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Von wegen sicher: BAMF-Leitlinien widersprechen Einstufung der Maghreb-Staaten
Schon seit Anfang des Jahres will die Bundesregierung Algerien, Tunesien und Marokko als »sichere Herkunftsstaaten« einstufen. Was jetzt öffentlich gewordene Informationen des BAMF zeigen: Von sicher kann keine Rede sein. Die Bundesregierung muss das Gesetzgebungsvorhaben beerdigen.
Die geplante Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als »sichere Herkunftsstaaten« wurde bislang nicht umgesetzt. Zwar hat der Bundestag dem Gesetz zugestimmt, doch im Bundesrat gibt es aktuell keine Mehrheit. Die Bundesregierung hält aber an ihrem Vorhaben fest und verhandelt hinter verschlossenen Türen mit den Ländern.
Nach Informationen der FAZ plant die CDU sogar weitere Einstufungen von Staaten als »sicher«. Im Fokus steht dabei auch Gambia, dessen Staatspräsident Yahya Jammeh Homosexuelle auch mal als »Ungeziefer« diffamiert. Menschenrechtsorganisationen haben in Gambia weiterhin routinemäßig durchgeführte Folter an Inhaftierten dokumentiert.
Dass die Bundesregierung die tatsächliche Situation von Verfolgten außer Acht lässt, zeigen Dokumente, über die die ZEIT am Wochenende exklusiv berichtet hat. Der Zeitung liegen die Herkunftsländerleitsätze des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu Algerien, Marokko und Tunesien vor.
Die Leitsätze stellen eine Zusammenfassung der amtlichen und zivilgesellschaftlichen Informationen dar, die dem Amt als Grundlage seiner Entscheidungen in Asylverfahren dienen. In ihnen finden sich detaillierte Informationen zu den betreffenden Ländern, zur Einschätzung der politischen Situation und zur möglichen Verfolgung von Personen anknüpfend an die Gründe der Genfer Flüchtlingskonvention. Oft finden sich in Bescheiden des BAMF Textbausteine aus den Leitsätzen.
Die Auswertung der Dokumente durch die ZEIT-Redakteure zeigt, dass die Informationen des BAMF teilweise diametral zu den Angaben stehen, die die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung zur Einstufung der Maghreb-Länder als »sichere Herkunftsstaaten« macht.
Bundesregierung rückt sich die Fakten zurecht
Die ZEIT schreibt bei ihrer Auswertung: »Vergleicht man diese internen Einschätzungen des Bamf mit den Aussagen, die im Gesetz der Bundesregierung stehen, entsteht der Eindruck, die Regierung spiele die Gefährdung in Nordafrika bewusst herunter. So heißt es etwa im Gesetz über Marokko: „Politische Verfolgung findet nicht statt“, und über Algerien: „Der Grundrechtsschutz in der algerischen Verfassung ist hoch.“ In den internen Bamf-Leitlinien fällt die Einschätzung anders aus. Verfolgung seitens des Staates, so heißt es dort, könne in beiden Ländern nicht ausgeschlossen werden. Die Bamf-Experten urteilen auch grundlegend anders, wenn es um die Verfolgung von Frauen und Homosexuellen, um Menschenhandel und um Religionsfreiheit geht.«
Gewalt gegen Frauen
Auch die Situation von Frauen wird durch das BAMF deutlich kritischer gesehen, als die Bundesregierung dies in der Gesetzesbegründung angibt: »Vergewaltigung in der Ehe ist nicht strafbar«, arrangierte Ehen, auch mit Minderjährigen, seien nicht ungewöhnlich. Und: »Der marokkanische Staat ist (…) nicht in der Lage, den betroffenen Frauen angemessenen Schutz vor häuslicher oder familiärer Gewalt zu bieten«. Auch in Algerien sei die Vergewaltigung in der Ehe ein »alltägliches Problem«.
Verfolgung von Homosexuellen
Ebenso wird eine Verfolgung von Homosexuellen nicht ausgeschlossen. Ganz im Gegenteil, das BAMF geht für Tunesien sogar davon aus, dass Betroffenen Verfolgung durch die Behörden drohen kann, so die FAZ: »In Tunesien kommt das Bamf zwar zu der Bewertung, dass politische und religiöse Verfolgung nicht stattfinde, Homosexuelle aber müssten durchaus Verfolgung und Strafen fürchten. Bei bekannt gewordener Homosexualität könne „schutzrelevante Verfolgung durch die Behörden drohen“, heißt es in den Bamf-Richtlinien«.
Das Gesetz ist nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar
Die Herkunftsländerleitsätze des BAMF zeigen: Schon nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts verbietet sich eine Einstufung der drei Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten nach Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG. Hiernach muss der Gesetzgeber aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse in diesem Staat die Einstufung vornehmen. Die Sicherheit vor politischer Verfolgung muss landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen bestehen. Es muss u.a. gewährleistet sein, dass im Herkunftsland keine Folter oder unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht.
Die internen Informationen des BAMF zeigen, dass gerade diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Die Bundesregierung muss jetzt den richtigen Schluss ziehen und das Gesetzgebungsverfahren einstellen.
Anhörung im Bundestag: BAMF verschweigt Informationen
Vor dem Hintergrund der ZEIT-Recherche ist es umso erstaunlicher, dass bei der Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestags die Vertreterin des BAMF ihre Kenntnisse über die drei Herkunftsländer nicht preisgegeben hat. Sie äußerte sich nicht zur menschenrechtlichen Situation in den betreffenden Ländern – was gerade Kern der Anhörung ist –, sondern betonte die „Signalwirkung“ der Einstufung, die potentielle Asylsuchende abschrecken könnte. Damit hat sie eindeutig das Thema verfehlt. Denn die Anhörung im Bundestag ist gerade der Ort und Zeitpunkt, an dem die staatlichen Behörden ihre Informationen für das Gesetzgebungsverfahren bereitstellen müssen.
»Sichere« Maghreb-Staaten: politische Entscheidung…
Wenn das BAMF auf der einen Seite zu abweichenden Einschätzungen gelangt als die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf und auf der anderen Seite im richtigen Moment über diese Kenntnisse schweigt, dann drängt sich der Verdacht auf, dass für das BAMF die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens nicht vorrangig ist, sondern eine rein politische Entscheidung über »sichere Herkunftsstaaten« getroffen werden sollte.
…mit fatalen Folgen für die Betroffenen
Durch die vergangenen Asylrechtsverschärfungen hat die Einstufung eines Herkunftslands als »sicher« für die Betroffenen schwere diskriminierende Folgen: Im Gegensatz zu anderen Asylsuchenden wird für sie eine unbegrenzte Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen angeordnet. Sie dürfen während dieser Zeit nicht arbeiten und unterliegen einer verschärften Residenzpflicht. Von Integrations- und Sprachkursen sind sie ebenfalls ausgeschlossen, da bei ihnen nicht von einer »guten Bleibeperspektive« ausgegangen wird.
Auch im Asylverfahren müssen sie hohe Hürden nehmen. Zwar spricht die Bundesregierung stets davon, dass auch Asylsuchende aus »sicheren Herkunftsstaaten« Anspruch auf ein individuelles Asylverfahren haben. Die Einstufung führt aber dazu, dass die Darlegungs- und Beweislast umgedreht wird. Flüchtlinge aus diesen Staaten müssen nachweisen, dass gerade sie von Verfolgung bedroht sind, obwohl der Herkunftsstaat als sicher eingestuft wurde. Die sehr kurz anberaumten Anhörungen des BAMF und eine fehlende Rechtsberatung machen es für die Einzelnen deutlich schwieriger, diese pauschale Vermutung zu widerlegen.
Bei einer Ablehnung der Person als »offensichtlich unbegründet« reicht bereits die Vermutung aus, dass ein Ausländer aus diesem Herkunftsland nicht politisch verfolgt ist. Die Ausreisefrist ist dann auf eine Woche reduziert. Dann haben die Betroffenen kaum Zeit Anwält*innen zu kontaktieren, um die möglicherweise falsche Entscheidung des BAMF gerichtlich anzufechten.
All diese Gründe zeigen, welche weitreichenden Folgen die Einstufung eines Staats als »sicher« haben kann. Wenn der Bundestag dann seine Entscheidung auf Basis falscher Informationen trifft, ist dies ein handfester rechtsstaatlicher Skandal.