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Die Folgen der »konsequenten Abschiebepolitik«
Auch im Jahr 2019 gab es voraussichtlich wieder über 20.000 Abschiebungen. Aber was heißt es in der Realität, wenn Politiker*innen davon sprechen, »endlich konsequent abzuschieben«? Wir berichten von zehn Fällen aus dem vergangenen Jahr.
Ob seit zwei oder 20 Jahren hier in Deutschland; ob in Niedersachsen oder Bayern lebend; ob berufstätig oder schwer krank; ob Kind, werdende Mutter oder Familienvater – welche Personen abgeschoben werden, dafür gibt es kein konkretes Muster. Nur eines ähnelt sich in fast allen Fällen: Irgendwann dringen uniformierte Polizist*innen in die Wohnung ein oder holen die Betroffenen direkt von der Arbeit und in der Schule ab.
Die Forderungen nach »konsequenten Abschiebungen« kommen dabei längst nicht mehr nur von rechts, auch Politiker*innen demokratischer Parteien reihen sich dort mittlerweile ein. Obwohl das herbeigeredete »Ausreisedefizit« bei abgelehnten Asylbewerber*innen de facto viel niedriger ist, als oft suggeriert wird. Von den 247.000 Ausreisepflichtigen (1. Hj 2019) kamen nur knapp über die Hälfte als Asylbewerber*innen, von ihnen besitzen 80 Prozent eine Duldung. Übrig bleiben 26.000 Menschen – und ob die sich überhaupt zum Großteil noch in Deutschland befinden, ist angesichts der völlig veralteten Datenbasis im Ausländerzentralregister mehr als fraglich.
Demgegenüber stehen mehr als 23.000 Abschiebungen 2018, auch im 1.Halbjahr 2019 waren es schon knapp 11.500. Die Scharfmacher*innen in der Politik verlangen nach diesen hohen Zahlen, die Ausländerbehörden müssen liefern. Ohne Rücksicht auf Verluste, wie diese zehn Geschichten zeigen, die sich im vergangenen Jahr zugetragen haben und von den Flüchtlingsräten in den Bundesländern dokumentiert wurden.
(1) Nur mit Ranzen & Mäppchen nach Nordmazedonien
Am 27. Juni sitzt Fatima A. (15) wie gewohnt im Unterricht in der Hauswirtschaftlich-Sozialpflegerischen Schule in Emmendingen (Baden-Württemberg) als zwei Polizist*innen das Schulgebäude betreten und sie direkt nach Nordmazedonien abschieben. Gemeinsam mit ihrer Mutter, die am selben Morgen zuhause abgeholt wurde. Fatima darf dabei nur mitnehmen, was sie in der Schule an persönlichen Gegenständen dabei hat. Ihr Lehrer berichtet im Nachgang, dass viele andere Jugendliche an der Schule durch die Vorkommnisse »stark mitgenommen und verängstigt« waren und wendet sich mit einer Petition an den Landtag. Mittlerweile ist auch eine Klage anhängig – es hat sich herausgestellt, dass die zuständige Behörde in Karlsruhe die Stornierung der Maßnahme angewiesen hatte. Die Abschiebung wurde trotzdem durchgeführt.
(2) Wenn der Schutzmann gar nicht erst klingelt
Familie Petrosjan lebt seit zehn Jahren im Landkreis Kaiserslautern. Ihre drei Kinder gehen zur Schule oder besuchen eine Kita. Zhasmin (13), hat kürzlich einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis für gut integrierte Jugendliche gestellt. Im September werden sie, ihre Mutter und Geschwister mitten in der Nacht davon geweckt, dass maskierte Polizist*innen ihre Wohnungstür aufbrechen.
»Zhasmin hat viele Freunde in der 8a und wird, wie ihre Geschwister auch, sehr von uns vermisst.«
Der Vater ist nicht im Haus, er befindet sich wie die Großmutter in psychiatrischer Behandlung. Trotzdem wird die armenische Familie – ohne den Familienvater – nach Moskau abgeschoben, berichtet der Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz. Zhasmins Mitschüler*innen vom Reichswald-Gymnasium sind schockiert, sie starten eine Online-Petition für die Rückholung der Familie – bislang ohne Erfolg.
(3) Kurz vorm Mutterschutz? Schnell noch abschieben!
Aulona S.* ist im April diesen Jahres bereits im siebten Monat schwanger. In zehn Tagen beginnt der gesetzliche Mutterschutz, als das Regierungspräsidium in Karlsruhe beschließt, dass weder die Schwangerschaft, noch die attestierte Depression Abschiebehindernisse darstellen. Aulona wird gemeinsam mit ihrer 15-jährigen Tochter in ein Flugzeug in ihr Herkunftsland Albanien gesetzt – unter Anwendung von Gewalt, wie der Vater des ungeborenen Kindes berichtet. Dieser hat in Deutschland als Geflüchteter aus dem Irak subsidiären Schutz erhalten, wurde nun aber von seiner Familie getrennt. Das Regierungspräsidium Karlsruhe rät ihm, die familiäre Lebensgemeinschaft doch einfach in Albanien fortzuführen.
(4) Einmal Frankfurt und zurück mit 41 Grad Fieber
Streptokokkenangina, 41 Grad Fieber: Allein das reicht für alle Eltern schon aus, um sich große Sorgen um das eigene Kind zu machen. Am 11. Februar 2019 wollen die sächsischen Behörden die achtjährige Amira* und ihre Familie trotzdem in ein Flugzeug nach Italien setzen. Dort haben die libyschen Staatsangehörigen europäischen Boden betreten, dort soll ihr Asylverfahren durchgeführt werden, das besagen die Dublin-III-Richtlinien. Aus Dresden wird das fiebrige Kind also an den Flughafen in Frankfurt transportiert, der sächsische Flüchtlingsrat berichtet, dass eine Ärztin die Reisefähigkeit per Ferndiagnose attestiert. Letztlich brechen die Beamt*innen vor Ort die Abschiebung kurz vor dem Abflug ab – und überlassen die Familie sich selbst. Diese muss das kranke Kind nun auf eigene Faust die 400km nach Dresden zurückbringen.
(5) Zur Abschiebung auf die Behörde gelockt
Herr Samassekou* und seine hochschwangere Partnerin werden im April 2019 bei der Ausländerbehörde in Weimar (Thüringen) vorstellig, um die Duldung des werdenden Vaters zu verlängern. Vorab wurde ihnen mitgeteilt, dass er bis vier Wochen nach der Geburt die Vaterschaft nachweisen könne. Beim Termin betreten unvermittelt mehrere Polizeibeamte die Behörde und nehmen Herrn Samassekou mit – er wird aufgrund des Dublin-Systems in sein Ersteinreiseland Frankreich abgeschoben. Die Behörden zweifeln die Vaterschaft an.
Auch auf die attestierte Risikoschwangerschaft seiner Freundin wird keine Rücksicht genommen, sie wird mit dem Notarzt aus der Behörde ins Krankenhaus transportiert, während ihr Partner ins Polizeiauto befördert wird. Die Geburt beginnt früher als prognostiziert, Herr Samassekou ist trotzdem zurückgekehrt und hat sich anwaltliche Unterstützung genommen. Seine Vaterschaft ist mittlerweile nachgewiesen. Der Flüchtlingsrat Thüringen hat der Ausländerbehörde in Weimar den »Preis für Gemeinheit« 2019 verliehen.
(6) Ohne Hilfe in Kabul mit geistiger Behinderung?
Hossain A.* ist seit seiner Kindheit geistig behindert. »Er ist im Krieg in Afghanistan aufgewachsen und traumatisiert. Er kann weder lesen, schreiben noch rechnen. Er braucht jemanden, der ihn im Alltag unterstützt«, erzählt sein in München lebender Bruder. Familienangehörige in Afghanistan gibt es keine mehr. Trotzdem nehmen die bayerischen Behörden den 26jährigen am 15. Oktober direkt vor dem Verwaltungsgericht, vor dem über seine Asylklage beraten wurde, fest und wollen ihn im November in den Abschiebeflieger nach Kabul stecken. Nach neun Jahren in Deutschland, trotz der Tatsache, dass er hierzulande einen gesetzlichen Betreuer besitzt – eine Versorgung, die in Afghanistan mit Sicherheit nicht gewährleistet werden kann. Letztlich erinnert man sich aber sogar in Bayern glücklicherweise noch der eigenen humanitären und christlichen Werte, der Innenminister stoppt die Abschiebung von Hossein A. quasi in letzter Sekunde – auch dank der engagierten Menschen, die auf sein Schicksal öffentlich aufmerksam gemacht haben.
(7) Mit den Kindern allein nach Tschetschenien
Das Ehepaar Ismailov* hat drei Kinder im Alter von sechs bis neun. Nach mehr als sechs Jahren in Deutschland wird die Familie am 29.10. überraschend aus ihrer Unterkunft in Homberg/Efze (Hessen) abgeholt. Aufgrund der Angst vor der ihm in Tschetschenien drohenden Gefahr kollabiert der Vater beim Abschiebeversuch und wird anschließend ins Krankenhaus gebracht. Er ist nicht reisefähig – trotzdem setzt die Polizei die Mutter mit den drei Kindern alleine ins Flugzeug. Die Familie ist plötzlich tausende Kilometer entfernt vom gesundheitlich instabilen Familienvater.
(8) Zwanghafte Torpedierung von Integration
Im August 2018 beginnt Ben Bakayoko aus der Elfenbeinküste eine Ausbildung als IT-Systemfachmann in Gifhorn (Niedersachsen) – doch nur zwei Tage nach seinem Berufseinstieg stoppen die Behörden ihn. Er war im Laufe seiner Flucht 2016 in Italien registriert worden, deswegen könne man ihm keine Ausbildungserlaubnis erteilen. Wegen Mängeln im italienischen Asylsystem verhinderte das VG Braunschweig eine Überstellung dorthin aber bereits 2017.
»Die Art und Weise wie mit Herrn Bakayoko hier in Gifhorn umgegangen wird, ist ein beredtes Zeugnis dafür, wie man mit Menschen nicht umgeht.«
In der Folgezeit geschieht erstmal nichts. Ben Bakayoko verlobt sich mit seiner Freundin, das junge Paar erwartet ein Kind. Bis die Behörden die bestehende Duldung Anfang April 2019 einziehen und eine Abschiebung nach Italien ankündigen – nach fast dreijährigem Aufenthalt in Deutschland. Kurz darauf klingelt es nachts um 3 Uhr an der Haustür. Erst durch den Nachweis der vorliegenden Risikoschwangerschaft brechen die Beamt*innen die Abschiebung ab. Mittlerweile wurden die unsinnigen Abschiebeversuche endlich eingestellt, Herr Bakayoko ist glücklicher Vater und konnte mit fast einem Jahr Verspätung seine Ausbildung beginnen.
(9) Vom Schweißgerät direkt nach Afghanistan
»Eigentlich wäre es für Zaidullah A. ein ganz normaler Arbeitstag geworden«, schreibt der Vogtland-Anzeiger am 7. November. Um 13 Uhr erschienen allerdings Polizist*innen beim Schweißer aus Plauen (Sachsen). Aus dem Polizeigewahrsam muss Zaidullah zunächst in eine psychiatrische Klinik gebracht werden – und wird von dort noch am selben Abend aus Leipzig mit dem Abschiebeflieger nach Kabul geschickt. Eine Beschäftigungsduldung war für ihn bereits beantragt, die Behörden wurden gebeten, bis Jahresende auf deren Erteilung zu warten. Das konnte die Abschiebung ebenso wie der eingereichte Eilantrag aber nicht stoppen. Zaidullah hatte einfach das Pech, in Sachsen zu wohnen. Von dort werden, ebenso wie aus Bayern und einigen anderen Bundesländern, alleinstehende Männer nach Afghanistan abgeschoben, auch wenn sie weder als straffällig noch als sog. »Mitwirkungsverweigerer« gelten.
(10) Abgeschoben in ein fremdes Land
27.September 2019, 03:34 Uhr: Die Polizei steht vor der Tür und holt Gylten (23) und Gylije (21) Tahiri ab. Die beiden Schwestern flohen 1998 mit ihrer Familie vor dem Kosovokrieg. Seit 20 Jahren leben sie in Tuttlingen (Baden-Württemberg), gehen hier erst in den Kindergarten, dann zur Schule und schließlich arbeiten. Bis sie in jener Nacht nach Belgrad abgeschoben werden. Ohne serbisch zu sprechen, ohne Geld, wie die Schwestern in einem Video erzählen. Als Romnja leiden sie in Serbien zudem besonders unter Diskriminierung. Familie und Freunde starten eine Petition, die bisher schon knapp 35.000 Menschen unterschrieben haben.
(Update: Die Petition wurde nun übergeben. Die beiden Schwestern leben aktuell in einer Notunterkunft.)
»Schaut nicht weg und nutzt eure Stimme, um zu verhindern, dass solche schrecklichen und grausamen Dinge geduldet werden. Denn was unseren Freundinnen passiert ist, ist kein Einzelfall!«
Zehn Beispiele von vielen
Die hier dokumentierten Erfahrungen sind nur einige Beispiele. Familientrennungen, Missachtung des Kindeswohls, Abschiebungen von werdenden Vätern oder gar Schwangeren, von bestens Integrierten, von Menschen, die seit über zehn Jahren Tür an Tür mit ihren deutschen Freund*innen leben, finden in Deutschland regelmäßig statt.
Manche haben Glück, weil die Abschiebungen, aus berechtigten Gründen, durch engagierte Unterstützer*innen oder Anwält*innen noch in letzter Minute verhindert werden können. Die psychischen Wunden bleiben aber auch bei ihnen und ihrem Umfeld. Ebenso wie die Angst der vielen Menschen, die befürchten müssen, dass es in der nächsten Nacht auch sie treffen könnte.
(mk)