News
Die »Rückführungsoffensive« gibt es schon längst – und das bedeutet sie
Neben einigen positiven Aspekten kündigt der Koalitionsvertrag auch eine »Rückführungsoffensive« an. Doch die gibt es schon längst. Anstatt die vielen Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre zurückzudrehen, soll die harte Abschiebepolitik also auch unter der Ampel weitergehen. Was das in der Praxis heißt? Das zeigen unsere Fallbeispiele 2021.
Zwischen Frühjahr und Sommer 2020 sorgte die Corona-Pandemie dafür, dass sogar die deutsche Abschiebemaschinerie gestoppt wurde – und trotzdem gab es in dem Jahr über 10.000 Abschiebungen. Dieses Jahr dürfte die Zahl demzufolge noch einmal höher sein – und hinter jeder dieser Ziffern stecken menschliche Schicksale.
Schon 2018, 2019 und 2020 haben wir die Abschiebepolitik der deutschen Behörden anhand einer Fallsammlung dokumentiert und auch 2021 protokollieren wir wieder zehn Einzelfälle, die wir oder unsere Kolleg*innen in den Landesflüchtlingsräten bei unserer alltäglichen Arbeit mitbekommen.
Damit niemand vergisst, was es letztendlich bedeutet, wenn auch die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag weiter mit markigen Worten auf vermehrte Abschiebungen setzt. Nämlich, dass auch weiterhin kranke und traumatisierte Geflüchtete abgeschoben und sogar Familien nachts aus ihren Betten geholt werden.
Fall #1: Dienstag ist Amins Erster Schultag. Montagabend kommt die Polizei
»Wir haben noch Kleidung und Schulsachen gekauft« sagt Roya Rafiyeva der Passauer Neuen Presse, denn Mitte September enden die bayerischen Sommerferien und der zehnjährige Amin hat am 14.9. seinen ersten Schultag auf dem Gymnasium im bayerischen Simbach. Aber stattdessen ist er zu diesem Zeitpunkt bereits gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Shakir (16) und Jolie (2) in Baku, Aserbaidschan.
Von dort war Roya Rafiyeva aufgrund ihrer Arbeit als regimekritische Journalistin vor Jahren geflohen. Seit ihrer Abschiebung wird sie dort nun verhört und bedroht, die Kinder können noch nicht wieder zur Schule gehen, wie Unterstützer*innen berichten. Shakir hätte währenddessen in Deutschland Chancen auf ein Bleiberecht nach §25a gehabt – aber die zwischenzeitlich entzogene Duldung machte die Hoffnungen zunichte, obwohl er sonst alle Voraussetzungen erfüllte.
Und als wäre all das nicht schlimm genug, sorgte die Abschiebung auch noch für eine Familientrennung: Der Vater der erst zweijährigen Jolie stammt aus Afghanistan und befindet sich weiterhin in Deutschland, hier läuft sein Asylfolgeantrag.
Fall #2: Kein Schutz vor Zwangsheirat und Femizid für Arjana*
Arjana* aus Albanien lebt in Grillenburg in einer Unterkunft für besonders vulnerable Geflüchtete. Am 21. Juli wird sie dort um Mitternacht gemeinsam mit einer weiteren jungen Frau abgeholt – obwohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärt hatte, dass vor der gerichtlichen Klärung über Rechtsmittel keine Abschiebung stattfinden würde.
»Neben der Tatsache, dass das laufende gerichtliche Verfahren übergangen wurde, ist sie jetzt der akuten und gegenwärtigen Verfolgung durch ihre Familie in Albanien ausgesetzt« schreibt der Sächsische Flüchtlingsrat dazu, denn Arjana war nach Deutschland geflohen, um der erzwungenen Hochzeit mit einem älteren, wohlhabenden Mann zu entgehen. Bereits nachdem ihr erster Asylantrag abgelehnt worden war, drohte die Familie ihr im Falle ihrer Rückkehr nach Albanien mit dem Tod.
Fall #3: Omar F. Kurz vor dem Bleiberecht nach Somalia abgeschoben
Omar F. lebt seit fast acht Jahren in Deutschland. Noch wenige Monate und er hätte eine Aufenthaltserlaubnis erlangen können, da er bereits seit Jahren als Maschinenführer arbeitet und seinen Lebensunterhalt somit selbst sichern kann. Auch eine Beschäftigungsduldung war in greifbarer Nähe, nur aufgrund der Dauer des Asylverfahrens fehlten ihm noch ein paar Wochen mit »normaler« Duldung.
»Es ist doch völlig absurd, jemanden, der fast acht Jahre in Deutschland lebt, hervorragend integriert ist und seit Jahren in Vollzeit arbeitet, abzuschieben, kurz bevor er von den Regelungen profitieren kann, die extra für Menschen wie ihn gemacht wurden.«
Eben jene Duldung wollte er am 15. Februar auf der Ausländerbehörde in Darmstadt verlängern – und war zwei Tage später schon in Mogadischu, denn er wurde an Ort und Stelle in Abschiebehaft genommen. Auch für seine Arbeitskolleg*innen kommt das aus heiterem Himmel, der Chef sagt gegenüber dem Hessischen Flüchtlingsrat: »Wir sind hier im Betrieb alle völlig schockiert. Wir setzen alles daran, dass Omar wieder nach Deutschland kommen kann, würden sogar das Ticket bezahlen«. Genau das ist aber leider schwierig – für ein Arbeitsvisum müsste Omar eine sog. »qualifizierte Beschäftigung« ausüben, die zweijährige Wiedereinreisesperre abwarten und für die Kosten seiner Abschiebung aufkommen. Stattdessen sitzt er nun also in Somalia, einem Staat, der seit Jahrzehnten von Krieg, Terror und Hunger gekennzeichnet ist.
Fall #4: Um 3 Uhr nachts holt die Polizei Oma und Opa ab
Seljveta und Selatin Islami leben seit 30 Jahren im Landkreis Göttingen. Ihre Kinder sind hier geboren und aufgewachsen, die meisten wohnen mit ihrer eigenen Familie gemeinsam mit ihnen unter einem Dach. Bis zum 30. Juni 2021, als um 3 Uhr nachts die Tür aufgebrochen wird. Die Großeltern werden in Handschellen zum Flugzeug gebracht und nach Serbien abgeschoben – obwohl sie als Roma aus dem Kosovo kaum serbisch sprechen.
Auch haben sie dort keine Verwandten mehr, die ganze Familie lebt in Deutschland. Einzig ein Bruder von Seljveta wurde ebenfalls vor einigen Jahren abgeschoben, wie der Niedersächsische Flüchtlingsrat berichtet – er wurde kurz später in Pristina von einem albanischen Nationalisten ermordet. Mit Kundgebungen und einer Petition kämpfen die anderen Familienmitglieder und Unterstützer*innen jetzt für die Rückkehr des Ehepaars.
Über einen sehr ähnlichen Fall hatten wir bereits im vergangenen Jahr berichtet. Damals waren Sali K. und Mire G. nach 28 Jahren aus Biberach, Baden-Württemberg abgeschoben worden. Nur fünf Monate nach der Abschiebung ist Sali K. auch aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung im Kosovo leider verstorben.
Fall #5 Ahmad (7) – Aus dem Unterricht zum Abschiebeflieger
Ahmad T. ist am 30. November auf dem Weg von seiner Grundschule in Delitzsch in den Hort als er unter den Augen seiner Mitschüler*innen vom Lehrpersonal und der Polizei in einen Einsatzwagen gebracht wird. Seine Mutter war gemeinsam mit ihm vor dem gewalttätigen Vater aus Tschetschenien geflüchtet, nun sollen sie in ihren EU-Ersteinreisestaat Polen zurückgebracht werden.
»Vor allen anderen Schulkindern einen Erstklässler in ein Polizeiauto zu stecken, kann doch nicht normal sein!«
Auch in Polen wurde sie von Mittelsmännern ihres Mannes jedoch weiterhin bedroht, weshalb sie mehrfach versuchte, in Deutschland Sicherheit zu finden. Dort hatten Ahmad und sie sich sehr gut eingelebt, wie Ahmads Erzieherin dem Sächsischen Flüchtlingsrat erzählt: »Es gab nie Probleme mit ihm oder seiner Mutter, beide waren sehr engagiert.«
Ab dem 11. Dezember wäre Deutschland für das Asylverfahren zuständig gewesen, kurz zuvor führten die Behörden doch noch die Abschiebung durch – so wird zumindest vermutet, denn der Kontakt der Unterstützer*innen zu Ahmads Mutter ist seither abgerissen.
Fall #6: Trotz Votum der Härtefallkommission WIRD Familie Deda* ABGESCHOBEN
Frau Deda* liegt am 21. April in einer Bonner Klinik, sie ist suizidgefährdet. Ihre zwei kleineren Kinder sind daher in Siegburg in einem Kinderheim untergebracht. Der älteste Sohn befindet sich in der Familienwohnung in Hennef. Um 4 Uhr nachts taucht die Polizei an allen Orten auf und schiebt die Familie sofort von Düsseldorf nach Albanien ab.
Obwohl die Härtefallkommission von Nordrhein-Westfalen und der Petitionsausschuss des Landtages für ein humanitäres Bleiberecht für Familie Deda votiert hatten – die Ausländerbehörde Rhein-Sieg zog die Abschiebung trotzdem durch. Denn ein Ersuchen der Härtefallkommission ist nicht bindend. Obwohl, wie die Diakonie An Rhein und Sieg berichtet, der gewalttätige Ex-Mann von Frau Deda zwischenzeitlich sogar nach Deutschland reiste, um sie dort zu bedrohen – und von der Polizei der Wohnung verwiesen werden musste. Obwohl die in Albanien vorliegende Bedrohung also auch für die deutschen Behörden offensichtlich gewesen sein muss.
Für die Abschiebung ausschlaggebend war u.a., dass die Familie ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig sichern könne – dabei hatten die Behörden selbst Frau Deda verweigert, eine Ausbildung zur Pflegehelferin anzutreten.
Fall #7: Milad (16) und seine Schwester – Von Unterschleißheim nach Rom
Milads Lehrerin ist schockiert, als sie morgens aufwacht und die Nachrichten von ihrem 16-jährigen Schüler aus Afghanistan liest. Seit Oktober 2020 leben er und seine Schwester in Deutschland, bis sie am 8. November abgeschoben werden – denn Europa erreichten die beiden mit einem Flüchtlingsboot. Gemäß Dublin-Regularien ist damit der Ersteinreisestaat Italien zuständig – und die Behörden nahmen wie so oft keine Rücksicht auf den bewegten Lebensweg der Geschwister.
»Milad hat eine Chance verdient, er war gut vernetzt. Es ist unmenschlich, dass er wieder entwurzelt wird, nach dem, was er in Afghanistan und auf der Flucht erlebt hat« sagt auch die dritte Bürgermeisterin von Milats Wohnort Unterschleißheim zu den Vorgängen. Denn dass Milad und seine Schwester Schutz in Europa erhalten werden, ist aufgrund der Situation in Afghanistan sehr wahrscheinlich. In Italien müssen sie jetzt allerdings wieder von vorne anfangen – und dort erhalten Geflüchtete oft kaum Unterstützung.
Fall #8: »Shayon gehört nach Nümbrecht«
Der achtjährige Shayon lebt schon seit drei Jahren gemeinsam mit seinem Vater, der Stiefmutter und dem hier geborenen Halbbruder in Nümbrecht, Nordrhein-Westfalen – und spielt leidenschaftlich gerne Fußball. Deswegen ist die Empörung in seinem Fußballverein auch riesig, als Shayon am 30. September zusammen mit der Stiefmutter und dem Halbbruder morgens um 6 Uhr von der Polizei abgeholt und nach Bangladesch abgeschoben wird. Der Vater ist da aus Angst vor der Abschiebung schon seit einigen Wochen verschwunden.
»Mir fehlt meine Schule und mein Fußball. Ich will zurück nach Deutschland. Ich bin traurig.«
Seither sitzt die Rohingya-Familie in Dhaka fest, es geht es ihnen nicht gut, die Stiefmutter ist erkrankt – und Shayon vermisst seinen Fußball. Dort, bei der SG Nümbrecht/Bröltal, vermisst man ihn genauso und deshalb werden jetzt alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Familie zurückzuholen – oder ihr zumindest Geld für Lebensmittel und Medikamente zukommen zu lassen.
Fall #9: Bring back our neighbours. Familie Imerlishvili ist kein Einzelfall!
Auch am 10. Juni 2021 steht die Polizei um 1 Uhr nachts wieder vor der Tür einer Familie, um sie aus ihrem gewohnten Leben zu reißen. Diesmal handelt es sich um Familie Imerlishvili aus Pirna. Seit acht Jahren lebt sie in Deutschland, fünf der Kinder sind hier geboren und sprechen überhaupt kein Georgisch, die Eltern gehen einer geregelten Arbeit nach. Auch die Härtefallkommission spricht sich noch gegen die Abschiebung aus – da ist es allerdings schon zu spät.
Aber ihre Freund*innen aus Deutschland nehmen das nicht stillschweigend hin. »Wir haben bereits eine andere, eigene Wohnung für sie. Die Eltern können ihre alten Jobs wieder aufnehmen und das Einkommen der Familie überwiegend selber sichern. Die Kinder können zurück in ihre Klassen« schreiben sie auf der eigens eingerichteten Webseite bringbackourneighbours.de. Und sie haben tatsächlich Erfolg: Schon Mitte August urteilt das OVG Sachsen, dass Familie Imerlishvili zurückgeholt werden muss. Die zwei ältesten Kinder hätten »Anspruch auf Erteilung einer verfahrensbezogenen Duldung« gehabt.
Wenige Tage später sind die Imerlishvilis zurück in Deutschland. Ihre Nachbar*innen berichten: »Die Familie hat sich mittlerweile wieder eingelebt in Schule, Beruf und Alltag. Ihr Aufenthalt ist noch nicht sicher, aber da bleiben wir dran!«
Fall #10: Die kleine Djuliana* – Trotz Schwerbehinderung abgeschoben
Djuliana* wurde 2015 in Celle geboren. Der Niedersächsische Flüchtlingsrat schreibt zu ihr: »Das Mädchen leidet unter einer schweren Hörminderung mit verbundener Spracherwerbsstörung, einer Mikrozephalie und einer Hüftdysplasie. Das Landessozialamt hatte deswegen bei ihr einen Grad der Behinderung von 90 festgestellt.«
»Die Celler Behörden schieben ein 6‑jähriges schwerbehindertes Mädchens aus Celle nachts mit seiner Mutter in ein für sie völlig unbekanntes Land ab. Sie nehmen dafür eine schwere Kindeswohlgefährdung billigend in Kauf.«
Das hält die Behörden in Celle aber ebensowenig wie die psychiatrische Behandlung der Mutter oder ein laufender Härtefallantrag davon ab, die beiden Roma Ende Juni nach Serbien abzuschieben. Natürlich wieder einmal mitten in der Nacht und ohne Vorankündigung. Der AK Asyl und Migration Celle ist weiter mit ihnen in Kontakt und sammelt Spenden für den Lebensunterhalt – denn in Serbien bekommen sie keinerlei Unterstützung.
EXTRA: Es geht auch anders – Abschiebung von Nazdar E. verhindert!
Im April diesen Jahres wird Nazdar E. aus ihrer Unterkunft in Kassel abgeholt, ihre Abschiebung in die Türkei steht kurz bevor – unglaublich, denn dort war die politisch aktive Kurdin aus Cizre bereits fünf Jahre lang inhaftiert, weitere Anklagen laufen. Faire Verfahren hat sie in der aktuellen politischen Situation nicht zu erwarten, das zeigen die vielen Meldungen über inhaftierte kurdische Politiker*innen und Aktivist*innen.
Die unmittelbare Abschiebung wird wegen ihres passiven Widerstandes abgebrochen, Nazdar E. landet im Abschiebegefängnis. Unter anderem über Twitter machen Freund*innen und Unterstützer*innen den Fall bekannt, es gibt mehrere Kundgebungen und Solidaritätsaktionen – auch PRO ASYL wird darauf aufmerksam.
Nach vielen Interventionen wird Nazdar E. eine Woche später aus der Abschiebehaft entlassen, wie der Hessische Flüchtlingsrat am 15. April vermeldet. Daraufhin gelingt es mit juristischer Unterstützung, das Asylverfahren mit einem Asylfolgeantrag wieder in Gang zu bringen. Nach einer neuerlichen Anhörung kommt im September dann die erlösende Nachricht: Nazdar E. erhält endlich Schutz in Deutschland!
(mk)
*Namen geändert
Die geschilderten Geschichten sind beispielhafte Fälle – aber leider keine Einzelfälle. Abschiebungen kommen in Deutschland jeden Tag vor. Manchmal können sie im letzten Moment noch abgewendet oder sogar nachträglich aufwändig rückgängig gemacht werden. Oft ist das auch dem Engagement von Freund*innen, Unterstützer*innen oder unabhängigen Beratungsstellen zu verdanken. Wir freuen uns daher über jede Spende an Strukturen, die Geflüchteten in solchen Situationen entscheidend zur Seite stehen. Ganz egal, ob sie an PRO ASYL, einen der Landesflüchtlingsräte oder kommunale & lokale Flüchtlingsinitiativen geht. Denn nur mit einem solchen breiten Netzwerk können wir weiterhin etwas gegen brutale und unmenschliche Abschiebungen unternehmen!