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Schicksal Abschiebung: Zehn Schlaglichter aus 2020
Trotz Corona-Pandemie lief die Abschiebemaschinerie auch im Jahr 2020 weiter. Die Gesamt-Abschiebezahlen dürften zwar geringer sein als in den Vorjahren, die Folgen für die betroffenen Menschen bleiben genauso schlimm – mindestens, denn viele Zielländer von Abschiebungen wurden von Corona hart getroffen.
Hinter jeder Abschiebung steckt ein Mensch, dessen Leben dadurch – oft nicht zum ersten Mal – aus den Fugen gerät. Und der Abschiebefuror der Behörden macht dabei häufig nicht einmal Halt vor Schwerkranken oder Kleinkindern – oder sogar schwerkranken Kleinkindern, wie im Falle des einjährigen Abdullah.
Obwohl die Corona-Pandemie ab März dafür sorgte, dass viele Abschiebungen abgesagt und Dublin-Überstellungen sogar vorübergehend komplett ausgesetzt wurden, ist die Maschinerie spätestens Ende des Sommer wieder angelaufen. Und während alle Bürger*innen aufgerufen werden, möglichst zuhause zu bleiben, wurden pünktlich zum Start des bundesweiten »harten Lockdowns« am 16.12. sogar Sammelabschiebungen ins Bürgerkriegsland Afghanistan erneut aufgenommen
Schon 2018 und 2019 haben wir kurze Fallsammlungen veröffentlicht, die die Schicksale hinter den nackten Zahlen deutlich machen. Auch 2020 gab es leider wieder viele ähnliche Fälle – aus den verschiedensten Bundesländern, in verschiedenste Herkunfts- oder Transitstaaten. Das einzige, was fast immer gleich ist: Die Menschen werden mitten in der Nacht oft von einem großen Polizeiaufgebot aus ihren Wohnungen geholt…
(1) Kleinkind Abdullah ohne benötigte Medikamente abgeschoben
Familie I. lebt seit sechs Jahren in Deutschland, hier wird 2019 auch ihr jüngstes Kind Abdullah* geboren. Ihm fehlt die Hirnanhangsdrüse, er ist auf Medikamente angewiesen. Glück im Unglück: In Lindhorst (Niedersachsen), wo die Familie wohnt, hat er eine Chance auf die lebensnotwendige ärztliche Versorgung.
Bis zum 4. Juni 2020 – an diesem Tag werden der einjährige Abdullah und seine Geschwister mitten in der Nacht geweckt. Um 03:30 Uhr erscheint die Polizei mit einem Großaufgebot und legt den aufgewühlten Eltern Handschellen an: Die Familie soll an den Flughafen Düsseldorf und von dort aus in ihr Heimatland Georgien gebracht werden – ein Land, das die Kinder kaum noch kennen, selbst die älteren wurden bereits in Deutschland eingeschult. Im Zuge der Prozedur werden nicht nur Abdullahs ältestem Bruder Hamza* (11) Hand- und Fußfesseln angelegt, auch die Hinweise zur Mitnahme von Medikamenten für Abdullah werden von den Beamt*innen nicht beachtet.
Im Zuge der Prozedur werden nicht nur Abdullahs ältestem Bruder Hamza* (11) Hand- und Fußfesseln angelegt, auch die Hinweise zur Mitnahme von Medikamenten für Abdullah werden von den Beamt*innen nicht beachtet.
Im Vorfeld der Abschiebung behauptete das VG Hannover, die Versorgung mit Medikamenten sei in Georgien grundsätzlich möglich – aber das entspricht nicht der Lebensrealität von Familie I. Wie Unterstützer*innen dem Flüchtlingsrat Niedersachsen drei Monate nach der Abschiebung berichteten, bekommt der kleine Abdullah dort nur Wachstumshormone, nicht aber die übrigen lebenswichtigen Medikamente. Auch heute ist die Situation nach wie vor kritisch, Abdullah musste mehrfach in stationäre Behandlung, er erhält seit kurzem nur noch künstliche Nahrung. Freund*innen aus Deutschland unterstützen die Familie nach wie vor und versuchen damit, ihre Situation wenigstens etwas zu verbessern.
(2) Mit 80 Jahren & Demenz allein in die Türkei
Nicht nur kleine Kinder werden abgeschoben, auch ältere Menschen kann es selbst nach vielen Jahren in diesem Land immer noch treffen: Ahmet M.* aus Magdeburg (Sachsen-Anhalt) ist an Demenz erkrankt, sieht schlecht und leidet häufig unter Orientierungslosigkeit – er ist schließlich auch schon beachtliche 80 Jahre alt. Seit 27 Jahren lebt er mit seiner Familie in Deutschland, mit dem Status einer Duldung, die immer wieder verlängert wurde. Offenbar durch einen Fehler des Rechtsanwaltes, der vorliegende Atteste nach Infos des Flüchtlingsrates Sachsen-Anhalt nicht immer zeitnah an die Ausländerbehörde weiterreichte, kam diese am 31. August allerdings zu dem zweifelhaften Schluss, dass der 80-jährige nun plötzlich gesundet und reisefähig sei:
Wie sein Sohn auf Facebook berichtet, wird Ahmet M. morgens um 5:30 Uhr von der Polizei abgeholt und nach Istanbul geflogen – ohne Medikamente, ohne Mobiltelefon. Mit lediglich 50 € überlässt man ihn am dortigen Flughafen sich selbst. Der Sohn braucht über 24 Stunden, um Kontakt zum Vater herzustellen und ihn zu entfernten Verwandten zu bringen.
(3) Wenn die Dystopie zur Realität wird
Farhad S.* hat viele Wochen geprobt, am 14. März sollte am Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau (Sachsen) die Premiere der Theateraufführung zu »Endland« stattfinden, in dem der 21-jährige eine Rolle übernommen hatte. Das Stück »Endland« ist eine Dystopie, in der Deutschland von einer nationalistischen Partei regiert wird und sich mit Grenzmauern gegen Geflüchtete abschottet.
Doch nur drei Tage vorher, am 11. März, werden Farhad und seine Schauspielkolleg*innen von einer Realität eingeholt, die wie die Faust aufs Auge zur Dystopie passt: Der junge Mann wird gemeinsam mit einigen anderen Betroffenen von Sachsen aus nach Afghanistan abgeschoben. Die zuständige Regisseurin spricht von einem Schock und kündigt an, bei den Aufführungen die entstandene Lücke deutlich zu machen. So weit kommt es aufgrund der Corona-Pandemie nicht mehr – dafür sammeln die anderen Schauspieler*innen Geld, um Farhad S. nach der Abschiebung zu unterstützen. Derzeit versucht dieser, eine Rückkehr nach Europa zu organisieren.
(4) Morgens um 5 Uhr in der Psychiatrie
Maryam S.* ist gemeinsam mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen und lebt nun in Weimar (Thüringen). Aber sie soll als einziges Familienmitglied im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Finnland abgeschoben werden. Bei ihren Verwandten ist noch ein Gerichtsverfahren anhängig, einem Familienmitglied wurde bereits im Eilverfahren Schutz gewährt. Am 13.10. befindet sich die 21-jährige in der örtlichen Psychiatrie, wo sie wegen Suizidgefahr eingewiesen wurde.
Erst als die junge Frau hyperventiliert und zusammenbricht, wird die Prozedur abgebrochen.
Doch auch ihr labiler Zustand und ein Erlass, der Abschiebungen aus Krankenhäusern in Thüringen untersagt, stellen für die Behörden offensichtlich keine Hinderungsgründe dar und so stehen um fünf Uhr in der Früh‘ Polizeibeamt*innen, ein Begleitarzt und Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde in der Weimarer Psychiatrie und wollen Maryam S. mitnehmen. Erst als die junge Frau hyperventiliert und zusammenbricht, wird die Prozedur abgebrochen. Die Stadt Weimar möchte den Vorfall anschließend herunterspielen, das Krankenhaus bestätigt die ernsthaften gesundheitlichen Vorgänge jedoch in einem Bericht, der dem Flüchtlingsrat Thüringen vorliegt.
(5) Hebamme Adelina gibt nicht auf
Adelina Ajeti aus dem Kosovo und ihr Ehemann haben keinen einfachen Start in Deutschland. Ihr Asylantrag wird abgelehnt und sie bekommen ein Arbeitsverbot, auch der vorliegende Bachelor in Geburtshilfe wird nicht anerkannt. Adelina macht trotzdem weiter: Sie lernt Deutsch bis zum Sprachniveau C1, erreicht eine Teilanerkennung ihres Studiums und erkämpft sich die Arbeitserlaubnis. Hebammen werden dringend gebraucht, der Fachkräftemangel ist inzwischen so eklatant, dass viele Schwangere keine Hebamme mehr finden – schnell bekommt Adelina daher eine Festanstellung in einer Hebammenpraxis in Leipzig (Sachsen), die jungen Mütter schätzen sie sehr.
Doch diese Betreuung endet jäh: Am 18. November erscheint die Bundespolizei nachts um 2 Uhr in ihrer Wohnung und schiebt Adelina und ihren Mann ab. Ihre Kolleg*innen und die von ihr betreuten Familien kämpfen jetzt mit einer eigenen Webseite und einer Petition für ihre Rückkehr.
Update Oktober 2021:
Adelina ist zurück in Leipzig und hat die Prüfung zur Anerkennung ihrer Ausbildung auch in Deutschland bestanden – dank der großen Unterstützung aus ihrem Freund*innenkreis und einer tollen Spendenbereitschaft konnten die vielen bürokratischen Hürden genommen werden. Ihr Mann ist leider weiterhin im Kosovo.
(6) 6 Minuten vor Abflug wird Yulia* gerettet
Um 1 Uhr nachts am 26. August wird die Ukrainerin Yulia L.* aus ihrer Wohnung in Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern) abgeholt, noch im Nachthemd wird sie in den Polizeibus zum Flughafen Leipzig verbracht. Bei der Abschiebeprozedur werden allen Betroffenen die Handys abgenommen und es kommt zu einer Reihe von menschenunwürdigen Szenarien, wie die Rechtsanwältin von Yulia L. dem Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern berichtet: Frauen müssen sich komplett entkleiden, eine Mutter mit aufgeschnittenen Pulsadern wird von ihrem Kind getrennt im Flieger fixiert, auch gibt das Innenministerium zu, dass ein Abzuschiebender mit »diversen ansteckenden Krankheiten« und »blutender Kopfverletzung« kurzzeitig in den Bus gebracht wurde. All das sorgt für Panik bei den Betroffenen.
Hätte der Richter morgens nur ein paar Minuten länger gebraucht, wäre der Flieger wohl schon in der Luft gewesen.
Schon um 9:30 soll der Flieger mit Yulia L. planmäßig in die Ukraine abheben. Zum Glück reagiert ihr Ehemann Alexander L.*, deutscher Staatsangehöriger, direkt nach dem Polizeieinsatz und informiert eine Rechtsanwältin, denn seine Frau hat Anspruch auf einen Aufenthaltstitel. Aber beim zuständigen Verwaltungsgericht Greifswald ist am frühen Mittwochmorgen noch kein Richter im Hause. Um 9:24 erhält die Rechtsanwältin schließlich die Nachricht vom Gericht, dass die Abschiebung zu stoppen sei. In letzter Sekunde kann Yulia L. noch aus dem Flugzeug geholt werden – hätte der Richter morgens nur ein paar Minuten länger gebraucht, wäre der Flieger wohl schon in der Luft gewesen. Auf Anraten ihrer Anwältin erstattet Yulia L. Anzeige.
(7) Vom Familienbesuch in die Abschiebehaft
Abdul Jamal Naseri ist Mitte zwanzig und kommt aus Afghanistan. Er lebt seit 2015 in Augsburg, spricht fließend Deutsch und arbeitet in einem Supermarkt. Er verliebt sich in eine junge Afghanin aus Oberbayern, die dort mit gesichertem Aufenthaltsstatus lebt. Im September 2019 kommt ihre gemeinsame Tochter Johanna zur Welt, kurz danach heiraten die beiden. Das Familienglück scheint perfekt, doch die zuständige zentrale Ausländerbehörde Schwaben aus Augsburg (Bayern) macht der jungen Familie das Leben schwer. Zunächst entziehen sie Abdul Jamal die Arbeitserlaubnis, die geplante Ausbildung im Supermarkt kann er nicht antreten. Auch ein Umzug zu Frau und Kind nach Oberbayern wird von der Behörde abgelehnt.
Dennoch verbringt Abdul Jamal so viel Zeit wie nur irgendwie möglich bei seiner Familie – und während eines solchen Besuchs steht im Februar 2020 plötzlich die Polizei vor der Tür. Abdul Jamal wird in Abschiebehaft genommen und soll wenige Tage später per Charterflug nach Afghanistan abgeschoben werden. Besonders perfide: Die bayerischen Behörden setzen das von ihnen selbst erlassene Verbot eines Umzugs nach Oberbayern als Argument gegen die Familie ein. Sie argumentieren, dass Abdul Jamal abgeschoben werden könne, da er nicht mit seiner Familie zusammenlebt.
Besonders perfide: Die bayerischen Behörden setzen das von ihnen selbst erlassene Verbot eines Umzugs nach Oberbayern als Argument gegen die Familie ein.
Die Rettung für Abdul Jamal kommt gerade noch rechtzeitig: PRO ASYL erfährt von seinem Fall und schaltet kurzfristig einen Rechtsanwalt ein, der sich per Eilantrag an das zuständige Verwaltungsgericht wendet. Trotz aller Appelle halten die Behörden verbissen an der geplanten Abschiebung fest. Erst in der zweiten Instanz kann die Abschiebung wenige Stunden vor dem geplanten Abflug gestoppt werden.
(8) »Im Sinne des Kindeswohls« abschieben?
In der Nacht vom 1. auf den 2. September wird Dejan J.* in seiner Jugendwohngruppe in einem Landkreis in Nordrhein-Westfalen von Polizist*innen aus dem Schlaf gerissen. Der serbische Junge ist gerade mal 11 Jahre alt, spricht schon gut Deutsch und hat Freunde in der Schule gefunden. Er fühlt sich wohl in Deutschland.
Doch nun geht es mitten in der Nacht an den Flughafen, um dort gemeinsam mit seiner Mutter zurück nach Serbien abgeschoben zu werden – obwohl die zuständigen Behörden ihn zuvor von seiner Mutter getrennt und in der Jugendwohngruppe untergebracht hatten. Am Flughafen in Belgrad trennen sich die Wege von Dejan und seiner Mutter direkt wieder. Wie wir aus Serbien erfahren, wurde er dort in eine soziale Einrichtung gebracht und lebt mittlerweile in einer Pflegefamilie.
(9) Abschiebung ins Nichts statt Mittagessen mit den Enkeln
Sali K. und Mire G. sind über 60 Jahre alt – und fast die Hälfte ihres Lebens haben sie in Deutschland im Landkreis Biberach (Baden-Württemberg) verbracht. Bis die gesundheitlich angeschlagenen Großeltern im Oktober inmitten der Corona-Pandemie in den Kosovo abgeschoben wurden. »Ein Land, das es noch gar nicht gab, als sie vor fast 30 Jahren nach Deutschland kamen«, wie die Kontext Wochenzeitung in ihrem Bericht über den Fall schreibt.
Dort liegt auch eines der Hauptprobleme: Wegen ihrer Passlosigkeit werden Sali K. und Mire G. sowohl die Aufenthaltserlaubnis in Deutschland als auch Sozialleistungen im Kosovo verwehrt. Und so mussten die Großeltern sich am 12. Oktober plötzlich in einem fremden Land um ein Dach über dem Kopf kümmern, anstatt wie geplant die Enkelkinder zum Mittagessen zu empfangen. Die Enkel hoffen nun, Oma und Opa überhaupt noch einmal wiedersehen – denn die Großeltern können im Kosovo weder zu einem Arzt gehen, noch haben sie eine feste Bleibe.
UPDATE 12.03.2021:
Den Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hat die traurige Nachricht erreicht, dass Sali K. mittlerweile verstorben ist – nur fünf Monate nach der Abschiebung. »Ohne die Abschiebung, das lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, wäre Sali Krasniqi noch am Leben. Eine adäquate medizinische Behandlung war im Kosovo nicht möglich«, heißt es in der Pressemitteilung.
(10) Wenn die Polizei in der Schulpause kommt
Abschiebungen aus Bildungseinrichtungen soll es in Hessen nicht geben, das hat die schwarz/grüne Koalition schon 2018 vereinbart. Am 15. September greifen die Behörden im Werra-Meißner-Kreis daher offenbar zu einem Trick: Der 19-jährige Mohamed M. aus Guinea befindet sich an jenem Tag wie gewohnt in der Berufsschule in Witzenhausen. Dann macht er den folgenschweren »Fehler«, wie alle anderen Schüler*innen in die Pause zu gehen. »Als wir nach der Pause zurück ins Klassenzimmer gegangen sind, haben sie ihn festgenommen«, berichtet ein Freund in der lokalen Zeitung.
»Als wir nach der Pause zurück ins Klassenzimmer gegangen sind, haben sie ihn festgenommen.«
Mohamed wird in Abschiebehaft verbracht, denn man will ihn gemäß dem europäischen Dublin-Abkommen in den EU-Ersteinreisestaat Spanien abschieben, zu jener Zeit ein ausgewiesenes Corona-Risikogebiet. Seine Mitschüler*innen und Freund*innen beginnen sofort, gegen die Maßnahme zu protestieren und versuchen, ihm sein Handy und andere persönliche Dinge zukommen zu lassen. Wie der örtliche Asyl-Arbeitskreis berichtet, wird ihnen nicht nur das verwehrt, auch Kontaktversuche der Rechtsanwältin in die Abschiebehaft werden verhindert. Am 1.10. wird Mohamed M. schließlich aus der Abschiebehaft nach Madrid abgeschoben. An diesem Tag hätte er eigentlich Haftbesuch erhalten sollen, er kann seine Freund*innen aber erst informieren, als er schon in Spanien ist.
(11) Nachtrag aus 2019: Armbruch bei Abschiebeversuch
Im April 2019 kommt Lamin K.* aus Gambia nach Deutschland, wo er selbst zur Polizei in Karlsruhe geht, um Asyl zu ersuchen. Aufgrund des Verdachts auf Alkohol- und Drogenmissbrauch wird er für eine Nacht in Gewahrsam genommen. Später erweist sich der Verdacht als falsch: Grund für sein Verhalten sind starke körperliche Schmerzen. Nach seiner Registrierung als Asylsuchender wird er stationär in die Thoraxklinik Heidelberg aufgenommen, wo eine sehr starke Tuberkulose festgestellt wird.
Wird seine medizinische Versorgung unterbrochen, kann sich sein Gesundheitszustand lebensbedrohlich verschlechtern. So ist er zum Beispiel auf das Tragen eines Stützkorsetts angewiesen. Trotz einer Klage gegen den vorliegenden Abschiebebescheid – die keine aufschiebende Wirkung besitzt – und trotz seiner attestierten Transportunfähigkeit erscheinen am 12.12.2019 Polizist*innen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Heidelberg (Baden-Württemberg), in der Lamin K. lebt: Er soll nach Italien abgeschoben werden, wo viele Geflüchtete auf der Straße leben müssen – so wie auch Lamin K., bevor er nach Deutschland kam. Die notwendige medizinische Versorgung kann er dort nicht erhalten, weshalb er das Auto am Frankfurter Flughafen nicht verlassen möchte.
Als die Polizeibeamt*innen daraufhin Gewalt anwenden, brechen sie dabei den Arm von Lamin K.
Als die Polizeibeamt*innen daraufhin Gewalt anwenden, brechen sie dabei den Arm von Lamin K. Er muss ins Krankenhaus, die Behörden brechen den Abschiebevorgang ab. Auch das eingeleitete Verfahren wegen angeblichen Widerstands wird später eingestellt. Lamin K. hat mittlerweile eine Aufenthaltserlaubnis – es wurde ein Abschiebungsverbot festgestellt. Bis heute hinterlässt der Abschiebeversuch jedoch Spuren. Er ist traumatisiert von den Vorgängen und hat bis heute zusätzliche gesundheitliche Probleme, die aus dem gebrochenen Arm resultieren. Lange traut Lamin K. sich nicht, darüber zu sprechen. Schließlich ändert er seine Meinung: Er möchte auf das brutale Vorgehen bei Abschiebungen aufmerksam machen. Aus diesem Grund taucht der Fall erst in diesem Jahr in unserer Zusammenstellung auf.
(12) Im Rollstuhl und Gefängniskleidung an den Flughafen
Ende 2020, nach Veröffentlichung dieses Textes trug sich noch ein weiterer dramatischer Abschiebefall zu, den wir und die Kolleg*innen vom Bayerischen Flüchtlingsrat eng begleitet hatten. Wir dokumentieren hier also nachträglich noch die Geschichte von Mimi T.
Am 26. November soll Mimi T. nach Äthiopien abgeschoben werden. Die junge Frau hatte 2009 Äthiopien verlassen, weil sie dort als Oppositionelle gegen das damalige TPLF-Regime unterdrückt wurde. Sie wurde inhaftiert und erlitt sexuelle Gewalt. Bevor sie vor acht Jahren nach Deutschland kam, hat sie als Haushaltshilfe in Dubai gearbeitet, wo sie geschlagen und gedemütigt wurde. Ihr bisheriges Leben hat Spuren hinterlassen: Seit längerem ist Mimi T. im Psychosozialen Zentrum in Nürnberg in therapeutischer Behandlung. Weiter steht sie hier in Deutschland in einer Beziehung zu einem anderen Äthiopier, kirchlich geheiratet haben sie schon.
Nachdem sie in Abschiebehaft kommt, protestieren PRO ASYL und der Bayerische Flüchtlingsrat. Die Abschiebung wird gestoppt, Mimi T. bleibt aber weiter inhaftiert. In dieser Zeit finden mehrere Demonstrationen für ihre Freilassung vor dem Abschiebegefängnis in Eichstätt statt. Trotz all dem unternehmen die Behörden kurz nach Weihnachten den nächsten Versuch: Mimi T. wird am 28. Dezember, immer noch in Gefängniskleidung, ohne Bargeld und im Rollstuhl von der deutschen Polizei am Flughafen abgestellt. Sie wurde nach Addis Abeba geflogen, wo sie keine familiären Bindungen mehr besitzt.
Mit Unterstützung von Bekannten aus Deutschland ist sie in Äthiopien nun vorübergehend untergebracht, ihr Gesundheitszustand ist aber weiterhin kritisch. Der Bayerische Flüchtlingsrat sammelt nun Spenden für ihre Versorgung.
(mk)
In manchen der Fälle, von denen wir hier berichten, konnten Abschiebungen im letzten Moment noch abgewendet werden. Oft ist das auch dem Engagement von Freund*innen, Unterstützer*innen oder unabhängigen Beratungsstellen zu verdanken. Wir freuen uns daher über jede Spende an Strukturen, die Geflüchteten in solchen Situationen entscheidend zur Seite stehen. Ganz egal, ob sie an PRO ASYL, mit unserer Einzelfallberatung & dem Rechtshilfefonds, einen der Landesflüchtlingsräte oder kommunale & lokale Flüchtlingsinitiativen geht. Nur mit einem breiten Netzwerk können wir weiterhin etwas gegen brutale und unmenschliche Abschiebungen unternehmen.