15.12.2022
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Abschiebungen finden oft nachts und im Geheimen statt - deshalb gibt es selten Bilder. Dieses Foto stammt von einer geplanten Groß-Abschiebeaktion aus dem Jahr 2021. Foto: picture alliance

…bleiben den Menschen oft nur wenige Minuten, um ihre Sachen zu packen. Dann werden sie unvermittelt aus ihrem gewohnten Leben gerissen und abtransportiert. Für die meisten von uns unvorstellbar, für viele Geflüchtete eine ständig präsente Angstvorstellung über viele Jahre. Denn so unmenschlich funktioniert die deutsche Abschiebepraxis.

Schon 2018, 2019, 2020 und 2021 haben wir die Abschie­be­po­li­tik der deut­schen Behör­den anhand einer Fall­samm­lung doku­men­tiert. Auch 2022 pro­to­kol­lie­ren wir wie­der zehn Ein­zel­fäl­le, die wir oder unse­re Kolleg*innen in den Lan­des­flücht­lings­rä­ten bei unse­rer all­täg­li­chen Arbeit mit­be­kom­men. Die Geschich­ten von Yasa­man, Eli­za M.*, Gabri­el, Fami­lie G., Herrn Kuma­ri*, Ade­ba­yo E.*, Wael*, Tamar Sube­lia­ni, Ami­la* und Far­rukh sind dra­ma­tisch und bei­spiel­haft – aber nur die Spit­ze des Eisbergs.

Abschie­bun­gen kom­men in Deutsch­land jeden Tag vor. Allein im ers­ten Halb­jahr 2022 gab es 6.198 davon. Land­auf-land­ab ver­lie­ren Men­schen so unver­mit­telt ihre Kolleg*innen, Freund*innen, Nachbar*innen oder Mitschüler*innen. Manch­mal kön­nen sie im letz­ten Moment noch abge­wen­det oder sogar nach­träg­lich auf­wän­dig rück­gän­gig gemacht wer­den. Oft ist das auch dem Enga­ge­ment von Unterstützer*innen oder unab­hän­gi­gen Bera­tungs­stel­len zu ver­dan­ken. Wir freu­en uns daher über jede Spen­de an Struk­tu­ren, die Geflüch­te­ten in sol­chen Situa­tio­nen ent­schei­dend zur Sei­te ste­hen. Ganz egal, ob sie an PRO ASYL, einen der Lan­des­flücht­lings­rä­te oder kom­mu­na­le & loka­le Flücht­lings­in­itia­ti­ven geht. Denn nur mit einem brei­ten Netz­werk kön­nen wir wei­ter­hin etwas gegen bru­ta­le und unmensch­li­che Abschie­bun­gen unternehmen!

Auf­fäl­lig ist die­ses Jahr: Vie­le Betrof­fe­ne hät­ten vom kürz­lich beschlos­se­nen Chan­cen-Auf­ent­halts­recht für gedul­de­te Men­schen, die schon seit über fünf Jah­ren in Deutsch­land leben, pro­fi­tiert. Wäh­rend daher in eini­gen Bun­des­län­dern Rege­lun­gen erlas­sen wur­den, die sol­che Abschie­bun­gen »in letz­ter Sekun­de« ver­hin­dern, wur­den sie in ande­ren Bun­des­län­dern offen­bar sogar bewusst forciert.

Fall #1: Mit 13 plötzlich im Iran

Die 13-jäh­ri­ge Yasa­man sitzt mit einer Freun­din in ihrem Zim­mer im hes­si­schen Büdin­gen, schreibt die Hes­sen­schau, als Mit­te März plötz­lich die Poli­zei im Haus der Fami­lie Gha­li­an­loo steht. Nach zehn Jah­ren in Deutsch­land sol­len die Gha­li­an­loos in den Iran abge­scho­ben wer­den. »Wir hat­ten ein Haus, Auto, mei­ne Eltern hat­ten bei­de Arbeit. Ich ver­ste­he das nicht, es ist so unge­recht«, erzählt Yasa­man im Inter­view. Denn die Fami­lie erfüll­te tat­säch­lich alle Vor­aus­set­zun­gen für ein Blei­be­recht. Doch auf­grund der kom­pli­zier­ten Behör­den­vor­ga­ben wur­den Anträ­ge nicht gestellt – und das ange­kün­dig­te Chan­cen-Auf­ent­halts­recht ist noch nicht in Kraft, auch die hes­si­sche Vor­griffs­re­ge­lung galt im März noch nicht. »Mit wel­cher Här­te hier eine Abschie­bung voll­zo­gen wird und ein in Deutsch­land auf­ge­wach­se­nes Kind aus sei­nem nor­ma­len Leben geris­sen und sei­ner Zukunfts­chan­cen beraubt wird, das lässt einen schon fas­sungs­los zurück« kom­men­tiert der Hes­si­sche Flücht­lings­rat.

»Wir hat­ten ein Haus, Auto, mei­ne Eltern hat­ten bei­de Arbeit. Ich ver­ste­he das nicht, es ist so ungerecht.«

Yasa­man (13), war seit sie 3 ist in Deutschland

Yasa­man, die den Iran mit drei Jah­ren ver­las­sen hat, muss nun erst­mal Per­sisch schrei­ben ler­nen. Und sich an die neue Kopf­tuch­pflicht gewöh­nen. Trau­ri­ge Poin­te des gan­zen Vor­gangs: Für den Vater der Fami­lie war kein Platz mehr im Abschie­be­flie­ger, er muss­te spä­ter »frei­wil­lig« aus­rei­sen, um bei sei­ner Fami­lie zu sein.

Fall #2: Im siebten Monat schwanger – und die Familie wird abgeschoben

Schon wie­der Cel­le in Nie­der­sach­sen: Wie schon im ver­gan­ge­nen Jahr ist der Land­kreis Schau­platz einer beson­ders unwür­di­gen Abschie­bung. Eli­za M.* ist im sieb­ten Monat schwan­ger und den Behör­den ist bekannt, dass sie auf­grund einer Risi­ko­schwan­ger­schaft nicht abge­scho­ben wer­den darf. Trotz­dem steht am 20. Janu­ar mit­ten in der Nacht die Poli­zei in der Woh­nung der Fami­lie. Frau M. wird auf­grund der Rechts­la­ge »nur« die »frei­wil­li­ge Aus­rei­se« nahe­ge­legt – dafür wer­den der Kinds­va­ter und die vier Kin­der kur­zer­hand zum Abschie­be­flie­ger gebracht und noch am sel­ben Tag nach Geor­gi­en abgeschoben.

Der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen dazu: »Erst igno­riert die Aus­län­der­be­hör­de, dass die Fami­lie nicht abge­scho­ben wer­den darf, und ver­sucht es den­noch. Als ihr das Gan­ze zu gefähr­lich wird, dekla­riert sie die Aus­set­zung der Abschie­bung zu einem für­sorg­li­chen Akt und bie­ten Frau M. eine »frei­wil­li­ge Aus­rei­se« an. Wäre den Behör­den tat­säch­lich an Frau M. und ihrem unge­bo­re­nen Kind gele­gen, dann hät­ten sie die Fami­lie nicht aus­ein­an­der­ge­ris­sen.«

Fall #3: Wenn der Mitschüler morgens nicht kommt

Als Gabri­el E. am 12. Juli weder in der Schu­le noch in der Tages­stät­te im Land­kreis Dach­au erscheint, wun­dern sich die Betreuer*innen. Auch von sei­nen Geschwis­tern fehlt jede Spur. Abends erfah­ren sie von Nachbar*innen von Fami­lie E.: Die Eltern und die drei Kin­der im Alter von sechs bis elf Jah­ren wur­den um ein Uhr Nachts von der Poli­zei abge­holt und nach Lagos in Nige­ria abgeschoben.

Der Baye­ri­sche Flücht­lings­rat kom­men­tiert: »Die Abschie­bung die­ser sehr gut inte­grier­ten Fami­lie ist ein Skan­dal. Arbeit­ge­ber, Schu­le und Betreue­rin setz­ten sich für die Fami­lie ein. Die völ­lig unnö­ti­ge Abschie­bung kurz vor Inkraft­tre­ten des Chan­cen-Auf­ent­halts­rechts lässt den Schluss zu, dass in Bay­ern schnell noch vie­le der­je­ni­gen, die von dem Gesetz pro­fi­tie­ren wür­den, abge­scho­ben wer­den sol­len«denn auch Bay­ern hat kei­ne ent­spre­chen­de Vorgriffsregelung.

Dabei sind sol­che Abschie­bun­gen nicht nur unmensch­lich, son­dern auch völ­lig unver­ständ­lich – der Vater arbei­te­te jah­re­lang, bis ihm die Arbeits­er­laub­nis ent­zo­gen wur­de. Mit dem Chan­cen-Auf­ent­halts­recht hät­te er sie wie­der­erlan­gen kön­nen. Zudem soll­te der Fall in Kür­ze an die Baye­ri­sche Här­te­fall­kom­mis­si­on gehen – die baye­ri­schen Behör­den woll­ten offen­bar vor­her noch schnell trau­ri­ge Fak­ten schaf­fen. Die Mitschüler*innen von Gabri­els Schwes­ter haben nun eine Peti­ti­on zur Rück­ho­lung der Fami­lie gestartet.

Fall #4: Abschiebung um jeden Preis: Nikolaus macht den Sack zu

Die kur­di­sche Fami­lie G. floh im Jahr 2020 aus der Tür­kei. Fami­li­en­va­ter Azad G.* muss­te dort wegen sei­ner poli­ti­schen Akti­vi­tä­ten die Ver­haf­tung befürch­ten, er hat­te unter ande­rem im Kampf gegen den IS ver­letz­te Kämpfer*innen zu medi­zi­ni­schen Behand­lun­gen gebracht. Obwohl in der Tür­kei ein Haft­be­fehl gegen ihn vor­liegt, wur­de der ers­te Asyl­an­trag vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge abge­lehnt. Mit neu­en Bewei­sen dazu soll­te nun ein wei­te­res Asyl­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet wer­den. Auf­grund eines fünf­tä­gi­gen Psych­ia­trie-Auf­ent­hal­tes des Vaters ver­zö­ger­te sich jedoch die per­sön­li­che Vor­stel­lung beim BAMF zur Asylfolgeantragstellung.

Zu die­ser kam es erst­mal auch nicht, denn: Bevor die Fami­lie den Fol­ge­an­trag am 28. Sep­tem­ber per­sön­lich stel­len konn­te, wur­den Azad G., sei­ne Frau und die vier klei­nen Kin­der früh­mor­gens um 4:30 Uhr in ihrer Woh­nung in Kas­sel aus dem Schlaf geris­sen – Abschie­bung! Die Maß­nah­me wur­de letzt­lich glück­li­cher­wei­se noch abge­bro­chen, in der Fol­ge wur­de Azad G. aber in Abschie­be­haft genom­men – eine völ­lig unnö­ti­ge Form der Fami­li­en­tren­nung, zumal in einer sol­chen dra­ma­ti­schen Aus­nah­me­si­tua­ti­on. Da sich Freund*innen der Fami­lie sehr schnell hil­fe­su­chend an die Öffent­lich­keit wand­ten, konn­te PRO ASYL unter­stüt­zend tätig wer­den. Nach weni­gen Tagen konn­ten die Anwält*innen erfolg­reich inter­ve­nie­ren und der Fami­li­en­va­ter wur­de entlassen.

Das Asyl­fol­ge­ver­fah­ren läuft seit­dem – jedoch wur­de am Niko­laus­tag über­ra­schend ein zwei­ter Abschie­be­ver­such unter­nom­men und letzt­lich vollzogen.

Das Asyl­fol­ge­ver­fah­ren läuft seit­dem – jedoch wur­de am Niko­laus­tag über­ra­schend ein zwei­ter Abschie­be­ver­such unter­nom­men und letzt­lich voll­zo­gen. Für die Abschie­bung der sechs­köp­fi­gen Fami­lie wur­den kei­ne Kos­ten und Mühen gescheut: Um 5 Uhr mor­gens wur­de die Fami­lie erneut abge­holt und in einem eigens gechar­ter­ten Flug­zeug in die Tür­kei geflo­gen. PRO ASYL als auch die Anwalts­kanz­lei erfuh­ren erst nach der bereits am Vor­mit­tag erfolg­ten Abschie­bung davon. Der Fall wird jetzt im Nach­gang noch­mal von allen Betei­lig­ten aufgearbeitet.

Fall #5: Zukunft in Aussicht? Abschieben!

Herr Kuma­ri* kann sich gro­ße Hoff­nun­gen machen: Die neue Bun­des­re­gie­rung hat das Chan­cen-Auf­ent­halts­recht ange­kün­digt und ohne­hin feh­len ihm nur noch weni­ge Wochen, bis er eine Beschäf­ti­gungs­dul­dung erlan­gen kann. Außer­dem arbei­tet er seit fünf Jah­ren in Voll­zeit und hat sich nichts zuschul­den kom­men las­sen. Aber im Sep­tem­ber wird er uner­war­tet in Abschie­be­haft genom­men. Der Flücht­lings­rat Baden-Würt­tem­berg pro­tes­tiert noch gegen die Abschie­bung – aber ver­ge­bens, kurz dar­auf wird Herr Kuma­ri schließ­lich nach Sri Lan­ka abgeschoben.

Ver­wand­te schil­dern, dass er dort nach der Ankunft fest­ge­nom­men wur­de, nach Infor­ma­tio­nen des Flücht­lings­ra­tes ist er mitt­ler­wei­le aber wie­der in Frei­heit. Beson­ders bit­ter: Kei­ne vier Wochen spä­ter hat die Lan­des­re­gie­rung in Baden-Würt­tem­berg end­lich ver­kün­det, dass Men­schen, die vom Chan­cen-Auf­ent­halts­recht pro­fi­tie­ren wür­den, nun nicht mehr abge­scho­ben wer­den sol­len. Herr Kuma­ri wäre so ein Mensch gewe­sen – nun hat sei­ne Fir­ma einen unver­zicht­ba­ren Mit­ar­bei­ter verloren.

Fall #6: Abschiebe-Wahn schlägt Kinderrechte?

Ade­ba­yo E.* ist 38, arbei­tet in der Metall­wei­ter­ver­ar­bei­tung und lebt mit sei­ner Part­ne­rin, ihrem ältes­ten Kind und drei gemein­sa­men Kin­dern im Alter von zwei bis sie­ben Jah­ren in Gel­sen­kir­chen. Das ältes­te Kind hat auf­grund des deut­schen Vaters die deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit, die ande­ren eine dau­er­haf­te Auf­ent­halts­er­laub­nis. Und Ade­ba­yo hofft auf das Chan­cen-Auf­ent­halts­recht. Da er schon seit 2015 in Deutsch­land lebt und Voll­zeit arbei­tet, ist er prä­de­sti­niert dafür. Im August 2022 ist das neue Gesetz aber noch nicht beschlos­sen – und die Stadt Gel­sen­kir­chen schiebt ihn kur­zer­hand im Rah­men einer Sam­mel­ab­schie­bung nach Nige­ria ab. Obwohl es eigent­lich in NRW sogar einen Vor­griffs­er­lass aufs Chan­cen-Auf­ent­halts­recht gibt.

Das Abschie­bungs­re­port­ing NRW berich­tet über den Fall und die zyni­sche Begrün­dung: Die Fami­li­en­ein­heit kön­ne die Fami­lie auch in Nige­ria bewah­ren. Ganz abge­se­hen davon, dass alle Kin­der in Deutsch­land gebo­ren wur­den, wür­de damit auch in Kauf genom­men, dass das ältes­te Kind kei­nen per­sön­li­chen Kon­takt mit sei­nem leib­li­chen Vater mehr pfle­gen kann. Die zustän­di­ge Behör­de macht in ihrem Abschie­be­wahn also nicht nur nicht vor gut inte­grier­ten Men­schen, die bald einen regu­lä­ren Auf­ent­halt erlan­gen könn­ten, Halt, sie nimmt auch kei­ne Rück­sicht auf die Rech­te und Bedürf­nis­se von Kleinkindern.

Fall #7: Wael*: Schwer krank und schutzlos in Polen

Wael* ist einer von vie­len Men­schen, die im ver­gan­ge­nen Jahr über die pol­nisch-bela­rus­si­sche Gren­ze in die EU und spä­ter nach Deutsch­land kamen und die von der PRO ASYL-Ein­zel­fall­be­ra­tung und dem Rechts­hil­fe­fonds unter­stützt wer­den, um eine Abschie­bung zu ver­hin­dern. Denn sie alle schil­dern schreck­li­che Erlebnisse:

Etwa 40 Minu­ten, erin­nert sich Wael, schlu­gen bela­rus­si­sche Ein­hei­ten immer wie­der auf ihn ein. Die Hie­be mit Schlag­stö­cken ziel­ten vor allem auf das Becken und den Rücken des 39-jäh­ri­gen, der im Herbst 2021 vor dem syri­schen Bür­ger­krieg floh und ver­such­te, über Bela­rus in die EU zu gelan­gen. Pol­ni­sche Ein­hei­ten grif­fen ihn nach dem geglück­ten Grenz­über­tritt auf, brach­ten ihn ohne jedes Ver­fah­ren an die bela­rus­si­sche Gren­ze zurück und lie­fer­ten ihm damit sei­nen Pei­ni­gern aus. Wie sich viel spä­ter her­aus­stellt, erlei­det Wael durch die Miss­hand­lun­gen schwe­re Ver­let­zun­gen an der Hüf­te, die drin­gend ope­ra­tiv behan­delt wer­den müss­ten – doch auch ein Jahr spä­ter hat das nicht statt­ge­fun­den. Im Janu­ar 2022 schafft es Wael erneut über die pol­ni­sche Gren­ze und wird meh­re­re Mona­te in ver­schie­de­nen Lagern inhaf­tiert. Wie alle hier bleibt er im Unge­wis­sen über die Län­ge der Inhaf­tie­rung und den Stand des Asyl­ver­fah­rens und fühlt sich hin­ter Sta­chel­draht und Git­tern wie ein Kri­mi­nel­ler. Aus Pro­test schließt er sich einem Hun­ger­streik an.

Der nun­mehr auf Krü­cken ange­wie­se­ne Wael wird von der Grenz­po­li­zei ohne Ver­sor­gung, ohne Unter­kunft und mit nur weni­gen ver­blie­be­nen Tablet­ten aus Deutsch­land vor dem War­schau­er Flug­ha­fen ausgesetzt.

Als er es schließ­lich nach Deutsch­land schafft, wird sein Asyl­an­trag als unzu­läs­sig abge­lehnt: Polen soll für sein Asyl­ver­fah­ren zustän­dig sein, trotz der schreck­li­chen Erleb­nis­se dort. Die Abschie­bung droht, Waels Gesund­heits­zu­stand ver­schlech­tert sich wei­ter. Sein Hüft­scha­den wird nicht behan­delt. Er lei­det unter sehr star­ken Schmer­zen, ver­sucht sich das Leben zu neh­men und kommt in die Psych­ia­trie. Nach sei­ner Ent­las­sung wird er trotz sei­nes wei­ter­hin kri­ti­schen Gesund­heits­zu­stan­des und in extrem geschwäch­ter Ver­fas­sung nach Polen abgeschoben.

Durch die Inter­ven­ti­on meh­re­rer Stel­len kann die erneu­te Inhaf­tie­rung in Polen in letz­ter Sekun­de ver­hin­dert wer­den. Der nun­mehr auf Krü­cken ange­wie­se­ne Wael wird von der Grenz­po­li­zei ohne Ver­sor­gung, ohne Unter­kunft und mit nur weni­gen ver­blie­be­nen Tablet­ten aus Deutsch­land vor dem War­schau­er Flug­ha­fen ausgesetzt.

Fall #8: »Ich hatte keine 15 Minuten Zeit meine Sachen zu packen…«

…das erzählt Tamar Sube­lia­ni dem SWR. Die jun­ge Frau macht eine Aus­bil­dung zur Erzie­he­rin in Stutt­gart – bis im Okto­ber die Poli­zei vor der Tür steht und sie sofort nach Geor­gi­en abschiebt. Obwohl sie in Aus­bil­dung war, konn­te sie noch kei­ne Aus­bil­dungs­dul­dung bean­tra­gen, da ihr Asyl­an­trag erst kürz­lich abge­lehnt wor­den war. Die Mög­lich­keit hät­te sich nach Ablauf einer War­te­frist im Novem­ber eröff­net – aber vor­her haben die Behör­den schon voll­ende­te Tat­sa­chen geschaf­fen. Klassenkamerad*innen, Ausbilder*innen und die Ver­ant­wort­li­chen ihrer Gemein­schafts­un­ter­kunft sind glei­cher­ma­ßen fassungslos.

»Ich habe mich gefühlt wie eine Kri­mi­nel­le und das war das schlimms­te Gefühl, das ich jemals gespürt hatte.«

Tamar Sube­lia­ni zum SWR

Fall #9: Vierjährige abgeschoben, Vater verzweifelt

Die Situa­ti­on der klei­nen Ami­la* ist ohne­hin schon kom­pli­ziert. Ihre Eltern sind getrennt und tei­len sich das Sor­ge­recht, die Vier­jäh­ri­ge lebt bei der Mut­ter. Immer wie­der kommt es aber zu Mel­dun­gen über eine mög­li­che Kin­des­wohl­ge­fähr­dung, meh­re­re Ver­fah­ren dazu lau­fen, der Vater bemüht sich dar­um, dass sei­ne Toch­ter zu ihm zie­hen kann. Mit­ten in die­se Gemenge­la­ge hin­ein schiebt die Aus­län­der­be­hör­de im Ober­ber­gi­schen Kreis Mut­ter und Toch­ter ein­fach nach Sri Lan­ka ab.

Der Vater – der nicht aus Sri Lan­ka, son­dern aus Nige­ria stammt – ist ver­zwei­felt. Nicht nur, dass er nun kei­ne Mög­lich­keit mehr hat, sein Kind zu sehen – es ist auch unklar, wie das Mäd­chen in Sri Lan­ka von ihrer Mut­ter über­haupt ver­sorgt wer­den kann. Das Abschie­bungs­re­port­ing NRW fragt zu dem Vor­gang: »Wie kann es sein, dass ein in Deutsch­land gebo­re­nes Mäd­chen mit­ten in einem gericht­li­chen Über­prü­fungs­ver­fah­ren zu einer mög­li­chen Kin­des­wohl­ge­fähr­dung durch des­sen Mut­ter mit die­ser gemein­sam in ein frem­des Land abge­scho­ben und damit auf unab­seh­ba­re Zeit vom eben­falls sor­ge­be­rech­tig­ten Vater getrennt wird?«

Fall #10: Abschiebung einen Tag vorm Vorstellungsgespräch beim Landratsamt

Früh­mor­gens am 8. Febru­ar beginnt für Far­rukh ein Alb­traum: Die Poli­zei klopft an sei­ner Tür der Geflüch­te­ten­un­ter­kunft in Hoyers­wer­da und holt ihn zur Sam­mel­ab­schie­bung nach Paki­stan ab. Er hat­te bis spät in die Nacht gelernt, weil eine Woche spä­ter die letz­te Prü­fung für sei­nen Bache­lor in Wirt­schafts­in­for­ma­tik ansteht. Am Fol­ge­tag wur­de er  bereits zu einem Vor­stel­lungs­ge­spräch beim Land­rats­amt für Schu­le und Bil­dung ein­ge­la­den, als Sach­be­ar­bei­ter für Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­nik. Doch dazu wird es jetzt nicht mehr kom­men. »Es fehl­te nur noch eine Prü­fung, mei­ne Stu­di­en­be­schei­ni­gung bestä­tigt das. Ges­tern habe ich noch für mei­ne Klau­sur gelernt und heu­te wer­de ich abge­scho­ben. Mein kom­plet­tes Leben ist zer­stört«, sagt Far­rukh dem Säch­si­schen Flücht­lings­rat – bevor der Kon­takt abbricht, weil die Poli­zei mit der Abschie­bung beginnt.

»Es fehl­te nur noch eine Prü­fung, mei­ne Stu­di­en­be­schei­ni­gung bestä­tigt das. Ges­tern habe ich noch für mei­ne Klau­sur gelernt und heu­te wer­de ich abge­scho­ben. Mein kom­plet­tes Leben ist zerstört«

Far­rukh aus Pakistan

Dabei wer­den Men­schen wie er, die ein dua­les Stu­di­um im IT-Bereich abschlie­ßen, hän­de­rin­gend gesucht. Außer­dem hät­te auch er vom Chan­ce-Auf­ent­halts­recht pro­fi­tiert, da er seit mehr als fünf Jah­ren in Deutsch­land lebt. Anders als ande­re Bun­des­län­dern hat Sach­sen aber kei­ne Vor­griffs­re­ge­lung erlassen.

Far­rukh hat sei­ne letz­te Online-Klau­sur trotz der Abschie­bung und der psy­chi­schen Belas­tung bestan­den –  von Paki­stan aus. Mitt­ler­wei­le hat er nach vir­tu­el­len Vor­stel­lungs­ge­sprä­chen von drei unter­schied­li­chen Unter­neh­men Job­an­ge­bo­te erhal­ten. Aber er kann sie nicht anneh­men: Die ihm durch die Abschie­bung auf­er­leg­ten Ein­rei­se- und Auf­ent­halts­ver­bo­te ver­hin­dern der­zeit, dass er für die­se Stel­len zurück nach Deutsch­land keh­ren darf.

(mk)

*Namen geän­dert