kapazitäten der selbstorganisierten Unterkunft Anfang September schon um das doppelte überschritten. Vor allem Hochschwangere, Familien mit Säuglingen, behinderte Menschen, Alte und Kranke sind hier vorläufig untergebracht. Es wird versucht, diese Menschen vor den unmenschlichen Lebensbedingungen der Lager in Kara Tepe und Moria zu bewahren und ihnen die notwendige Versorgung zu bieten.
RSPA MitarbeiterInnen unterstützen täglich viele besonders schutzbedürftige Personen, die in PIKPA untergebracht sind, im Krankenhaus behandelt werden oder in den Lagern auf ihre Registrierung warten. „Am meisten erschreckt mich die absolute Abwesenheit des Staates“, so RSPA Mitarbeiter Nayem Mohammadi, der auch im „Dorf der Alle Zusammen“ mitwirkt. „Alle Menschen, die wir hierher gebracht haben, haben wir zufällig getroffen: Auf der Straße, im Hafen, außerhalb von Moria, in Kara Tepe. Manchmal schicken die NGOs oder der UNHCR besonders verletzliche Fälle her, aber es ist alles Zufall. Viele Menschen, die besonderer Hilfe bedürfen, werden nicht identifiziert – ihnen kann nicht geholfen werden. (…) Es macht mich jedes Mal wieder fassungslos, wenn ich Schwangere vor mir habe, Kranke, behinderte Menschen oder Babys und sehe, wie sie versuchen sich durch die Prozeduren auf Lesbos zu quälen und diese Etappe, die nur eine von vielen auf ihrer Flucht ist, zu überleben. Ich sehe unsere Aufgabe darin, diesen Menschen zu helfen, und zwar ganzheitlich: Durch das ganze Verfahren auf der Insel und nicht nur ausschnittsweise. Darin liegt unsere Stärke, dass wir da weitermachen, wo alle anderen aufhören. Man muss den Menschen auch nach ihrer Registrierung helfen oder nach dem Krankenhausbesuch… und dann erlebt man auch manchmal ein Happy End.“
Housseyn Hmaidouch verbringt im Rahmen des RSPA-Einsatzes besonders viel Zeit im Krankenhaus und übersetzt dort. „Mich hat die Geschichte des 14 Monate alten K.S. sehr berührt. Das kleine kurdische Kind aus Syrien war mit seinem Vater, der Mutter und dem acht Jahre alten Bruder auf Lesbos angekommen. Es leidet seit seiner Geburt an Mikrozephalie und zerebraler Lähmung und daher haben sich viele seiner Organe nicht richtig entwickeln können. Es kann nur über die Luftröhre ernährt werden. Erst floh die Familie aus dem Krieg in Syrien in den Irak, wo das Kind auf die Welt kam. Auf der Suche nach Sicherheit und mit der Hoffnung, dass ihr Kind in Nordeuropa therapiert werden könnte, flohen sie weiter in die Türkei. Mit Sauerstoffversorgung für das Kleinkind stiegen sie in ein Schlauchboot und fuhren nach Lesbos. Das war vor zwei Monaten. Das Kind wurde ins Krankenhaus gebracht und am nächsten Tag erhielt die Familie – wie alle anderen – ein Dokument, in dem sie aufgefordert wurden nach Athen zu fahren, dort ihre Registrierung abzuschließen und ihr eigentliches Dokument zu erhalten. Das RSPA-Team fand die Familie in PIKPA, informierte sie über ihre rechtlichen Möglichkeiten und unterstützte sie schließlich bei ihrem Asylantrag, als diese beschlossen, dass dies der einzige Weg sei, schnell und sicher nach Nordeuropa zu gelangen. K. musste wieder ins Krankenhaus. Die dringende medizinische Hilfe, die er benötigte, konnte jedoch dort nicht geleistet werden. Daher wurde er mit der Hilfe von RSPA als Notfall mit seiner Mutter nach Athen geschickt. Inzwischen sind alle Familienmitglieder als Flüchtlinge anerkannt worden. Der Vater und der achtjährige Bruder sind nach Athen nachgereist. Sie warten zurzeit in einer offenen Unterkunft für Asylsuchende auf ihre Aufenthaltspapiere“, so Husseyn Hmaidouch.
Push Backs an der Landgrenze
Mitarbeiterinnen des Refugee Support Program Aegean von PRO ASYL (RSPA) dokumentierten zwei der vielen Push Back Fälle an der Landesgrenze zwischen Griechenland und der Türkei:
In der Nacht vom 24. August überquerte L.A., ein Flüchtling aus Syrien, zusammen mit neun anderen Flüchtlingen – unter ihnen eine Frau – die griechisch-türkische Landesgrenze nahe des türkischen Orts Ipsala. “Wir sind durch dichte Büsche gegangen bis wir beim Evros Fluss angekommen sind. Dann sind wir in ein kleines Boot eingestiegen und haben den Fluss überquert. Dort blieben wir ca. zwei bis drei Stunden in den Büschen als wir auf einmal vor uns zwei Grenzpolizisten sahen. Sie trugen graue Uniformen mit weißen Stellen und auf ihren Jacken war das Emblem der griechischen Fahne. Sie riefen per Telefon nach Verstärkung. Dann sind zwei andere Polizisten gekommen mit einem weißen Kleinbus mit blauen Streifen. Sie haben uns die Handys weggenommen. Ich sagte ihnen, wir wollen nicht wieder zurück in die Türkei. Sie sagten uns, wir sollten uns keine Sorgen machen, sie würden uns zur Polizeistation bringen, registrieren und frei lassen. Uns wurde dann befohlen in den Wagen einzusteigen. Wir konnten nichts sehen, weil es keine Fenster gab. Nach einer halben Stunde Fahrt, hielten sie an und setzten uns in ein Boot. Die Distanz zum anderen Ufer war klein. Es war vier Uhr morgens als wir in der Türkei angekommen sind. Wir haben nach der türkischen Polizei gesucht. Im Ort Enez, einer Stadt in der Provinz Edirne, wurden wir dann festgenommen. Danach sind wir von Istanbul nach Izmir gefahren, um den Seeweg zu nehmen. Zurzeit ist der Weg über die Landgrenze teurer als der Seeweg. Ich habe es erst über die Landgrenze versucht, weil ich Angst vor dem Meer habe”.
Zuspitzung der Situation an der Grenze zu Mazedonien
Am 20. August verhängte die mazedonische Regierung den Ausnahmezustand. Schon bevor sich die mazedonische Regierung am Vortag entschieden hatte die Grenze zu schließen, war die Situation in Idomeni sehr angespannt. Hunderte von Flüchtlingen übernachteten im Freien oder in Zelten, ohne Schutz vor der Hitze oder Regenfällen, während sie auf eine Gelegenheit warteten, die Grenze zu überqueren. Am 21. August, nachdem hunderte von Schutzsuchenden versucht hatten die griechisch-mazedonische Grenze in Idomeni zu überqueren, setzte die Militärpolizei laut Zeugen und Medienberichten Blendgranaten, Tränengas und Plastikkugeln gegen sie ein. Mehrere Personen wurden verletzt. Vier von ihnen mussten ins Krankenhaus transportiert werden. Hunderte Schutzsuchende waren für Stunden festgehalten worden, unter ihnen mehrere Kinder mit ihren Eltern. Am 22. August und nach den heftigen Reaktionen, die die Gewalt der mazedonischen Sicherheitskräfte weltweit auslösten, öffnete die mazedonische Regierung die Grenzen wieder und ließ die Familien mit Kindern passieren. Am 23. August erlaubte sie auch den restlichen Personen den Grenzübertritt. Mitarbeiterinnen von RSPA haben sich ein Bild von der Situation vor Ort gemacht:
Ende August/Anfang September hat sich die Lage beruhigt. Mehrere Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen sind an der Grenze präsent, um die Schutzsuchenden mit dem Notwendigsten zu versorgen. Es wird geschätzt, dass Ende August innerhalb von zwei Monaten mehr als 40.000 Personen die Grenze überquert haben. Laut Schätzungen gelangen täglich mehr als 2.000 Personen über die Grenze. Lokale Solidaritätsinitiativen rufen über soziale Medien und Anzeigen in Zeitungen zu Spenden auf – benötigt werden Lebensmittel, Kleidung und andere Hilfsgüter. Täglich kochen sie hunderte Mahlzeiten und verteilen diese an die Schutzsuchenden. Wegen der hohen Temperaturen gab es Ende August einen dringenden Bedarf nach Wasser. Mehrere Kleinhändler ergriffen die Chance, um zu überteuerten Preisen Lebensmittel an die erschöpften Flüchtlinge zu verkauften. „Die Bilder hier ähneln Flüchtlingslagern in Afrika. Hier gibt es keine staatliche Intervention, keine Planung, um mit dieser Notsituation zurechtzukommen, obwohl wir seit Monaten davor gewarnt haben. Lokale Behörden und Staatsvertreter schieben die Verantwortung hin und her. Es gibt keine Vorsorge für die Unterbringung oder die Verpflegung dieser Menschen. Wir sind eine medizinische Organisation, wir können nicht alles tun“, so Dimitiris Rigas Koordinator des Teams von den Ärzten ohne Grenzen in Idomeni in einem Interview mit der Zeitung Efimerida ton Syntakton. Anfang September hat die Präsidentin des Gemeinderates von Idomeni, Xanthoula Sloupi, die Lage an der Grenze als hoffnungslos beschrieben und warnte vor Protesten der Einwohner. In einem Ort mit 120 Einwohnern befanden sich mittlerweile 8.000 Menschen, die darauf warten die Grenze zu überqueren, so Sloupi. Polizisten warnten davor, dass aufgrund der vielen Menschen die Situation außer Kontrolle geraten könnte.
Viele der Flüchtlinge machen sich wegen ihrer Weiterreise Sorgen. „Ich habe auf Facebook gelesen, dass sie die Grenzen schließen“, sagt Bohar, eine 20-jährige Kurdin aus Kobane, die mit ihrer Familie in Deutschland Schutz suchen will. Sie sind zu acht unterwegs. Mit Hilfe der GPS-Karten auf ihrem Smartphone will sie mit ihren Eltern und Geschwistern über den Balkan in Richtung Deutschland reisen. Ihr großer Bruder und weitere Verwandte haben den Weg dorthin schon geschafft. Nun hofft sie, so schnell wie möglich bei ihnen zu sein. Durch soziale Medien wurde sie informiert, dass Deutschland für Syrer angeblich das sogenannte Dublin-Verfahren aussetze. Besorgt fragt sie bis wann dies gelten soll. Sie hat Angst, dass sie und ihre Familie nach Ungarn oder in ein anderes Balkanland zurückgeschickt werden. „Das wäre ein Alptraum nach all dem, was wir erlebt haben”. Die junge Frau hat in der syrischen Stadt Aleppo Chemie studiert. Wegen des Krieges – aber auch wegen der ISIS-Bedrohung – musste sie das Studium abbrechen. Vor 20 Tagen hat sie sich von Kobane aus auf die Reise nach Europa begeben: „In meiner Heimatstadt riecht es nach Tod. Unter den Trümmern der zerstörten Gebäude liegen Leichen. Unser Haus ist beinahe komplett zerstört: Es hat keine Fenster und Türen mehr. Wir können dort nicht mehr leben“, sagt Bohar. Die junge Frau ist erschöpft. Die kurdische Familie ist vor ein paar Tagen auf der Insel Lesbos angekommen. Dort wurden sie in ein überfülltes Lager gebracht. „Das war die schlimmste Erfahrung bisher. Es gab so viel Müll, kein Wasser, die Toiletten waren furchtbar“, sagt sie. Bohar ist sehr aufgeregt und schaut über die Grenze. Dorthin, wo der Weg durch die Maisfelder nach Gevgelija, dem mazedonischen Grenzort, führt. „Wir müssen sofort los! Alle meine Freunde, mit denen wir zusammen hergekommen sind, haben die Grenze schon überquert. Wir müssen aber zusammen bleiben, um eine große Gruppe zu sein und gemeinsam durch Serbien und Ungarn zu kommen.“
Wegen der Regenfälle und der niedrigen Temperaturen Anfang September ist die Lage in Idomeni besonders schwierig für die Schutzsuchenden, die erschöpft mit Bussen aus Athen und Thessaloniki anreisen. Am 10. September waren dort 3.000 Menschen, die alle darauf warteten, die Grenze zu überqueren. Die mazedonische Polizei lasse ca. 120 von ihnen stündlich über die Grenze, berichtete Antonis Rigas von den Ärzten Ohne Grenzen gegenüber den RSPA-MitarbeiterInnen. Doch trotz der Versprechen von Seite des Staates und anderer Organisationen, ist wenig getan worden, um menschenwürdige Zustände vor Ort zu schaffen. “Es gibt keinen ernsthaften Versuch die Lage hier zu verbessern, keine Vorbereitung für den Fall, dass Ungarn, Serbien oder Mazedonien die Grenze schließen”. Hunderte Menschen, auch Kranke und Menschen mit Behinderungen, harren aktuell im Regen aus. Immer wieder fallen Menschen in Ohnmacht. Die mazedonische Polizei ist indessen wieder aggressiver, und setzt Schlagstöcke gegen die Flüchtlinge ein. Die Ärzte ohne Grenzen verteilen Zelte und Schlafsäcke, bauen chemische Toiletten auf und sammeln Müll, doch das reicht nicht. “Wir erwarten über 10.000 Personen die kommenden Tage. Wir wissen, dass das Ziel derjenigen, die die Ägäis-Insel mit den Fähren verlassen, Idomeni ist”, so Rigas.
Allein am 20. September überquerten gruppenweise 4.500 Menschen die Grenze, laut Angaben des Bürgermeisters von Peonia, Christos Gountenoudis. Seit dem 24. September sind vor Ort fünf große Zelte vom UNCHR, den Ärzten ohne Grenzen, der Internationalen Organisation für Migration (ΙΟΜ) und anderer NGOs aufgebaut. Dort können bis zu 1.000 Personen untergebracht werden und von den schlechten Wetterbedingungen geschützt werden. Es gibt 80 chemische Toiletten, Container mit Dusche, Stromversorgung, um die Handys aufzuladen, sowie WIFI. Wasser und Lebensmittel werden verteilt. Eine mobile medizinische Einheit der regionalen Verwaltung ist vor Ort. Unter anderem werden MitarbeiterInnen von UNHCR sich über mögliche Asylanträge sowie Fälle von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kümmern und die Asylsuchenden über das Verfahren der Familienzusammenführung informieren.
Europa setzt auf Abschottung
Die Ankunftszahlen auf den ägäischen Inseln bleiben indessen hoch – bis zum 28. September erreichten UNHCR zufolge 387.520 Schutzsuchende die griechischen Inseln. Die EU-Regierungschefs kündigten an, auch aus diesem Grund ihre Kooperation mit der Türkei weiter auszubauen – eine verbesserte Grenzkontrolle steht dabei ganz oben auf der Agenda. Am 5. Oktober sollen konkrete Maßnahmen mit Erdogan besprochen werden. Zugleich ereignen sich weitere Bootskatastrophen: Am 27. September kamen bei dem Versuch, von der türkischen Küste aus die griechische Insel Leros zu erreichen, erneut 17 Menschen ums Leben. Während die Todesrate in der Ägäis steigt, setzt Europa auf Abschottung.
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