03.03.2025
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Hilfsaktion für ukrainische Geflüchtete in Polen im März 2022. Foto: picture alliance / abaca | Derajinski Daniel

Mehr als vier Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine finden bis heute Schutz in der EU. Allein 40 Prozent von ihnen in sieben osteuropäischen Ländern. Welchen positiven Beitrag dazu die von der EU aktivierte Richtlinie zum vorübergehenden Schutz geliefert hat, beschreibt ein zum dritten Jahrestag der Aktivierung vorgelegter Bericht.

Die Auf­nah­me von mehr als vier Mil­lio­nen Kriegs­flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne hat bewie­sen, dass die EU-Staa­ten in der Lage sind, Geflüch­te­te in gro­ßer Zahl auf­zu­neh­men – »unter weit­ge­hend akzep­ta­blen Bedin­gun­gen«. So beginnt das Fazit des Berichts »Kriegs­flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne. Die Richt­li­nie zum vor­über­ge­hen­den Schutz und ihre Umset­zung in Ost­eu­ro­pa«, den der Ver­ein bordermonitoring.eu mit Unter­stüt­zung von PRO ASYL zum drit­ten Jah­res­tag der EU-wei­ten Akti­vie­rung des vor­über­ge­hen­den Schut­zes vor­ge­legt hat. Ent­schei­dend dafür, dass die Auf­nah­me weit­ge­hend geräusch­los und ohne grö­ße­re Pro­ble­me statt­ge­fun­den hat, ist die Tat­sa­che, dass die EU-Staa­ten sehr schnell unbü­ro­kra­ti­sche Rege­lun­gen beschlos­sen haben, die die Inter­es­sen der Geflüch­te­ten berücksichtigen.

EU aktiviert Richtline wenige Tage nach dem russischen Überfall

Am 4. März 2022 – nur acht Tage nach dem Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne – akti­vier­ten die EU-Mit­glied­staa­ten die Richt­li­nie zum vor­über­ge­hen­den Schutz. Dadurch gelang es, Mil­lio­nen von Flücht­lin­gen schnell und unkom­pli­ziert auf­zu­neh­men, heißt es in dem Bericht wei­ter: kei­ne lang­wie­ri­gen Asyl­ver­fah­ren, schnel­ler Zugang zu Arbeits­märk­ten und Woh­nun­gen und vor allem Frei­zü­gig­keit, mit der die Betrof­fe­nen selbst ent­schei­den konn­ten, »in wel­chem Land eine Inte­gra­ti­on auf­grund ihrer indi­vi­du­el­len Vor­aus­set­zun­gen und oft­mals bereits vor­han­de­ner sozia­ler Netz­wer­ke am erfolg­ver­spre­chends­ten ist«.

Eine Ein­schrän­kung gab es aber lei­der doch: Vie­le Dritt­staats­an­ge­hö­ri­ge wie Geflüch­te­te oder aus­län­di­sche Stu­die­ren­de wur­den vom vor­über­ge­hen­den Schutz aus­ge­schlos­sen. Mög­lich wur­de das, weil es den EU-Staa­ten frei­ge­stellt wur­de, wie sie mit Men­schen umge­hen, die zwar bei Kriegs­be­ginn in der Ukrai­ne leb­ten, aber kei­ne ukrai­ni­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit besit­zen. Die­se offe­ne For­mu­lie­rung sorg­te in der Umset­zung für Schutz­lü­cken. So ist zum Bei­spiel Ungarn beson­ders restrik­tiv. Dort kön­nen Dritt­staats­an­ge­hö­ri­ge nur vor­über­ge­hen­den Schutz erhal­ten, wenn sie Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von ukrai­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen sind oder in der Ukrai­ne als Flücht­lin­ge aner­kannt waren.

»Die Auf­nah­me von Flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne zeigt, dass ein soli­da­ri­sches und auf­nah­me­be­rei­tes Euro­pa, das sein poli­ti­sches Han­deln an den Inter­es­sen der Men­schen auf der Flucht aus­rich­tet, durch­aus im Bereich des Mög­li­chen liegt.«

Aus dem Bericht

Den­noch gilt gene­rell: Gera­de auch ange­sichts der natio­na­len und euro­päi­schen Debat­ten, in denen das Recht auf Schutz immer offen­si­ver in Fra­ge gestellt wird, zeigt die Auf­nah­me von Flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne, »dass ein soli­da­ri­sches und auf­nah­me­be­rei­tes Euro­pa, das sein poli­ti­sches Han­deln an den Inter­es­sen der Men­schen auf der Flucht aus­rich­tet, durch­aus im Bereich des Mög­li­chen liegt«.

21 Jahre, bis vorübergehender Schutz zum ersten Mal angewendet wird

Die Richt­li­nie zum vor­rü­ber­ge­hen­den Schutz, die (etwas abwer­tend) immer wie­der Mas­sen­zu­strom-Richt­li­nie genannt wird, heißt kom­plett »Richt­li­nie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Min­dest­nor­men für die Gewäh­rung vor­über­ge­hen­den Schut­zes im Fal­le eines Mas­sen­zu­stroms von Ver­trie­be­nen und Maß­nah­men zur För­de­rung einer aus­ge­wo­ge­nen Ver­tei­lung der Belas­tun­gen, die mit der Auf­nah­me die­ser Per­so­nen und den Fol­gen die­ser Auf­nah­me ver­bun­den sind, auf die Mit­glied­staa­ten«. Beschlos­sen Mit­te 2001 unter dem Ein­druck der Jugo­sla­wi­en­krie­ge, dau­er­te es den­noch 21 Jah­re, bis die EU-Staa­ten sie das ers­te Mal anwen­de­ten. Weder die Ent­wick­lun­gen in Liby­en (2011), Tune­si­en (2011), der Ukrai­ne (2014) und in Syri­en (ab 2011) noch die Tat­sa­che, dass im Jahr 2015 mehr als eine Mil­li­on Flücht­lin­ge nach Euro­pa kamen, führ­ten zuvor zur Aktivierung.

Recherchereisen in sieben osteuropäische Staaten 

Im Mit­tel­punkt des Berichts ste­hen sechs ost­eu­ro­päi­sche EU-Staa­ten, die Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne auf­ge­nom­men haben: Polen, Slo­wa­kei, Ungarn, Rumä­ni­en, Bul­ga­ri­en und Tsche­chi­en. Sie haben zusam­men 40 Pro­zent der rund 4,3 Mil­lio­nen Flücht­lin­ge mit vor­über­ge­hen­dem Schutz (Stand Ende 2024) auf­ge­nom­men, obwohl sie nur 20 Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung der EU aus­ma­chen. Hin­zu kommt das Nicht-EU-Land Mol­dau, in dem etwa 65.000 Men­schen einen an die Richt­li­nie zum vor­über­ge­hen­den Schutz ange­lehn­ten tem­po­rä­ren Schutz­sta­tus bekamen.

Elf­mal reis­te der Autor Marc Speer vom Ver­ein bordermonitoring.eu in die ost­eu­ro­päi­schen Län­der, um die Auf­nah­me der Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne zu beob­ach­ten und zu doku­men­tie­ren. Kom­bi­niert mit umfang­rei­chem Daten­ma­te­ri­al und Quel­len­stu­di­en gibt der 90 Sei­ten lan­ge Bericht einen Über­blick über die Richt­li­nie samt ihrer Geschich­te sowie zu wich­ti­gen Auf­nah­me-The­men: die jewei­li­ge poli­ti­sche Situa­ti­on, die Ein- und Wei­ter­rei­se, das Ver­fah­ren der Auf­ent­halts­ge­wäh­rung sowie Unter­brin­gung, Sozi­al­leis­tun­gen, Arbeits­markt, Schul­bil­dung und Gesund­heits­ver­sor­gung. Ermög­licht wur­de das von Mai 2022 bis Sep­tem­ber 2023 lau­fen­de Pro­jekt mit weit­rei­chen­der Unter­stüt­zung von PRO ASYL.

Unterbringung auch jenseits von Sammelunterkünften

So ist es zum Bei­spiel in den unter­such­ten Staa­ten »rela­tiv gut gelun­gen«, eine Unter­brin­gung jen­seits von Sam­mel­un­ter­künf­ten zu ermög­li­chen. Aus zwei wesent­li­chen Grün­den: Es gab eine gro­ße Bereit­schaft in der Bevöl­ke­rung, ein­schließ­lich der bereits im Flucht­land woh­nen­den ukrai­ni­schen Com­mu­ni­ty, Flücht­lin­ge pri­vat auf­zu­neh­men – und die­se Bereit­schaft wur­de finan­zi­ell geför­dert. Zudem ermög­lich­te die hohe Auf­nah­me­fä­hig­keit der natio­na­len Arbeits­märk­te es vie­len Ukrainer*innen, rela­tiv schnell Geld zu ver­die­nen und so eine eige­ne Woh­nung zu mieten.

Obwohl die betrach­te­ten ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten nicht als flücht­lings­freund­lich gel­ten, gab es gegen­über den Kriegs­flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne sowohl eine pri­va­te Wel­le der Hilfs­be­reit­schaft als auch gro­ße poli­ti­sche Solidarität.

Pro­ble­ma­tisch dabei war aber laut Bericht, dass ten­den­zi­ell nied­ri­ge Löh­ne auf hohe Mie­ten tref­fen und beson­ders in Bal­lungs­räu­men die Situa­ti­on auf den bereits vor Kriegs­be­ginn oft ange­spann­ten Miet­märk­ten wei­ter ver­schärft wur­de. Kri­tisch ist auch, dass fast alle unter­such­ten Staa­ten die kos­ten­lo­se Unter­brin­gung in Sam­mel­un­ter­künf­ten beschränk­ten. So sind, heißt es im Bericht wei­ter, beson­ders vul­nerable oder dis­kri­mi­nier­te Grup­pen wie Rom*nja, denen es nur schwer gelingt, auf dem Arbeits- und Woh­nungs­markt Fuß zu fas­sen, zuneh­mend von Obdach­lo­sig­keit bedroht.

Große Hilfsbereitschaft für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine

Obwohl die betrach­te­ten ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten nicht als flücht­lings­freund­lich gel­ten, gab es gegen­über den Kriegs­flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne sowohl eine pri­va­te Wel­le der Hilfs­be­reit­schaft als auch gro­ße poli­ti­sche Soli­da­ri­tät, beson­ders in Polen und Tsche­chi­en. Das wur­de schon bei der Ein­rei­se deut­lich und setz­te sich bei der prag­ma­ti­schen Ertei­lung von Auf­ent­halts­ti­teln fort. Dies wäre auch für Deutsch­land wün­schens­wert gewe­sen, heißt es wei­ter, »wo ukrai­ni­sche Geflüch­te­te oft vie­le Mona­te war­ten muss­ten, bis ihnen […] ein Auf­ent­halts­ti­tel erteilt wurde«.

Bemer­kens­wert ist auch die hohe Beschäf­ti­gungs­quo­te ins­be­son­de­re in Polen und Tsche­chi­en. Dabei spiel­te neben der sprach­li­chen Nähe vor allem die Exis­tenz ukrai­ni­scher Com­mu­ni­ties eine wich­ti­ge Rol­le. Sie konn­te Kon­tak­te ver­mit­teln, zudem waren Arbeitgeber*innen bereits mit ukrai­ni­schen Arbeits­kräf­ten ver­traut. Doch es gab und gibt auch pro­ble­ma­ti­sche Aspek­te: Vie­le Ukrainer*innen arbei­ten trotz guter Aus­bil­dung im Nied­rig­lohn­sek­tor, und nicht alle aus der Ukrai­ne geflo­he­nen Kin­der besu­chen eine ört­li­che Schule.

Wie sollte es weitergehen? 

Drän­gen­der wird auch die Fra­ge, wie es für die Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne wei­ter­ge­hen soll. Der Rat der EU hat den vor­über­ge­hen­den Schutz zwar bis zum 4. März 2026 ver­län­gert – doch es stellt sich ange­sichts der Län­ge des Krie­ges auch die Fra­ge, ob und wie der vor­über­ge­hen­de Schutz in dau­er­haf­te Lösun­gen umge­wan­delt wer­den kann. So hat Polen zum Bei­spiel im Som­mer 2024 die gesetz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für einen leich­ten Über­gang vom vor­über­ge­hen­den Schutz in eine drei­jäh­ri­ge Auf­ent­halts­er­laub­nis geschaffen.

Mög­lich wäre aber auch eine euro­päi­sche Lösung. Wich­tig dabei sei aber, so der Bericht, dass ein län­ger­fris­ti­ger Auf­ent­halts­ti­tel nicht zwin­gend von der eigen­stän­di­gen Siche­rung des Lebens­un­ter­halts abhän­gig gemacht wird. Dies wür­de gera­de beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Per­so­nen ausschließen.

Der Bericht »Kriegs­flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne. Die Richt­li­nie zum vor­über­ge­hen­den Schutz und ihre Umset­zung in Ost­eu­ro­pa« kann hier abge­ru­fen werden.

PRO ASYL hat in den ver­gan­ge­nen Jah­ren Tex­te zu den Recher­che­rei­sen zum Umgang mit den Kriegs­flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne ver­öf­fent­licht: Slo­wa­kei, Mol­dau, Ungarn, Rumä­ni­en, Polen, Tsche­chi­en

(wr)