Hintergrund
Afghanische Flüchtlinge: Opfer der Abschreckungsstrategie
Die Schutzquote afghanischer Flüchtlinge geht massiv zurück – dabei arbeitet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oft mangelhaft: Mehr als die Hälfte der Afghan*innen, die gegen ihren BAMF-Bescheid klagen, bekommt von den Verwaltungsgerichten recht. Mit gutem Grund, denn die Lage in Afghanistan wird immer unsicherer.
Im Jahr 2017 erhielten nur noch circa 47 Prozent der afghanischen Asylantragsteller*innen einen Schutzstatus zugesprochen – im Vorjahr lag die bereinigte Schutzquote noch bei über 60 Prozent. Die veränderte Entscheidungspraxis hat aber nichts mit der Realität in Afghanistan oder einer Entspannung der dortigen Kriegssituation zu tun – im Gegenteil: Auch die Vereinten Nationen haben Afghanistan mittlerweile wieder als Land in »aktivem Konflikt« eingestuft.
Hohe Erfolgsquote vor Gericht
Das BAMF jedoch lehnt afghanische Flüchtlinge vermehrt ab. Schaut man sich die Einzelfälle an, fällt auf, dass die Bescheide oft gleichlautend und ohne individuellen Bezug formuliert sind, zumeist aber auf inländische Fluchtalternativen verweisen. Die inländische Schutzalternative ist rechtlich aber an spezifische Voraussetzungen gebunden. Es kann nicht allgemein von vermeintlich sicheren Regionen gesprochen werden, die es so pauschal in Afghanistan ohnehin gar nicht gibt.
Es muss auf einen konkreten Ort verwiesen werden, an dem die individuell betroffene Person Schutz finden kann. Sie muss dorthin sicher und legal reisen können und dort aufgenommen werden. Besonders wichtig ist, dass von Betroffenen »vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er [sie] sich dort niederlässt« (§ 3e AsylG). Das umfasst mehr als gerade so zu überleben. Geprüft werden muss auch und insbesondere, ob die Person ihren Lebensunterhalt sichern und eine Unterkunft finden kann und ob es eine ausreichende medizinische Versorgung gibt. All dies wird vom BAMF nur selten genau geprüft. Nicht ohne Grund erhalten daher viele afghanische Flüchtlinge recht, wenn sie gegen ihren Asylbescheid klagen. Die Verwaltungsgerichte entschieden 2017 zu 61 Prozent zugunsten von afghanischen Kläger*innen, wenn sie einen Fall inhaltlich beurteilten.
Kein aktueller Lagebericht zu Afghanistan
Den BAMF-Entscheidungen liegt auch eine veraltete Lageeinschätzung zugrunde: Der aktuellste Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist von Oktober 2016 und – wie auch eine Zwischenbeurteilung von Juli 2017 – inhaltlich absolut unzureichend. Vor allem fehlen konkrete Nachweise für angeblich sichere Regionen. Dass sich die Bundesregierung scheut, einen aktualisierten Bericht zu veröffentlichen, verwundert nicht. Die Lage im Land wird immer unsicherer, in allen Teilen Afghanistans sind Aufständische präsent und die britische BBC kommt in einer Recherche zu dem Ergebnis, dass 70 Prozent des Landes von Taliban oder »IS«-Kämpfern bedroht sind.
Auch in einem Bericht an den US-Senat musste der zuständige Spezialinspekteur für Afghanistan zugeben, dass die afghanische Regierung nur noch rund 57 Prozent des Staatsgebietes kontrolliert oder dort zumindest maßgeblich Einfluss ausübt. Das war im Oktober 2017, anschließend hat das US-Militär offenbar die Reißleine gezogen: Neue Zahlen dürfen nicht mehr veröffentlicht werden.
Abschiebungen werden unbeirrt fortgeführt
Derweil deutet absolut nichts auf eine Verbesserung der Situation hin. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen konstatiert, dass sich die Zahl der Sicherheitsvorfälle im Zeitraum von 2008 bis 2017 verfünffacht hat. Quasi im Wochentakt gibt es blutige Anschläge, besonders betroffen ist mittlerweile die Hauptstadt Kabul. Dort landen die monatlichen Abschiebeflieger aus Deutschland, meist mit zehn bis zwanzig Personen an Bord.
So reichen offenbar Schwierigkeiten bei der Passbeschaffung aus, um als Identitätsverweigerer zu gelten, selbst wenn zum Zeitpunkt der Abschiebung längst gültige Ausweispapiere vorliegen.
Seit dem verheerenden Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul sollen nur noch männliche Straftäter, Gefährder und sogenannte hartnäckige Identitätsverweigerer auf diesen Maschinen sein – zumindest Bayern, mit Abstand der traurige Spitzenreiter bei Abschiebungen nach Afghanistan, legt diese Begriffe aber sehr weit gefasst aus. Der Bayerische Flüchtlingsrat weist immer wieder auf Fälle hin, die in keine dieser drei Kategorien passen. So reichen offenbar Schwierigkeiten bei der Passbeschaffung aus, um als Identitätsverweigerer zu gelten, selbst wenn zum Zeitpunkt der Abschiebung längst gültige Ausweispapiere vorliegen.
Angst, Unsicherheit, Perspektivlosigkeit
Nach Afghanistan abgeschobene Personen berichten derweil von einem Leben in Angst und Unsicherheit. Viele von ihnen waren bereits viele Jahre in Deutschland, oft haben sie kaum noch Bindungen zu ihrem Herkunftsland. Dementsprechend schwer fällt ein Neustart, vor allem mit dem Stigma des Abgeschobenen. Denn auch in Afghanistan denken etliche Menschen, dass alle Abgeschobenen in Deutschland straffällig geworden seien.
Aufgrund ihres Aufenthalts im Westen sind Abgeschobene teilweise besonders gefährdet. Vor dieser Bedrohungslage müssen einige sogar erneut fliehen: Mitarbeiter*innen von Refugee Support Aegean (RSA), der Partnerorganisation von PRO ASYL in Griechenland, haben Kontakt zu mindestens vier Personen, die aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben wurden und nach ihrer zweiten Flucht nun auf den griechischen Inseln gestrandet sind. Übereinstimmend berichten sie davon, dass sich ihre Gefährdungslage in Afghanistan durch die Abschiebung und die Medienberichterstattung noch verschlimmert hatte.
Dazu kommt, gerade bei fehlenden sozialen Kontakten, die Perspektivlosigkeit: Neben Europa schieben auch die Nachbarländer Iran und Pakistan vermehrt Afghan*innen ab, weiterhin werden jedes Jahr Hunderttausende aus ihren Heimatorten vertrieben und befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht. Grob geschätzt dürfte die Zahl der Binnenvertriebenen bei rund zwei Millionen liegen, die Vereinten Nationen sprechen davon, dass circa 900.000 Afghan*innen unter »unmenschlichen Bedingungen« in Camps leben müssen. Keine Situation, in der man in einem Land besonders gut Fuß fassen könnte.
Mit dieser Abschreckungspolitik will man bereits hier lebende Afghan*innen zermürben und zur »freiwilligen« Rückkehr drängen, andere sollen gar nicht erst nach Deutschland kommen.
Abschiebung aus Kalkül
All das zeigt: Die Abschiebungen nach Afghanistan wurden im Winter 2016 nicht aufgenommen, weil sich die Situation im Land entspannt hätte. Gemeinsam mit der sinkenden Anerkennungsquote und dem Ausschluss von Maßnahmen, wie beispielsweise dem Besuch von Integrationskursen bereits während des Asylverfahrens, und zukünftig möglicherweise auch der Kasernierung in den geplanten »AnkER-Zentren«, sollen sie dazu dienen, afghanische Flüchtlinge zu verunsichern. Mit dieser Abschreckungspolitik will man bereits hier lebende Afghan*innen zermürben und zur »freiwilligen« Rückkehr drängen, andere sollen gar nicht erst nach Deutschland kommen. So sind Schutzsuchende aus Afghanistan wider alle Fakten zu Opfern des neuen harten Kurses der Bundesregierung geworden.
Max Klöckner
(Dieser Artikel erschien erstmals im Heft zum Tag des Flüchtlings 2018.)