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Ukrainische Geflüchtete in Tschechien: Ein Erfolgsmodell?
Tschechien ist das drittgrößte EU-Aufnahmeland ukrainischer Flüchtlinge. Die Stimmung ihnen gegenüber ist außerordentlich positiv und viele Ukrainer*innen haben bereits einen Job gefunden. Denjenigen, die sich nicht selbst versorgen können, droht nun jedoch die Obdachlosigkeit.
Derzeit leben etwa 330.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge mit temporärem Schutzstatus in der Tschechischen Republik. Damit befindet sich das Land auf dem dritten Platz der Aufnahmestaaten hinter Deutschland und Polen, wo gegenwärtig jeweils etwa eine Million geflüchtete Ukrainer*innen leben. Gemessen an der Bevölkerungsgröße leben in Tschechien sogar mit Abstand die meisten ukrainischen Geflüchteten: Seit Beginn des Krieges ist die tschechische Bevölkerung um ganze drei Prozent gewachsen. Besonders deutlich wird dies in Prag, wo etwa 80.000 Geflüchtete aus der Ukraine leben.
Es gibt mehrere Gründe dafür, dass sich viele Ukrainer*innen dazu entschieden haben, nach Tschechien zu flüchten: Erstens lebten bereits vor Ausbruch des Krieges etwa 200.000 Ukrainer*innen in Tschechien, die ihre Familienangehörigen und Freunde aus der Ukraine zumindest in der Anfangszeit unterstützen konnten. Zweitens fällt es Ukrainer*innen in der Regel relativ leicht, Tschechisch zu lernen, da es sich ebenfalls um eine slawische Sprache handelt. Drittens gibt es in Tschechien eine starke pro-ukrainische Stimmung, die viel ausgeprägter ist als beispielsweise in der Slowakei. Hinzu kommt viertens, dass Ukrainer*innen in Tschechien verhältnismäßig gute Chancen haben, einen Arbeitsplatz zu finden.
Auch etwas mehr als 1.000 nicht-ukrainische Drittstaatsangehörige haben in Tschechien einen temporären Schutzstatus zugesprochen bekommen. Voraussetzung dafür ist, dass sie vor Kriegsausbruch mit einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis in der Ukraine gelebt haben und eine Rückkehr in das Herkunftsland aufgrund einer drohenden Gefahr unmöglich ist.
Viele Ukrainer*innen haben Tschechien bereits wieder verlassen
In der Tschechischen Republik galt der vorübergehende Schutz zunächst für ein Jahr und konnte danach verlängert werden. Dazu musste im Laufe des März 2023 online ein Termin für eine erneute persönliche Vorsprache vereinbart werden. Im Zuge dessen stellte sich heraus, dass viele der über 500.000 Ukrainer*innen, die bis dato in Tschechien temporären Schutz erhalten hatten, das Land offensichtlich bereits wieder verlassen hatten. Die Zahl der Neuregistrierungen liegt derzeit landesweit nur noch bei etwa 10.000 pro Monat.
Ganz anders stellte sich die Situation kurz nach Kriegsbeginn im Februar 2022 dar, als täglich bis zu 17.000 Ankünfte registriert wurden. In den verschiedenen Landesteilen wurden regionale Hilfszentren eröffnet, die nach wie vor geöffnet sind. Dort werden die Anträge auf temporären Schutz entgegengenommen und direkt bearbeitet, die Antragsteller*innen bekommen also in der Regel unverzüglich eine Aufenthaltserlaubnis ausgehändigt. Weiterhin besteht in den Hilfszentren die Möglichkeit, eine Krankenversicherung abzuschließen und im Bedarfsfall finanzielle Unterstützung zu beantragen. Falls notwendig, erfolgt zudem die Weiterleitung in eine Sammelunterkunft. Anders als in Deutschland ist es durch diesen pragmatischen Ansatz möglich, die wesentlichen bürokratischen Notwendigkeiten direkt nach der Ankunft innerhalb kürzester Zeit und an nur einem Ort zu erledigen.
Registrierung in Prag nur mit Mietvertrag
In dem Registrierungszentrum in Prag können sich jedoch nur Ukrainer*innen registrieren, die bereits einen Mietvertrag für eine Wohnung in der Stadt vorlegen können. Alle anderen werden bereits am Eingang mit dem Hinweis weggeschickt, dass sie sich in einem anderen Landesteil registrieren lassen müssen. Damit soll der Zuzug nach Prag begrenzt werden, dessen Bevölkerung durch die aus der Ukraine geflüchteten Menschen in nur einem Jahr um fast 10 Prozent gewachsen ist.
Verweigerung der Freizügigkeit
Eine weitere Einschränkung betrifft diejenigen Geflüchteten, die bereits in einem anderen EU-Staat um Schutz ersucht haben. Denn in den Registrierungszentren findet zunächst ein Datenabgleich mit der »Europäischen Registrierungsplattform« statt. Stellt sich dabei heraus, dass bereits in einem anderen EU-Staat vorübergehender Schutz beantragt oder gewährt wurde, ist eine erneute Antragstellung in Tschechien nicht möglich. In der Praxis bedeutet dies, dass die Betroffenen von den Registrierungszentren einfach weggeschickt werden und nicht einmal ein Dokument erhalten, aus dem hervorgeht, dass ihnen die Erteilung vorübergehenden Schutzes verweigert wurde. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass es bisher kaum Klagen gegen die Einschränkung der freien Wahl des Aufnahmestaates gibt, auf die sich geflüchtete Ukrainer*innen in der EU eigentlich berufen können. Hinzu kommt, dass Personen, denen der temporäre Schutz verweigert wurde, in Tschechien zumindest geduldet werden. Damit gehen zwar wesentlich weniger Rechte einher als mit dem temporären Schutz, aber da de facto weder eine Abschiebung in die Ukraine noch in einen anderen EU-Staat zu befürchten steht, sind nur wenige bereit, den langen und mühsamen Weg einer Klage auf sich zu nehmen.
Nach 150 Tagen droht der Rauswurf aus der Sammelunterkunft
Laut einer Umfrage lebten im März 2023
- 40 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in Tschechien in selbst angemieteten Wohnungen.
- 29 Prozent in Privatunterkünften, die von der tschechischen Bevölkerung zur Verfügung gestellt wurden, wovon wiederum sechs Prozent den Wohnraum gemeinsam mit Tschech*innen bewohnten.
- 23 Prozent in Sammelunterkünften.
- 4 Prozent bei der ukrainischen Community.
Aus der Ukraine geflüchtete Rom*nja werden bei der Vergabe von Unterkünften nicht selten diskriminiert. In Brünn beispielsweise boten die Behörden im Frühjahr letzten Jahres als einzige Unterbringungsmöglichkeit ein ehemaliges Abschiebegefängnis an. Auch wenn die Betroffenen dort nicht inhaftiert worden wären, lehnten viele eine derart stigmatisierende Behandlung ab und mussten in der Folge vor dem Bahnhof kampieren.
Bis vor kurzem lebten laut offiziellen Angaben noch 70.000 Ukrainer*innen in Sammelunterkünften. Zum 1. Juli 2023 sind jedoch Gesetzesänderungen in Kraft getreten, nach denen eine kostenlose Unterbringung in einer Sammelunterkunft nur noch für maximal 150 Tage möglich ist. Danach müssen die Unterbringungskosten von den ukrainischen Flüchtlingen selbst getragen werden. Ausgenommen sind lediglich besonders schutzbedürftige Gruppen wie Minderjährige, Menschen mit Behinderungen, Personen über 65 Jahre und Erwachsene, die ein Kind unter sechs Jahren betreuen, wobei dies jedoch nur für eine Betreuungsperson gilt.
Einführung eines Registers für die private Aufnahme
Änderungen gibt es auch beim Zuschuss für die private Unterbringung von ukrainischen Flüchtlingen: Bisher wurde der Zuschuss direkt an die Wohnungseigentümer*innen ausgezahlt, wobei für jede aufgenommene Person ein Pauschalbetrag von 125 Euro pro Monat, maximal jedoch 500 Euro pro Monat ausgezahlt wurden.
Seit dem 1. Juli 2023 wird diese Unterstützung direkt an ukrainischen Geflüchteten ausbezahlt, die dafür einen Mietvertrag und Kontoauszüge vorlegen müssen. Außerdem sieht die Neuregelung vor, dass der/die Wohnungseigentümer*in die Wohnung in einem speziellen Register eintragen lässt. Nur dann kann der volle Wohnkostenzuschuss in Höhe von nunmehr 125 Euro pro Monat und Person (bei mehr als fünf Personen maximal 625 Euro pro Monat) ausgezahlt werden. Ist die Wohnung nicht registriert, werden nur 80 Prozent der genannten Sätze ausbezahlt, wobei nur »richtige« Wohnungen und keine Wohnheimplätze registriert werden können.
130 Euro monatlich für den Lebensunterhalt
Zusätzlich dazu erhalten bedürftige Ukrainer*innen eine monatliche Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhalts. Seit dem 1. Juli 2023 werden für Kinder 145 Euro monatlich ausbezahlt, Erwachsene erhalten in den ersten fünf Monaten nach Zuerkennung des temporären Schutzes einen monatlichen Satz in Höhe von 200 Euro. Ab dem sechsten Monat reduziert sich dieser auf 130 Euro. Ausnahmen sind für besonders schutzbedürftige Gruppen vorgesehen und Kinder zwischen sechs und zehn Jahren bzw. Menschen mit Behinderung erhalten einen erhöhten Satz. In der Praxis bedeutet dies, dass eine alleinerziehende Frau mit zwei Kindern über zehn Jahren nach einem halben Jahr Aufenthalt in Tschechien knapp 800 Euro für Lebensunterhalt und Miete erhält. Weitere Leistungen, wie etwa Kindergeld, werden nicht ausbezahlt.
Neu ist auch, dass seit dem 1. Juli 2023 das gesamte Arbeitseinkommen sowie sonstige Ersparnisse auch auf den Mietzuschuss angerechnet werden, d.h. der ausgezahlte Gesamtbetrag reduziert sich entsprechend. Tschechische NGOs befürchten daher, dass vor allem Ukrainer*innen mit schlecht bezahlten Jobs sich die Miete nicht mehr leisten können und in informelle Arbeitsverhältnisse gedrängt werden.
Über die Hälfte der Geflüchteten arbeitet
In Tschechien sind derzeit rund 60 Prozent der erwerbsfähigen ukrainischen Flüchtlinge erwerbstätig. Damit ist die Beschäftigungsquote in Tschechien deutlich höher als beispielsweise in Deutschland, wo diese bei gerade einmal 18 Prozent liegt. Im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten (mit Ausnahme Polens) besuchen relativ viele ukrainische Kinder eine tschechische Schule oder einen tschechischen Kindergarten, was insbesondere für Alleinerziehende oft eine zwingende Voraussetzung für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist. Anfang dieses Jahres waren nach offiziellen Angaben mehr als 50.000 minderjährige Flüchtlinge aus der Ukraine in tschechischen Bildungseinrichtungen eingeschrieben.
Allerdings sind die von Ukrainer*innen in Tschechien ausgeübten Jobs oft weitaus unsicherer und wesentlich schlechter bezahlt als die von Tschech*innen: Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten wechselt oder verliert jede*r dritte beschäftigte Ukrainer*in den Arbeitsplatz. Und etwa die Hälfte der geflüchteten Ukrainer*innen verrichtet trotz ihrer überdurchschnittlich hohen Qualifikation lediglich Hilfsarbeiten. Gründe hierfür sind insbesondere unzureichende Sprachkenntnisse und die Nichtanerkennung von Abschlüssen und Zeugnissen. Dies hat zur Folge, dass etwa drei Viertel der beschäftigten Ukrainer*innen für einen Stundenlohn von weniger als 6,30 Euro arbeiten. Dies trägt maßgeblich dazu bei, dass über 50 Prozent der ukrainischen Haushalte in Tschechien von Einkommensarmut betroffen sind. In der tschechischen Bevölkerung sind es dagegen nur 10 Prozent.
Erfolgsmodell mit Fragezeichen
Eineinhalb Jahre nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine zeigt sich, dass die Integration der ukrainischen Geflüchteten in der Tschechischen Republik insgesamt relativ gut gelungen ist. Ausschlaggebend dafür sind zum einen die Offenheit der Gesellschaft gegenüber den ukrainischen Geflüchteten und zum anderen die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes. Allerdings sind die Beschäftigungsverhältnisse oft prekär, was in Kombination mit den kürzlich verschärften Unterbringungsbedingungen dazu führt, dass viele Geflüchtete nun von Obdachlosigkeit bedroht sind. Darunter sind besonders viele Rom*nja, die bereits vor der Gesetzesverschärfung massiv diskriminiert wurden. Es ist daher wichtig, die Situation in Tschechien weiterhin aufmerksam zu verfolgen.
Marc Speer (bordermonitoring.eu)
Marc Speer berichtet im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von Geflüchteten aus der Ukraine in Osteuropa.