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Nazifa R. (34) in ihrer Wohnung in Bijeljina. Zusammen mit ihrer Familie wurde sie trotz gravierender gesundheitlicher Probleme im August 2016 nach Bosnien abgeschoben. ©Chris Grodotzki

Mit diversen neuen Regelungen versucht die Bundesregierung, Abschiebungen durchzusetzen: schneller, härter, rücksichtsloser. Opfer dieser Politik sind auch Nazifa R. und ihre Familie. Eine Reportage aus Bosnien.

Nazi­fa muss sich stüt­zen, wenn sie vom Stuhl auf­steht. Das Gesicht der 34-Jah­ri­gen ver­zieht sich, auch die Schrit­te, die sie dann macht, fügen ihr Schmer­zen zu. Sie hat Schmer­zen im Rücken, in den Bei­nen und in den Füßen. Hin­zu kommt ein Taub­heits­ge­fühl im rech­ten Arm. Sie atmet lang­sam und laut ein und aus, holt eine mit­tel­gro­ße Tüte mit Medi­ka­men­ten aus Deutsch­land und sagt: »Das alles muss ich neh­men, damit es mir bes­ser geht: Ich weiß nicht, wie ich die Medi­ka­men­te noch bezah­len soll.«

Nazi­fa lebt mit ihrem Mann Zajid und ihren drei Kin­dern Razi­ja (17), Rasim (15) und Alen (6) in einem zwei­stö­cki­gen Haus an der Peri­phe­rie der bos­ni­schen Stadt Bijel­ji­na. Das Haus gehört einem Ver­wand­ten, der zur­zeit in Deutsch­land arbei­tet. Dort kann die Fami­lie woh­nen – solan­ge er nicht zurückkommt.

Die Fami­lie sitzt im Wohn­zim­mer. Der klei­ne Alen schaut deutsch­spra­chi­ge Zei­chen­trick­se­ri­en, er hat die meis­te Zeit sei­nes Lebens in Deutsch­land gelebt. Als die Poli­zei kam, um die Fami­lie abzu­schie­ben, hat er ange­fan­gen zu wei­nen. Ihm fällt es schwer, sich auf die neue Lebens­si­tua­ti­on in Bos­ni­en ein­zu­stel­len. »Alen ist Epi­lep­ti­ker. Er ver­liert manch­mal das Bewusst­sein und fällt dann ein­fach um«, sagt Nazi­fa. Auch für ihn muss die Fami­lie Medi­ka­men­te kau­fen. Die Epi­lep­sie stört Alen aber nicht so sehr. Er sagt: »Ich ver­mis­se mei­ne Freun­de in Deutsch­land. Ich konn­te mich doch nicht mal verabschieden.«

Auch der 17-jäh­ri­gen Razi­ja und dem 15-jäh­ri­gen Rasim fällt es schwer, sich wie­der in Bos­ni­en ein­zu­le­ben. Rasim besuch­te die neun­te Klas­se der Haupt­schu­le. Er stand kurz vor sei­nem Schul­ab­schluss, den er wegen der Abschie­bung nicht machen konn­te. Weil sei­ne Leis­tun­gen in Bos­ni­en nicht aner­kannt wer­den, wur­de er in die sechs­te Klas­se zurückgestuft.

Nazifa hatte ein Attest über ihre Reiseunfähigkeit

Neben den kör­per­li­chen Pro­ble­men lei­det Nazi­fa auch psy­chisch. Sie hat eine Panik­stö­rung, Migrä­ne­at­ta­cken, eine schwer aus­ge­präg­te Depres­si­on. Nachts wacht sie manch­mal auf und schreit laut auf. Damit sie ein­schla­fen kann, nimmt sie vier Tabletten.

Ein Psych­ia­ter beschei­nig­te ihr am 11. Juli 2016 eine Rei­se­un­fä­hig­keit für min­des­tens drei Mona­te und schrieb in sein fach­ärzt­li­ches Attest: »Bei einem vor­zei­ti­gen Behand­lungs­ab­bruch, ins­be­son­de­re bei einer unan­ge­kün­dig­ten Abschie­bung ist unver­än­dert mit einer Zunah­me der Sym­pto­ma­tik zu rech­nen bis hin zur Gefahr einer psy­chi­schen Dekompensation.«

Die ver­ant­wort­li­chen Behör­den küm­mer­ten sich nicht um das Attest. Am 16. August um fünf Uhr mor­gens kamen Poli­zei­be­am­te ins Wohn­haus der Fami­lie in Kreuz­tal. Die Poli­zei­be­am­ten hat­ten einen Amts­arzt dabei, der Nazi­fa kur­zer­hand die Rei­se­fä­hig­keit beschei­nig­te. Die sechs­köp­fi­ge Fami­lie hat­te 15 Minu­ten Zeit, um ihre Sachen zu packen.

Ihr 15-jäh­ri­ger Sohn Rasim erzählt:  »Wir haben das Klin­geln der Poli­zei erst nicht gehört, weil es ja noch so früh war. Dann hat unser Nach­bar die Tür geöff­net. Der Arzt hat mei­ne Mut­ter gefragt, ob sie Schmer­zen hat und ob sie schwan­ger ist. Mei­ne Mut­ter hat­te Schmer­zen und war auf­ge­bracht, aber das war ihnen egal.«

Roman Franz ist Vor­sit­zen­der des Ver­bands Deut­scher Sin­ti und Roma in Nord­rhein West­fa­len und kri­ti­siert die­se Abschie­be­pra­xis aufs Schärfs­te: »Die Men­schen wer­den abge­scho­ben, weil der Amts­arzt das Attest über Rei­se­un­fä­hig­keit nicht aner­kennt. Die Aus­län­der­be­hör­den pla­nen oft schon die Rück­kehr, bevor über den Asyl­an­trag  ent­schie­den wur­de, weil Roma aus den soge­nann­ten siche­ren Her­kunfts­staa­ten kei­ne Chan­ce auf Asyl haben.«

Kein Geld für Medikamente und Behandlung

Fami­lie R. erhält rund 55 Euro Sozi­al­leis­tun­gen für die drei Kin­der. Zum Leben reicht das nicht. Diens­tags und frei­tags ver­kau­fen Nazi­fa und Zijad Fund­stü­cke aus dem Müll auf einem nahe­ge­le­ge­nen Floh­markt. Weil es in Bijel­ji­na kein staat­lich orga­ni­sier­tes Recy­cling­sys­tem gibt, über­neh­men die mar­gi­na­li­sier­ten Roma die­se Auf­ga­be. Ein Kilo Plas­tik­fla­schen bringt umge­rech­net rund 15 Cent, die aus­ein­an­der­ge­nom­me­nen Tei­le eines Schrott­wa­gens bis zu 20 Euro. Manch­mal fin­den sich in den Con­tai­nern auch Schu­he, Uhren oder alte Han­dys und  Radios.

Weil Nazi­fa sich nicht gut bewe­gen kann, sitzt sie auf einem Stuhl vor einer aus­ge­brei­te­ten  Decke, auf der sie ihre Waren anbie­tet. Der Tag bringt den bei­den umge­rech­net rund 20 Euro ein. In Bijel­ji­na leben über 200 Roma­haus­hal­te, aber kaum jemand ist bereit Roma einzustellen.

Die Arbeits­lo­sen­quo­te von Roma in Bijel­ji­na wird von den Mit­ar­bei­tern der ört­li­chen Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on Ota­ha­rin auf über 95 Pro­zent geschätzt. Die NGO selbst beschäf­tigt sechs Roma und ist damit der größ­te Arbeit­ge­ber für die dis­kri­mi­nier­te Grup­pe in der Stadt.

Fami­lie R. in ihrer Woh­nung in Bijel­ji­na: v.r.n.l. Elvis, Mut­ter Nazi­fa, Alen und Vater Zajid. Toch­ter Razi­ja fehlt auf dem Foto. ©Chris Grodotzki
Nazi­fa R. zeigt ihren Pass mit dem Depor­ta­ti­ons-Stem­pel der Bun­des­po­li­zei Düs­sel­dorf. ©Chris Grodotzki
Bild: Nazifa und Zijad verkaufen noch brauchbare Fundstücke aus dem Müll auf dem Flohmarkt
Diens­tags und frei­tags geht Nazi­fa mit ihrem Mann Zijad auf einen nahe­ge­le­ge­nen Floh­markt um die Fund­stü­cke aus dem Müll zu ver­kau­fen. ©Chris Grodotzki
Erin­ne­run­gen an ein Leben in Deutsch­land: ein paar Fotos und Post­kar­ten von Freun­den. ©Chris Grodotzki

Keine Chance auf Asyl in Deutschland

Roma aus den West­bal­kan­staa­ten haben fast kei­ne Chan­ce Asyl in Deutsch­land zu erhal­ten. Denn grund­sätz­lich wird davon aus­ge­gan­gen, dass in die­sen Län­dern kei­ne poli­ti­sche Ver­fol­gung vor­liegt. »Das zu behaup­ten, spricht von einer völ­li­gen Igno­ranz gegen­über dem, was vor Ort wirk­lich pas­siert«, sagt Tama­ra Bako­vić-Jadžić vom Roma-Forum Ser­bi­en. »Die Dis­kri­mi­nie­rung von Roma auf dem West­bal­kan ist so groß, dass kumu­la­ti­ve Ver­fol­gungs­grun­de als poli­ti­sche Ver­fol­gung aner­kannt wer­den sollten.«

Wenn eine Per­son von ver­schie­de­nen Dis­kri­mi­nie­run­gen und Men­schen­rechts­ver­stö­ßen betrof­fen ist, die ein­zeln kei­nen Asyl­grund dar­stel­len, kön­nen die­se aber zusam­men­ge­nom­men nach Euro­päi­schem Recht und der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on als Ver­fol­gung ein­ge­stuft wer­den. In ande­ren EU-Staa­ten wer­den die­se  »kumu­la­ti­ven Ver­fol­gungs­grun­de« aner­kannt. So haben im Jahr 2015 Frank­reich 19,4 Pro­zent und Schwe­den 9,9 Pro­zent der Asyl­an­trä­ge aus Ser­bi­en anerkannt.

Abschieben ohne hinzusehen

Seit Ver­ab­schie­dung des zwei­ten Asyl­pa­kets im Marz 2016 wer­den Abschie­bun­gen vom BAMF nur bei schwe­ren und lebens­be­droh­li­chen Erkran­kun­gen, die sich durch eine Abschie­bung wesent­lich ver­schlech­tern wur­den, aus­ge­setzt (§ 60 Abs. 7 AufenthG).

Auch die Aus­län­der­be­hör­den sind nun ver­pflich­tet, grund­sätz­lich davon aus­zu­ge­hen, dass einer unmit­tel­bar bevor­ste­hen­den Abschie­bung kei­ne gesund­heit­li­chen Grün­de ent­ge­gen­ste­hen. Es sei denn, die Betrof­fe­nen selbst wei­sen eben­sol­che Grün­de nach. Dafür braucht man ein Attest, aber psy­cho­lo­gi­sche Gut­ach­ten sind expli­zit aus­ge­nom­men. Die Bun­des­psy­cho­the­ra­peu­ten­kam­mer halt die neu­en Rege­lun­gen für »fach­lich nicht fun­diert, inhu­man und lebensgefährdend.«

Seit Nazi­fa wie­der in Bos­ni­en ist, haben sich ihre Sym­pto­me ver­stärkt. Sie wirkt extrem unaus­ge­gli­chen, beginnt zu wei­nen, ihre kör­per­li­chen Beschwer­den sind schlim­mer gewor­den. Seit ihrer Abschie­bung im August muss­te sie des­we­gen schon zwei­mal ins Kran­ken­haus. In ihrer Hei­mat­stadt Bijel­ji­na gibt es aber kei­ne Behandlungsmöglichkeiten.

Frei­wil­li­ge Hel­fer brach­ten sie ins vier Auto­stun­den ent­fern­te Ban­ja Luka, obwohl ihr Arzt ihr gesagt hat­te, sie dür­fe kei­ne lan­gen Auto­fahr­ten auf sich nehmen.

Das ver­gan­ge­ne Mal lag sie in Ban­ja Luka elf Tage im Kran­ken­haus, aber dort bekommt sie nicht die The­ra­pie, die der Arzt ihr in Deutsch­land ver­schrie­ben hat. »Hier sagen sie immer, sie kön­nen mich nicht rich­tig behan­deln. Die Ärz­te sehen doch, dass es mir schlecht geht.« Es sei bes­ser, wenn sie sich in Bel­grad im benach­bar­ten Ser­bi­en behan­deln las­sen wür­de, aber dafür feh­len ihr die Mit­tel. »In Deutsch­land hat­te ich das Gefühl, das sind gute Arzte, die sich um mei­ne Pro­ble­me küm­mern. In Bos­ni­en ist das nicht so. Hier hat nie­mand Respekt vor Roma.«

Krsto Lazare­vić, Jour­na­list bei »Jib Coll­ec­ti­ve«

(Die­ser Arti­kel erschien zuerst im Juni 2017 im Heft zum Tag des Flücht­lings 2017).


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