19.12.2019
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Abschiebung vom Flughafen Leipzig/Halle im Juli 2019. Foto: picture alliance / Michael Kappeler / dpa

Auch im Jahr 2019 gab es voraussichtlich wieder über 20.000 Abschiebungen. Aber was heißt es in der Realität, wenn Politiker*innen davon sprechen, »endlich konsequent abzuschieben«? Wir berichten von zehn Fällen aus dem vergangenen Jahr.

Ob seit zwei oder 20 Jah­ren hier in Deutsch­land; ob in Nie­der­sach­sen oder Bay­ern lebend; ob berufs­tä­tig oder schwer krank; ob Kind, wer­den­de Mut­ter oder Fami­li­en­va­ter – wel­che Per­so­nen abge­scho­ben wer­den, dafür gibt es kein kon­kre­tes Mus­ter. Nur eines ähnelt sich in fast allen Fäl­len: Irgend­wann drin­gen uni­for­mier­te Polizist*innen  in die Woh­nung ein oder holen die Betrof­fe­nen direkt von der Arbeit und in der Schu­le ab.

Die For­de­run­gen nach »kon­se­quen­ten Abschie­bun­gen« kom­men dabei längst nicht mehr nur von rechts, auch Politiker*innen demo­kra­ti­scher Par­tei­en rei­hen sich dort mitt­ler­wei­le ein. Obwohl das her­bei­ge­re­de­te »Aus­rei­se­de­fi­zit« bei abge­lehn­ten Asylbewerber*innen de fac­to viel nied­ri­ger ist, als oft sug­ge­riert wird. Von den 247.000 Aus­rei­se­pflich­ti­gen (1. Hj 2019) kamen nur knapp über die Hälf­te als Asylbewerber*innen, von ihnen besit­zen 80 Pro­zent eine Dul­dung. Übrig blei­ben 26.000 Men­schen – und ob die sich über­haupt zum Groß­teil noch in Deutsch­land befin­den, ist ange­sichts der völ­lig ver­al­te­ten Daten­ba­sis im Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ter mehr als fraglich.

Dem­ge­gen­über ste­hen mehr als 23.000 Abschie­bun­gen 2018, auch im 1.Halbjahr 2019 waren es schon knapp 11.500. Die Scharfmacher*innen in der Poli­tik ver­lan­gen nach die­sen hohen Zah­len, die Aus­län­der­be­hör­den müs­sen lie­fern. Ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te, wie die­se zehn Geschich­ten zei­gen, die sich im ver­gan­ge­nen Jahr zuge­tra­gen haben und von den Flücht­lings­rä­ten in den Bun­des­län­dern doku­men­tiert wurden.

(1) Nur mit Ranzen & Mäppchen nach Nordmazedonien

Am 27. Juni sitzt Fati­ma A. (15) wie gewohnt im Unter­richt in der Haus­wirt­schaft­lich-Sozi­al­pfle­ge­ri­schen Schu­le in Emmen­din­gen (Baden-Würt­tem­berg) als zwei Polizist*innen das Schul­ge­bäu­de betre­ten und sie direkt nach Nord­ma­ze­do­ni­en abschie­ben. Gemein­sam mit ihrer Mut­ter, die am sel­ben Mor­gen zuhau­se abge­holt wur­de. Fati­ma darf dabei nur mit­neh­men, was sie in der Schu­le an per­sön­li­chen Gegen­stän­den dabei hat. Ihr Leh­rer berich­tet im Nach­gang, dass vie­le ande­re Jugend­li­che an der Schu­le durch die Vor­komm­nis­se »stark mit­ge­nom­men und ver­ängs­tigt« waren und wen­det sich mit einer Peti­ti­on an den Land­tag. Mitt­ler­wei­le ist auch eine Kla­ge anhän­gig – es hat sich her­aus­ge­stellt, dass die zustän­di­ge Behör­de in Karls­ru­he die Stor­nie­rung der Maß­nah­me ange­wie­sen hat­te. Die Abschie­bung wur­de trotz­dem durchgeführt.

(2) Wenn der Schutzmann gar nicht erst klingelt

Fami­lie Petros­jan lebt seit zehn Jah­ren im Land­kreis Kai­sers­lau­tern. Ihre drei Kin­der gehen zur Schu­le oder besu­chen eine Kita. Zhas­min (13), hat kürz­lich einen Antrag auf Auf­ent­halts­er­laub­nis für gut inte­grier­te Jugend­li­che gestellt. Im Sep­tem­ber wer­den sie, ihre Mut­ter und Geschwis­ter mit­ten in der Nacht davon geweckt, dass mas­kier­te Polizist*innen ihre Woh­nungs­tür aufbrechen.

»Zhas­min hat vie­le Freun­de in der 8a und wird, wie ihre Geschwis­ter auch, sehr von uns vermisst.«

Peti­ti­on der Mitschüler*innen

Der Vater ist nicht im Haus, er befin­det sich wie die Groß­mutter in psych­ia­tri­scher Behand­lung. Trotz­dem wird die arme­ni­sche Fami­lie – ohne den Fami­li­en­va­ter – nach Mos­kau abge­scho­ben, berich­tet der Flücht­lings­rat Rhein­land-Pfalz. Zhas­mins Mitschüler*innen vom Reichs­wald-Gym­na­si­um sind scho­ckiert, sie star­ten eine Online-Peti­ti­on für die Rück­ho­lung der Fami­lie – bis­lang ohne Erfolg.

(3) Kurz vorm Mutterschutz? Schnell noch abschieben!

Aulo­na S.* ist im April die­sen Jah­res bereits im sieb­ten Monat schwan­ger. In zehn Tagen beginnt der gesetz­li­che Mut­ter­schutz, als das Regie­rungs­prä­si­di­um in Karls­ru­he beschließt, dass weder die Schwan­ger­schaft, noch die attes­tier­te Depres­si­on Abschie­be­hin­der­nis­se dar­stel­len. Aulo­na wird gemein­sam mit ihrer 15-jäh­ri­gen Toch­ter in ein Flug­zeug in ihr Her­kunfts­land Alba­ni­en gesetzt – unter Anwen­dung von Gewalt, wie der Vater des unge­bo­re­nen Kin­des berich­tet. Die­ser hat in Deutsch­land als Geflüch­te­ter aus dem Irak sub­si­diä­ren Schutz erhal­ten, wur­de nun aber von sei­ner Fami­lie getrennt. Das Regie­rungs­prä­si­di­um Karls­ru­he rät ihm, die fami­liä­re Lebens­ge­mein­schaft doch ein­fach in Alba­ni­en fortzuführen.

(4) Einmal Frankfurt und zurück mit 41 Grad Fieber

Strep­to­kok­ken­an­gi­na, 41 Grad Fie­ber: Allein das reicht für alle Eltern schon aus, um sich gro­ße Sor­gen um das eige­ne Kind zu machen. Am 11. Febru­ar 2019 wol­len die säch­si­schen Behör­den die acht­jäh­ri­ge Ami­ra* und ihre Fami­lie trotz­dem in ein Flug­zeug nach Ita­li­en set­zen. Dort haben die liby­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen euro­päi­schen Boden betre­ten, dort soll ihr Asyl­ver­fah­ren durch­ge­führt wer­den, das besa­gen die Dub­lin-III-Richt­li­ni­en. Aus Dres­den wird das fieb­ri­ge Kind also an den Flug­ha­fen in Frank­furt trans­por­tiert, der säch­si­sche Flücht­lings­rat berich­tet, dass eine Ärz­tin die Rei­se­fä­hig­keit per Fern­dia­gno­se attes­tiert. Letzt­lich bre­chen die Beamt*innen vor Ort die Abschie­bung kurz vor dem Abflug ab – und über­las­sen die Fami­lie sich selbst. Die­se muss das kran­ke Kind nun auf eige­ne Faust die 400km nach Dres­den zurückbringen.

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Abschie­bung: Zehn Schicksale

(5) Zur Abschiebung auf die Behörde gelockt

Herr Samas­se­kou* und sei­ne hoch­schwan­ge­re Part­ne­rin wer­den im April 2019 bei der Aus­län­der­be­hör­de in Wei­mar (Thü­rin­gen) vor­stel­lig, um  die Dul­dung des wer­den­den Vaters zu ver­län­gern. Vor­ab wur­de ihnen mit­ge­teilt, dass er bis vier Wochen nach der Geburt die Vater­schaft nach­wei­sen kön­ne. Beim Ter­min betre­ten unver­mit­telt meh­re­re Poli­zei­be­am­te die Behör­de und neh­men Herrn Samas­se­kou mit – er wird auf­grund des Dub­lin-Sys­tems in sein Erst­ein­rei­se­land Frank­reich abge­scho­ben. Die Behör­den zwei­feln die Vater­schaft an.

Auch auf die attes­tier­te Risi­ko­schwan­ger­schaft sei­ner Freun­din wird kei­ne Rück­sicht genom­men, sie wird mit dem Not­arzt aus der Behör­de ins Kran­ken­haus trans­por­tiert, wäh­rend ihr Part­ner ins Poli­zei­au­to beför­dert wird. Die Geburt beginnt frü­her als pro­gnos­ti­ziert, Herr Samas­se­kou ist trotz­dem zurück­ge­kehrt und hat sich anwalt­li­che Unter­stüt­zung genom­men. Sei­ne Vater­schaft ist mitt­ler­wei­le nach­ge­wie­sen. Der Flücht­lings­rat Thü­rin­gen hat der Aus­län­der­be­hör­de in Wei­mar den »Preis für Gemein­heit« 2019 verliehen.

(6) Ohne Hilfe in Kabul mit geistiger Behinderung?

Hossain A.* ist seit sei­ner Kind­heit geis­tig behin­dert. »Er ist im Krieg in Afgha­ni­stan auf­ge­wach­sen und trau­ma­ti­siert. Er kann weder lesen, schrei­ben noch rech­nen. Er braucht jeman­den, der ihn im All­tag unter­stützt«, erzählt sein in Mün­chen leben­der Bru­der. Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge in Afgha­ni­stan gibt es kei­ne mehr. Trotz­dem neh­men die baye­ri­schen Behör­den den 26jährigen am 15. Okto­ber direkt vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt, vor dem über sei­ne Asyl­kla­ge bera­ten wur­de, fest und wol­len ihn im Novem­ber in den Abschie­be­flie­ger nach Kabul ste­cken. Nach neun Jah­ren in Deutsch­land, trotz der Tat­sa­che, dass er hier­zu­lan­de einen gesetz­li­chen Betreu­er besitzt – eine Ver­sor­gung, die in Afgha­ni­stan mit Sicher­heit nicht gewähr­leis­tet wer­den kann. Letzt­lich erin­nert man sich aber sogar in Bay­ern glück­li­cher­wei­se noch der eige­nen huma­ni­tä­ren und christ­li­chen Wer­te, der Innen­mi­nis­ter stoppt die Abschie­bung von Hos­sein A. qua­si in letz­ter Sekun­de – auch dank der enga­gier­ten Men­schen, die auf sein Schick­sal öffent­lich auf­merk­sam gemacht haben.

(7) Mit den Kindern allein nach Tschetschenien

Das Ehe­paar Ismai­l­ov* hat drei Kin­der im Alter von sechs bis neun. Nach mehr als sechs Jah­ren in Deutsch­land wird die Fami­lie am 29.10. über­ra­schend aus ihrer Unter­kunft in Homberg/Efze (Hes­sen) abge­holt. Auf­grund der Angst vor der ihm in Tsche­tsche­ni­en dro­hen­den Gefahr kol­la­biert der Vater beim Abschie­be­ver­such und wird anschlie­ßend ins Kran­ken­haus gebracht. Er ist nicht rei­se­fä­hig – trotz­dem setzt die Poli­zei die Mut­ter mit den drei Kin­dern allei­ne ins Flug­zeug. Die Fami­lie ist plötz­lich tau­sen­de Kilo­me­ter ent­fernt vom gesund­heit­lich insta­bi­len Familienvater.

(8) Zwanghafte Torpedierung von Integration

Im August 2018 beginnt Ben Bak­ayo­ko aus der Elfen­bein­küs­te eine Aus­bil­dung als IT-Sys­tem­fach­mann in Gif­horn (Nie­der­sach­sen) – doch nur zwei Tage nach sei­nem Berufs­ein­stieg stop­pen die Behör­den ihn. Er war im Lau­fe sei­ner Flucht 2016 in Ita­li­en regis­triert wor­den, des­we­gen kön­ne man ihm kei­ne Aus­bil­dungs­er­laub­nis ertei­len. Wegen Män­geln im ita­lie­ni­schen Asyl­sys­tem ver­hin­der­te das VG Braun­schweig eine Über­stel­lung dort­hin aber bereits 2017.

»Die Art und Wei­se wie mit Herrn Bak­ayo­ko hier in Gif­horn umge­gan­gen wird, ist ein bered­tes Zeug­nis dafür, wie man mit Men­schen nicht umgeht.«

Ben Bak­ayo­kos Chef

In der Fol­ge­zeit geschieht erst­mal nichts. Ben Bak­ayo­ko ver­lobt sich mit sei­ner Freun­din, das jun­ge Paar erwar­tet ein Kind. Bis die Behör­den die bestehen­de Dul­dung Anfang April 2019 ein­zie­hen und eine Abschie­bung nach Ita­li­en ankün­di­gen – nach fast drei­jäh­ri­gem Auf­ent­halt in Deutsch­land. Kurz dar­auf klin­gelt es nachts um 3 Uhr an der Haus­tür. Erst durch den Nach­weis der vor­lie­gen­den Risi­ko­schwan­ger­schaft bre­chen die Beamt*innen die Abschie­bung ab. Mitt­ler­wei­le wur­den die unsin­ni­gen Abschie­be­ver­su­che end­lich ein­ge­stellt, Herr Bak­ayo­ko ist glück­li­cher Vater und konn­te mit fast einem Jahr Ver­spä­tung sei­ne Aus­bil­dung beginnen.

(9) Vom Schweißgerät direkt nach Afghanistan 

»Eigent­lich wäre es für Zai­dul­lah A. ein ganz nor­ma­ler Arbeits­tag gewor­den«, schreibt der Vogt­land-Anzei­ger am 7. Novem­ber. Um 13 Uhr erschie­nen aller­dings Polizist*innen beim Schwei­ßer aus Plau­en (Sach­sen). Aus dem Poli­zei­ge­wahr­sam muss Zai­dul­lah zunächst in eine psych­ia­tri­sche Kli­nik gebracht wer­den – und wird von dort noch am sel­ben Abend aus Leip­zig mit dem Abschie­be­flie­ger nach Kabul geschickt. Eine Beschäf­ti­gungs­dul­dung war für ihn bereits bean­tragt, die Behör­den wur­den gebe­ten, bis Jah­res­en­de auf deren Ertei­lung zu war­ten. Das konn­te die Abschie­bung eben­so wie der ein­ge­reich­te Eil­an­trag aber nicht stop­pen. Zai­dul­lah hat­te ein­fach das Pech, in Sach­sen zu woh­nen. Von dort wer­den, eben­so wie aus Bay­ern und eini­gen ande­ren Bun­des­län­dern, allein­ste­hen­de Män­ner nach Afgha­ni­stan abge­scho­ben, auch wenn sie weder als straf­fäl­lig noch als sog. »Mit­wir­kungs­ver­wei­ge­rer« gelten.

(10) Abgeschoben in ein fremdes Land

27.September 2019, 03:34 Uhr: Die Poli­zei steht vor der Tür und holt Gyl­ten (23) und Gyli­je (21) Tahi­ri ab. Die bei­den Schwes­tern flo­hen 1998 mit ihrer Fami­lie vor dem Koso­vo­krieg. Seit 20 Jah­ren leben sie in Tutt­lin­gen (Baden-Würt­tem­berg), gehen hier erst in den Kin­der­gar­ten, dann zur Schu­le und schließ­lich arbei­ten. Bis sie in jener Nacht nach Bel­grad abge­scho­ben wer­den. Ohne ser­bisch zu spre­chen, ohne Geld, wie die Schwes­tern in einem Video erzäh­len. Als Romnja lei­den sie in Ser­bi­en zudem beson­ders unter Dis­kri­mi­nie­rung. Fami­lie und Freun­de star­ten eine Peti­ti­on, die bis­her schon knapp 35.000 Men­schen unter­schrie­ben haben.

(Update: Die Peti­ti­on wur­de nun über­ge­ben. Die bei­den Schwes­tern leben aktu­ell in einer Notunterkunft.)

»Schaut nicht weg und nutzt eure Stim­me, um zu ver­hin­dern, dass sol­che schreck­li­chen und grau­sa­men Din­ge gedul­det wer­den. Denn was unse­ren Freun­din­nen pas­siert ist, ist kein Einzelfall!«

Aus der Peti­ti­on für Gyl­ten & Gylije

Zehn Beispiele von vielen

Die hier doku­men­tier­ten Erfah­run­gen sind nur eini­ge Bei­spie­le. Fami­li­en­tren­nun­gen, Miss­ach­tung des Kin­des­wohls, Abschie­bun­gen von wer­den­den Vätern oder gar Schwan­ge­ren, von bes­tens Inte­grier­ten, von Men­schen, die seit über zehn Jah­ren Tür an Tür mit ihren deut­schen Freund*innen leben, fin­den in Deutsch­land regel­mä­ßig statt.

Man­che haben Glück, weil die Abschie­bun­gen, aus berech­tig­ten Grün­den, durch enga­gier­te Unterstützer*innen oder Anwält*innen noch in letz­ter Minu­te ver­hin­dert wer­den kön­nen. Die psy­chi­schen Wun­den blei­ben aber auch bei ihnen und ihrem Umfeld. Eben­so wie die Angst der vie­len Men­schen, die befürch­ten müs­sen, dass es in der nächs­ten Nacht auch sie tref­fen könnte.

(mk)