20.05.2014
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Winter in einem Flüchtlingslager im Libanon. Das Land hat mehr als 1 Million syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Bild: flickr/UNHCR, A. McConnell

Seit Ausbruch des Krieges 2011 versuchen in Deutschland lebende Syrerinnen und Syrer verzweifelt, Angehörige, die auf der Flucht nur notdürftig überleben, nach Deutschland zu holen. Doch die Möglichkeiten sind gering, zeigt der Fall von Familie O.

Rund 64.000 syri­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge leben in Deutsch­land, hin­zu kommt eine unbe­kann­te Zahl deut­scher Staatsbürger/innen syri­scher Her­kunft sowie kur­di­scher und paläs­ti­nen­si­scher Staa­ten­lo­ser aus Syri­en. Sie sor­gen sich täg­lich um ihre Ange­hö­ri­gen auf der Flucht vor dem Krieg. In das Bewusst­sein der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen in Deutsch­land dringt die Dra­ma­tik der syri­schen Flücht­lings­ka­ta­stro­phe jedoch nur langsam. 

Die stren­gen Rege­lun­gen zum Fami­li­en­nach­zug wur­den für syri­sche Flücht­lin­ge nur leicht gelo­ckert, die Chan­cen für Flücht­lin­ge, bei den deut­schen Bot­schaf­ten in den Nach­bar­län­dern Syri­ens auch nur einen Ter­min zur Visa­ver­ga­be, geschwei­ge denn ein Visum zu erhal­ten, blie­ben aber gering. Im Früh­jahr 2013 ver­kün­de­ten die Innen­mi­nis­ter von Bund und Län­dern end­lich, dass sie zur Unter­stüt­zung bereit sind. Doch zwi­schen den Wor­ten der Hilfs­be­reit­schaft und der Rea­li­tät lie­gen Wel­ten. Ab Mai 2013 sol­len 5.000 Flücht­lin­ge aus Syri­en ein­rei­sen dür­fen – ein Trop­fen auf den hei­ßen Stein. Schnell zei­gen sich die Gren­zen des Auf­nah­me­pro­gramms. Seit­her haben Bund und Län­der meh­re­re Auf­nah­me­pro­gram­me für syri­sche Flücht­lin­ge fol­gen las­sen. Doch der Hür­den gibt es viele.

Das ers­te Kon­tin­gent: 5.000 aus Millionen

Vie­le schei­tern an den Vor­aus­set­zun­gen der Auf­nah­me­pro­gram­me. Bei­spiel­haft wird dies am Fall der Fami­lie O. deut­lich. Vie­le Jah­re lebt die Fami­lie schon in Baden-Würt­tem­berg, Herr O. ist deut­scher Staats­bür­ger und arbei­tet als Ange­stell­ter. Bereits im Früh­jahr 2013 tritt Frau O.mit der drin­gen­den Bit­te um Hil­fe an die Bera­tungs­ab­tei­lung von PRO ASYL her­an. Ihr Schwa­ger ist mit sei­ner Frau und fünf klei­nen Kin­dern auf der Flucht, seit ihr Stadt­teil bom­bar­diert wur­de. Seit Mona­ten schon sucht Frau O. ver­zwei­felt nach einer Mög­lich­keit, die Fami­lie nach Deutsch­land zu holen und hofft auf ein Auf­nah­me­pro­gramm. Eines der Kin­der ist chro­nisch krank, ein ande­res wur­de beim Ein­sturz des Wohn­hau­ses der Fami­lie ver­letzt. Vier Mona­te leb­te die Fami­lie ohne Unter­kunft in Damas­kus, dann gelang die Flucht nach Jordanien.

Im dor­ti­gen Flücht­lings­la­ger erhal­ten die Kin­der jedoch nicht die not­wen­di­ge medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung, beklagt Frau O. Im Mai 2013 wird die Flücht­lings­fa­mi­lie in Jor­da­ni­en als Flücht­lin­ge von UNHCR regis­triert. Kurz dar­auf beschließt der Bund end­lich ein Auf­nah­me­pro­gramm. Doch dann die Ent­täu­schung: Das Bun­des­pro­gramm gilt nur für 5.000 Men­schen. Unter ande­rem sieht es vor, dass die Flücht­lin­ge sich im Liba­non regis­triert haben muss­ten – kei­ne Chan­ce für Fami­lie O. 

Län­der han­deln huma­ni­tär – aber nur, wenn es sie nichts kostet

Ab Spät­som­mer 2013 beschlie­ßen die Bun­des­län­der eige­ne »huma­ni­tä­re« Auf­nah­me­pro­gram­me – so auch das grün-rot regier­te Baden-Würt­tem­berg. Herr und Frau O. schöp­fen neue Hoff­nung. Auch die ört­li­che Aus­län­der­be­hör­de unter­stützt die Fami­lie. Doch die Rege­lung des Lan­des sieht vor, dass die hier leben­den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen per Ver­pflich­tungs­er­klä­rung den voll­stän­di­gen Lebens­un­ter­halt der auf­zu­neh­men­den Flücht­lings­fa­mi­lie sicher­stel­len und zudem im Krank­heits­fall sämt­li­che Kos­ten über­neh­men müssten.

Fami­lie O. kratzt alle Ein­künf­te zusam­men, auch der Vater von Frau O., der in Schles­wig-Hol­stein lebt, sagt finan­zi­el­le Unter­stüt­zung zu. Aber so hohe Ein­künf­te, dass Unter­halts­zah­lun­gen für eine sie­ben­köp­fi­ge Fami­lie mög­lich sind, hat die Fami­lie nicht. Damit ist ein Auf­nah­me­an­trag nach der Lan­des­re­ge­lung Baden-Würt­tem­bergs aus­sichts­los. Von der Hil­fe Deutsch­lands bit­ter ent­täuscht, resi­gniert die Familie.

Die Situa­ti­on der in Jor­da­ni­en aus­har­ren­den Ange­hö­ri­gen ist der­weil äußerst schwie­rig. Zwei­mal fliegt Frau O. nach Jor­da­ni­en und ver­sorgt die bei­den kran­ken Kin­der mit Medi­ka­men­ten und Ver­bands­zeug. Als sie wie­der­kommt, berich­tet sie erschüt­tert vom Lei­den vie­ler hun­dert Kin­der im jor­da­ni­schen Flücht­lings­la­ger. Auch die psy­chi­schen Fol­gen der trau­ma­ti­sie­ren­den Kriegs­er­leb­nis­se wie­gen schwer.

Ver­pflich­tungs­er­klä­rung als kaum erfüll­ba­re Bedingung

Das Mit­er­le­ben der Gewalt, die vie­len Ver­letz­ten, der Ver­lust enger Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ger machen den Flücht­lin­gen schwer zu schaf­fen. Uner­müd­lich wen­det sich Frau O. an die ört­li­chen Behör­den, an das BAMF, nach Ber­lin und an den zustän­di­gen Innen­mi­nis­ter: »Ich bit­te Sie ein­dring­lich, uns dabei zu hel­fen, die Ange­hö­ri­gen mei­nes Man­nes aus die­ser aus­weg­lo­sen Lage zu ret­ten.« Doch ihre Hoff­nung wird nicht erfüllt.

Kurz vor Weih­nach­ten 2013 gibt es erneut einen Licht­blick für Fami­lie O.: Am 23. Dezem­ber erlässt der Bun­des­in­nen­mi­nis­ter eine neue Auf­nah­me­an­ord­nung für wei­te­re 5.000 syri­sche Flücht­lin­ge. Prin­zi­pi­ell sind syri­sche Flücht­lin­ge in allen Anrai­ner­staa­ten auf­nah­me­be­rech­tigt, die Lebens­un­ter­halts­si­che­rung ist nicht mehr zwin­gen­de Vor­aus­set­zung. Aber: »Vor­ran­gig« sol­len Per­so­nen auf­ge­nom­men wer­den, für die eine Ver­pflich­tungs­er­klä­rung abge­ge­ben oder bei Unter­brin­gung und Lebens­un­ter­halts­si­che­rung ein Bei­trag geleis­tet wird.

Erneut rech­net Fami­lie O. alle Ein­künf­te zusam­men und erklärt ihre finan­zi­el­le Unter­stüt­zung in dem ihr mög­li­chen Rah­men. Der Sach­be­ar­bei­ter in der Aus­län­der­be­hör­de ist gut­wil­lig und lei­tet den Antrag an den Bund wei­ter. Seit­her war­tet Fami­lie O. – zwi­schen Hof­fen und Ban­gen – auf eine Ant­wort vom Bun­des­amt. Bereits weni­ge Wochen nach dem Beschluss des Bun­des zeigt sich, dass auch die­ses neue 5.000er-Kontingent unzu­rei­chend ist. Die Anträ­ge über­stei­gen die Plät­ze bei Wei­tem – schlech­te Kar­ten für Nor­mal­ver­die­ner wie Fami­lie O.?

Fami­lie Os Kampf um die Auf­nah­me der Ange­hö­ri­gen dau­ert schon zwei Jahre

Die trau­ri­ge Rea­li­tät ist, seit zwei Jah­ren kämpft eine in Deutsch­land ver­wur­zel­te Fami­lie ver­zwei­felt dar­um, dass drin­gend hilfs­be­dürf­ti­ge Ange­hö­ri­ge hier­her kom­men kön­nen. Von dem Geld, das sie nach Jor­da­ni­en schi­cken, bezahlt die Fami­lie dort inzwi­schen ein ein­zi­ges Zim­mer in einer Flücht­lings­un­ter­kunft, zu siebt schla­fen sie in dem klei­nen Raum. Seit zwei Jah­ren gehen die Kin­der nicht mehr zur Schu­le, suchen nach dem Ver­lust ihrer Hei­mat neue Sicher­heit – bis­lang vergeblich. 

Wann das Lei­den von Fami­lie O. ein Ende hat, ist noch offen. Wer­den sie erneut an der Erwar­tung einer Ver­pflich­tungs­er­klä­rung schei­tern? Die Ange­hö­ri­gen in Deutsch­land für sämt­li­che Kos­ten inklu­si­ve der per­sön­li­chen Absi­che­rung von Krank­heits­ri­si­ken haft­bar zu machen, ist eine Über­for­de­rung. Eines ist über­dies klar: Bei rund 64.000 in Deutsch­land leben­den Men­schen syri­scher Her­kunft kann eine enge Begren­zung auf ein Kon­tin­gent für den Nach­zug von Ange­hö­ri­gen nicht funk­tio­nie­ren. Den Bun­des­län­dern lie­gen für das 2. Bun­des­pro­gramm zur Auf­nah­me von Syri­en-Flücht­lin­gen Anträ­ge für 76.000 Men­schen vor, für die in Deutsch­land leben­de Ange­hö­ri­ge um Ein­rei­se­er­laub­nis bitten.

Es ist mensch­lich ver­ständ­lich und müss­te in einer Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft Nor­ma­li­tät sein, dass in einer Kri­sen­si­tua­ti­on Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge nach Deutsch­land ein­rei­sen dür­fen. Hier fehlt der poli­ti­sche Wil­le. Erfor­der­lich ist es, das Ver­fah­ren zu ent­bü­ro­kra­ti­sie­ren und den Nach­zug im Rah­men des Auf­ent­halts­ge­set­zes zu ermöglichen.

Nach­zug der Ange­hö­ri­gen wäre recht­lich möglich

Mög­lich wäre es: Nach § 36 Abs. 2 Auf­enthG kann – über Ehe­gat­ten und Kin­der hin­aus – den »sons­ti­gen« Ange­hö­ri­gen der Nach­zug ermög­licht wer­den, wenn eine außer­ge­wöhn­li­che Här­te vor­liegt. Der Begriff der außer­ge­wöhn­li­chen Här­te ist Aus­le­gungs­sa­che: Bestehen enge fami­liä­re Bin­dun­gen nach Deutsch­land, ist das Haus der Fami­lie in Syri­en zer­stört und bie­ten die Nach­bar­staa­ten kei­ne Lebensperspektive?

Sind die Flücht­lin­ge ver­folgt oder als Ange­hö­ri­ge einer Min­der­heit gefähr­det? Bei Aner­ken­nung die­ser und ande­rer Pro­ble­me als »außer­ge­wöhn­li­che Här­te« wäre die Ertei­lung von Ein­rei­se­er­laub­nis­sen mög­lich. Es braucht noch viel poli­ti­schen Druck auf Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te, auf Län­der­re­gie­run­gen und die Bun­des­ebe­ne, damit end­lich wirk­lich huma­ni­tär gehan­delt wird.

Text: Gün­ter Burkhardt 

Auf­nah­me syri­scher Flücht­lin­ge in Deutsch­land – Tagung von PRO ASYL und der Fried­rich-Ebert-Stif­tung am 21. Mai 2014  

Infor­ma­tio­nen zu den Auf­nah­me­pro­gram­men des Bun­des und der Län­der für syri­sche Flüchtlinge

 »Für mich hieß es: Kom­men Sie erst­mal ille­gal rein« (28.05.14)

 Die EU und die syri­sche Flücht­lings­kri­se: Abschot­tung statt Auf­nah­me (21.05.14)

 „Kin­der­trans­port­hil­fe des Bun­des“ – Kunst­ak­ti­on für die Auf­nah­me syri­scher Flücht­lings­kin­der (15.05.14)

 Auf­nah­me syri­scher Flücht­lin­ge – Anträ­ge für rund 80.000 Men­schen lie­gen vor (14.05.14)

 Auf­nah­me syri­scher Flücht­lin­ge (14.05.14)

 Syri­en-Flücht­lin­ge: Men­schen­rechts­kom­mis­sar des Euro­pa­ra­tes schlägt Alarm (29.04.14)