Hintergrund
Familienzusammenführung? Darauf können Sie lange warten.
Skrupellos hat der Gesetzgeber den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ausgesetzt. Auch auf andere Weise bremst Deutschland den Familiennachzug insbesondere für syrische Flüchtlinge aus – auf dem kalten Weg der Bürokratie.
Im Zuge des Asylpakets II wurde Anfang 2016 die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von zwei Jahren beschlossen – bis zum 17. März 2018. Für sie wird die Familientrennung nach monatelanger Flucht und nicht minder lang gezogenem Asylverfahren damit weiter erheblich hinausgeschoben. Betroffen sind auch unbegleitete Minderjährige. Sollten sie während der zweijährigen Wartezeit volljährig werden, wird ein legaler Nachzug der Eltern – trotz eines von der SPD aufgeklebten Härtefall-Pflasters – wohl ganz verhindert.
Erst hieß es beschwichtigend, der Anteil der betroffenen Flüchtlinge sei klein: 2015 wurden nur 0,7% der Asylantragsteller*innen als subsidiär Schutzberechtigte (§4 AsylG) eingestuft. Fast alle Flüchtlinge aus Syrien erhielten bis März 2016 einen Flüchtlingsstatus gemäß §3 AsylG nach der GFK.
Im November war ein Vorstoß von Bundesinnenminister de Maizière, der allen Syrien-Flüchtlingen nur noch subsidiären Schutz zubilligen und auch diesen damit den Familiennachzug für zwei Jahre verbieten wollte, am Widerstand der SPD noch gescheitert. Im März 2016 hat das dem BMI unterstellte Asylbundesamt (BAMF) nun aber seine Entscheidungspraxis geändert: Flüchtlingen aus Syrien wird nach neuer Weisungslage nicht mehr regelmäßig ein GFK-Status zuerkannt. Die neuesten Zahlen zeigen, dass immer mehr syrische Flüchtlinge nur noch als „subsidiär Schutzberechtigte“ eingestuft und auf diese Weise vom Familiennachzug ausgeschlossen werden.
Allein die Nachricht über die bevorstehende Gesetzesänderung bewirkte bei den potenziell Betroffenen eine Panikreaktion: Zu Jahresbeginn stieg der Anteil der Frauen und Kinder, die sich auf einen abenteuerlichen Fluchtweg über die Ägäis begeben, drastisch an – darunter auch solche, die einen gesetzlichen Anspruch auf einen legalen Zuzug gehabt hätten. Wie viele von ihnen dabei ums Leben kamen, ist nicht bekannt.
Auch der legale Familiennachzug wird ausgehebelt
Der Schutz der Familie hat im internationalen – und eigentlich auch im deutschen – Recht einen hohen Stellenwert. Im Unterschied zu subsidiär Geschützten ist für anerkannte GFK-Flüchtlinge der Nachzug des Ehegatten und der minderjährigen Kinder unbestrittenes Recht. Die Praxis indes sieht anders aus. Flüchtlinge, die sich um einen legalen Familiennachzug bemühen, werden auf die Wartebank geschoben, mit restriktiven Auflagen konfrontiert, mit unerfüllbaren Anforderungen gequält, im Stich gelassen. Ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht das Resultat: Zwischen Anfang 2011 und 2016 wurde knapp 230.000 Personen aus Syrien in Deutschland Schutz gewährt. Dagegen wurden im Zeitraum Anfang 2014 bis Oktober 2015 nur 18.400 Visa für syrische Staatsangehörige zum Familiennachzug zu Schutzberechtigten erteilt.
»Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.«
Die bürokratische Warteschleife
Anträge auf Familiennachzug müssen von den nachzugswilligen Angehörigen bei den deutschen Auslandsvertretungen persönlich gestellt werden. Nur: In den Botschaften im Libanon, in Jordanien und der Türkei beträgt die Wartezeit auf einen Vorsprachetermin derzeit rund 14 Monate, Tendenz steigend.
Im Irak befindliche Flüchtlinge, insbesondere vom IS bedrohte Minderheitenangehörige, konnten bis April 2016 vor Ort gar keinen Antrag stellen. Obwohl es im kurdischen Teil Iraks anders als in Syrien ein funktionstüchtiges Konsulat gibt, wurden in Erbil nur Geschäftsvisa bearbeitet, während Familienangehörige an die Botschaft in der Türkei verwiesen wurden. Damit schickte man die Betroffenen auf eine teure und gefährliche Reise – und in die nächste Sackgasse.
Tausende von Flüchtlingen wurden an der syrisch-türkischen Grenze gestoppt und unter Bezugnahme auf die seit Anfang 2016 geltende Visumspflicht für Syrer*innen in der Türkei nicht ins Land gelassen. Erst auf massiven Druck von PRO ASYL hat sich das Auswärtige Amt im April 2016 endlich bereit erklärt, ab Mai 2016 auch Anträge auf Familiennachzug in Erbil zu bearbeiten.
In Jordanien sieht es kaum besser aus: Regelmäßig sind im Buchungsportal alle Termine ausgebucht. Selbst bei Härtefällen wird die vorzeitige Terminvergabe verweigert. Und auch hier wird die Einreise von Syrer*innen inzwischen in etlichen Fällen verweigert. Tausende Menschen verharren in der Wüste vor der Grenze.
Selbst wenn ein Termin zustande kommt, ist eine Visumserteilung noch lange nicht garantiert: Obwohl alle Bundesländer längst eine Globalzustimmung erteilt haben, verlangt die Botschaft in Amman in etlichen Fällen eine Vorabstimmung der zuständigen Ausländerbehörde. Zwar wird den Eltern eines in Deutschland lebenden anerkannten Kindes ein Visum erteilt, nicht aber den bei den Eltern lebenden Kindern der Familie. Auch wenn die Identität zweifelsfrei nachgewiesen ist, wird die Vorlage syrischer Reisepässe gefordert, deren Beschaffung teuer, zeitaufwändig und nicht selten gefährlich ist.
Keine Chance auf Familienleben? – Drei Fälle aus der Praxis
Mohammed R. flieht allein nach Deutschland – seiner Frau Haifaa scheint die Flucht mit den zwei kleinen Kindern zu gefährlich, sie bleiben in Qamishli im kurdischen Teil Syriens zurück. Im August 2015 wird Mohammed in Deutschland anerkannt. Haifaa erhält einen Termin bei der deutschen Botschaft in Ankara mit einer Wartezeit von „nur“ acht Monaten – im April 2016. Aber die Türkei verweigert ihr die Einreise.
Also reist die Frau mit den Kindern in den Libanon, um bei der türkischen Botschaft in Beirut erst einmal ein Visum für die Türkei zu beantragen. Um das zu erhalten, muss sie einiges nachweisen: Ihre Zahlungsfähigkeit in Form einer Bankbürgschaft, Flugtickets von Beirut nach Ankara und zurück, eine Wohnadresse in der Türkei, ein syrisches Führungszeugnis. Dabei will die Familie eigentlich nur einen Termin bei der deutschen Botschaft wahrnehmen. Ohne Chance auf Einreise kehrt Haifaa mit ihren Kindern unverrichteter Dinge zurück nach Syrien.
Khir M. aus Syrien ist anerkannter Flüchtling aus Damaskus. Einen Monat nach seiner Flucht wird seine Tochter auf dem Schulweg im Beisein ihres Bruders erschossen. Seitdem ist der Familienvater schwer traumatisiert und wird psychotherapeutisch behandelt. Er hat große Angst um seine restliche Familie, die immer noch in Syrien lebt und regelmäßig vom Geheimdienst verhört wird.
Mit großem Glück gelingt es Khir M., für seine Frau und seinen Sohn einen Termin bei der deutschen Botschaft in Jordanien für den 16. März 2016 zu erhalten. Weil aber das jordanische Innenministerium keine Einreiseerlaubnis erteilt und die deutsche Botschaft keine Möglichkeit der Unterstützung sieht, verstreicht der Botschaftstermin. Das Auswärtige Amt bietet deshalb kurzfristig einen neuen Termin zur Vorsprache im April an – bei der deutschen Botschaft in Ankara. Auch diesen Termin wird Khirs Frau wegen der Visumpflicht für die Türkei wohl nicht wahrnehmen können.
Kazem A. will seiner schwangeren Frau und dem vierjährigen Sohn die Strapazen einer Flucht nicht zumuten und sie später nachholen. Im Oktober 2015 wird der Schuhmacher aus dem völlig zerstörten Aleppo in Deutschland anerkannt. Er stellt einen Antrag auf Familiennachzug und bemüht sich für seine Frau um einen Termin bei der deutschen Botschaft in Ankara. Monate vergehen, doch er erhält nicht einmal eine Antwort.
Schließlich macht sich die Familie selbst auf den Weg: Kazems Ehefrau, sein Sohn und das inzwischen vier Monate alte Baby sowie Kazems Schwester mit ihrer Familie. Am 30. Januar 2016 ruft Kazems Frau ihn auf dem Handy an: Die Familie steige jetzt ins Boot. Wenig später hört er ihre Schreie, dann bricht der Kontakt ab: Kazems Frau und Kinder, seine Schwester und deren drei Kinder ertrinken, zusammen mit 37 weiteren Flüchtlingen, auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland.
Ein Familiennachzug wäre unbürokratisch möglich
Die Kritik von Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingsorganisationen an der Organisation des Familiennachzugs dauert inzwischen jahrelang an. Stets verweist das Außenministerium darauf, dass eine Aufstockung des Personals vor Ort in der Krisenregion angestrebt werde, aber aus Sicherheitsgründen schwierig sei. Noch im September 2015 beteuerte die Bundesregierung:
„Die Bundesregierung unternimmt gemeinsam mit den Regierungen der Länder alles, was zu leisten und zu verantworten ist, um eine Einreise der Familienangehörigen so schnell und so einfach wie möglich zu erreichen. … Bund und Länder sind sich ihrer Verantwortung bewusst, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das humanitäre und zugleich rechtsstaatliche Gebot der Familienzusammenführung zu erfüllen.“ (Antwort der Bundesregierung auf eine Bundestagsanfrage 18/5914 vom 3.9.2015)
Das stellt die Tatsachen auf den Kopf. Offenkundig fehlt nicht die Möglichkeit, sondern der politische Wille dafür „das rechtsstaatliche Gebot auf Familienzusammenführung“ zu erfüllen.
»Ehe und Familie stehen unter dem Schutz der staatlichen Ordnung.«
Dabei wäre eine Visumserteilung zum Familiennachzug unbürokratisch möglich, wenn man auf eine persönliche Antragstellung verzichtete: Die erforderlichen Unterlagen könnten von Angehörigen in Deutschland zusammengestellt und über die Ausländerbehörden an die zuständige deutsche Auslandsvertretung oder direkt nach Berlin übermittelt werden. Die Botschaft könnte auf der Grundlage der so erhobenen Daten das Visum zum Familiennachzug erteilen und den Angehörigen einen Termin dafür nennen. So wird es im Rahmen der (wenigen noch laufenden) Landesaufnahmeprogramme für syrische Angehörige praktiziert. Dieser Vorgang nimmt normalerweise nicht länger als acht Wochen in Anspruch.
Der Schutz der Familie ist eine Verpflichtung unserer Verfassung, die endlich ernst genommen werden muss. Durch die Fortsetzung einer Politik der Verzögerung und Reglementierung des Familiennachzugs werden Familien zerrissen und Menschen in Gefahr gebracht, die in ausgebombten syrischen Städten oder in Elendsquartieren in den Nachbarländern verzweifelt nach einer legalen Chance suchen, mit ihrer Familie in Sicherheit zu leben.
Kai Weber & Karim Al Wasiti
(Dieser Beitrag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2016.)