11.11.2021
Image
Im Asylverfahren sollen krankheitsbezogene Gefahren, die mit einer möglichen Abschiebung einhergehen, geprüft werden. Doch der Nachweis einer psychischen Erkrankung wird erheblich erschwert. Foto: Pixabay

Krieg, Folter, Vergewaltigung: Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, haben in ihrer Heimat und auf der Flucht oft Gewalt erlitten. Neben körperlichen Leiden können Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen bis hin zu Suizidgefahr die Folge sein. Doch psychische Erkrankungen werden im Asylverfahren nicht ausreichend berücksichtigt.

Immer wie­der wer­den sogar trau­ma­ti­sier­te Men­schen abge­scho­ben, obwohl ihnen in ihren Her­kunfts­län­dern eine wesent­li­che Ver­schlech­te­rung ihres Zustands bis hin zu einer Retrau­ma­ti­sie­rung droht. Und the­ra­peu­ti­sche Behand­lungs­mög­lich­kei­ten exis­tie­ren in vie­len Län­dern nicht.

Eigent­lich besteht nach Para­graf 60 Abs. 7 Auf­ent­halts­ge­setz ein ziel­staats­be­zo­ge­nes Abschie­be­hin­der­nis, wenn eine Abschie­bung Leib oder Leben erheb­lich gefähr­det, dies wird im Asyl­ver­fah­ren durch das BAMF geprüft. Und krank­heits­be­zo­ge­ne Gefah­ren, die sich aus der Abschie­bung als sol­cher erge­ben, wer­den von der Aus­län­der­be­hör­de als inlands­be­zo­ge­nes Voll­stre­ckungs­hin­der­nis im Rah­men des Para­gra­fen 60a Abs. 2 Auf­ent­halts­ge­setz berücksichtigt.

Kran­ke und trau­ma­ti­sier­te Flücht­lin­ge nicht abschie­ben! Geset­zes­ver­schär­fun­gen zurücknehmen!

Doch mit dem Asyl­pa­ket II im März 2016 und dem Geord­ne­te-Rück­kehr-Gesetz im Okto­ber 2019 hat die Bun­des­re­gie­rung die Anfor­de­run­gen zum Bei­spiel an Attes­te der­art ver­schärft, dass es ins­be­son­de­re für psy­chisch Kran­ke kaum noch mög­lich ist, ein krank­heits­be­zo­ge­nes Abschie­be­hin­der­nis gel­tend zu machen.

Dar­an hat sich seit Jah­ren nichts geän­dert. Des­halb wen­det sich ein brei­tes Bünd­nis, initi­iert von der Bun­des­wei­ten Arbeits­ge­mein­schaft für die psy­cho­so­zia­len Zen­tren für Flücht­lin­ge und Fol­ter­op­fer (BAfF), an die neue Bun­des­re­gie­rung mit den For­de­run­gen: Kran­ke und trau­ma­ti­sier­te Flücht­lin­ge nicht abschie­ben! Geset­zes­ver­schär­fun­gen zurücknehmen!

Das Bünd­nis aus 15 gro­ßen bun­des­wei­ten Orga­ni­sa­tio­nen for­dert von der neu­en Bun­des­re­gie­rung, im asyl- und auf­ent­halts­recht­li­chen Ver­fah­ren schwe­re Erkran­kun­gen von Schutz­su­chen­den ange­mes­sen zu berück­sich­ti­gen. Dafür müs­sen auch Geset­ze geän­dert und die von der Gro­Ko durch­ge­setz­ten Geset­zes­ver­schär­fun­gen zurück­ge­nom­men werden.

PRO ASYL unter­stützt die­sen Appell an die nächs­te Bun­des­re­gie­rung und for­dert den unein­ge­schränk­ten Zugang zur Gesund­heits­ver­sor­gung für Flücht­lin­ge zusam­men mit: Bun­des­wei­te Arbeits­ge­mein­schaft der Psy­cho­so­zia­len Zen­tren für Flücht­lin­ge und Fol­ter­op­fer (BAfF), Amnes­ty Inter­na­tio­nal, Arbei­ter­wohl­fahrt Bun­des­ver­band, Ärz­te der Welt, Bun­des­psy­cho­the­ra­peu­ten­kam­mer, Deut­scher Anwalt­ver­ein, Deut­scher Cari­tas­ver­band, Deut­sche Gesell­schaft für Ver­hal­tens­the­ra­pie, Deut­scher Pari­tä­ti­scher Wohl­fahrts­ver­band , Deut­sches Rotes Kreuz, Dia­ko­nie Deutsch­land, Han­di­cap Inter­na­tio­nal, IPPNW und Med­ico International.

»Geflüch­te­te und Über­le­ben­de von Krieg, Fol­ter und Flucht haben ein Recht auf Schutz und Sicher­heit. Dazu gehört auch, dass die gesund­heit­li­che und psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gung sicher­ge­stellt wird. Dies ergibt sich nicht nur aus völ­ker­recht­li­chen und euro­pa­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen, son­dern ist auch ein Gebot der Huma­ni­tät«, heißt es in dem Aufruf.

Überhöhte Anforderungen an Bescheinigungen

Ein Pro­blem: Im Para­gra­fen § 60a Abs. 2c) Auf­ent­halts­ge­setz ist eine gesetz­li­che Ver­mu­tung ver­an­kert, dass der Abschie­bung gesund­heit­li­che Grün­de nicht ent­ge­gen­ste­hen. Fer­ner ist dort das (Fach-)Arztkriterium nor­miert, durch das Psy­cho­lo­gi­sche Psychotherapeut*innen für die Aus­stel­lung von Beschei­ni­gun­gen über das Vor­lie­gen psy­chi­scher Erkran­kun­gen aus­ge­schlos­sen werden.

Dadurch wer­den Betrof­fe­ne gezwun­gen, sich um psych­ia­tri­sche Beschei­ni­gun­gen zu bemü­hen. Aber Psychiater*innen haben dafür in der Pra­xis in aller Regel kei­ne Kapa­zi­tä­ten. Auch kön­nen Betrof­fe­ne die hohen Kos­ten für psych­ia­tri­sche Unter­su­chun­gen regel­mä­ßig nicht tra­gen, wäh­rend sie in psy­cho­so­zia­len Zen­tren ohne hohe Hür­den Zugang zu Psychotherapeut*innen haben.

Zudem wer­den hohe inhalt­li­che Anfor­de­run­gen an die Beschei­ni­gung gestellt. Durch die­se über­höh­ten Anfor­de­run­gen wird den Betrof­fe­nen die Beweis­last auf­er­legt, dass bei ihnen ein krank­heits­be­ding­tes Abschie­bungs­hin­der­nis vor­liegt. Damit wird der Amts­er­mitt­lungs­grund­satz unter­lau­fen, wonach in der Regel die Behör­de ent­schei­dungs­er­heb­li­che Tat­sa­chen auf­zu­klä­ren hat. Dies wird der Schutz­pflicht für Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit, die aus dem Grund­ge­setz resul­tiert (Arti­kel 2 Ab 2 S. 1), nicht gerecht.

Geflüch­te­te und Über­le­ben­de von Krieg, Fol­ter und Flucht haben ein Recht auf Schutz und Sicherheit. 

Zentrale Forderungen

Die zen­tra­len For­de­run­gen an die Koali­tio­nä­re und die künf­ti­ge Bun­des­re­gie­rung lauten:

  • Unein­ge­schränk­ten Zugang zu medi­zi­ni­scher und psy­cho­so­zia­ler Ver­sor­gung ermöglichen
  • Finan­zie­rung der Psy­cho­so­zia­len Zen­tren nach­hal­tig sicherstellen
  • Gesetz­li­chen Anspruch auf Sprach­mitt­lung einführen
  • Schwe­re Erkran­kun­gen im asyl- und auf­ent­halts­recht­li­chen Ver­fah­ren berücksichtigen.

Im »Appell an die nächs­te Bun­des­re­gie­rung – Men­schen­rech­te ach­ten – unein­ge­schränk­ten Zugang zur Gesund­heits­ver­sor­gung gewäh­ren und von Krieg, Fol­ter und Flucht trau­ma­ti­sier­te Men­schen vor Abschie­bung schüt­zen« wer­den die trau­ma­ti­sie­ren­de Situa­ti­on vie­ler Geflüch­te­ter und die For­de­run­gen der Unter­zeich­nen­den genau­er geschildert:

Geflüch­te­te und Über­le­ben­de von Krieg, Fol­ter und Flucht haben ein Recht auf Schutz und Sicher­heit. Dazu gehört auch, dass die gesund­heit­li­che und psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gung sicher­ge­stellt wird. Dies ergibt sich nicht nur aus völ­ker­recht­li­chen und euro­pa­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen, son­dern ist auch ein Gebot der Humanität.

Wir, Orga­ni­sa­tio­nen der Zivil­ge­sell­schaft, der Wohl­fahrt, Berufs- und Fach­ver­bän­de stel­len im Rah­men unse­rer täg­li­chen Arbeit mit Geflüch­te­ten fest, dass Deutsch­land die­sen Ver­pflich­tun­gen nicht voll­stän­dig nach­kommt. Daher appel­lie­ren wir an Sie, im Rah­men der Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen den Schutz und die not­wen­di­ge medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung Geflüch­te­ter sicherzustellen.

Not­wen­di­ge Behand­lun­gen wer­den oft zu spät oder gar nicht bewil­ligt – mit gra­vie­ren­den Fol­gen für die Betroffenen.

Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglichen

Aus unse­rer Pra­xis wis­sen wir, dass not­wen­di­ge Behand­lun­gen oft zu spät oder gar nicht bewil­ligt wer­den. Die Fol­ge: Erkran­kun­gen chro­ni­fi­zie­ren und das Leid der Betrof­fe­nen ver­län­gert sich. Dies ist für Men­schen, die unter den Fol­gen von erlit­te­ner Fol­ter oder ande­rer Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen lei­den, gra­vie­rend. Unnö­ti­ge medi­zi­ni­sche und auch gesell­schaft­li­che Fol­ge­kos­ten wer­den ver­ur­sacht. Gera­de die Pan­de­mie hat gezeigt, wie gefähr­lich Vor­er­kran­kun­gen sein können.

Daher soll­te allen Men­schen unab­hän­gig vom Auf­ent­halts­sta­tus der Leis­tungs­an­spruch der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung gewährt und bun­des­weit allen Geflüch­te­ten von Anfang an eine voll­wer­ti­ge Kran­ken­ver­si­che­rungs­kar­te aus­ge­stellt wer­den. Dadurch kön­nen auch kos­ten­in­ten­si­ve Not­fäl­le ver­mie­den werden.

Finanzierung der Psychosozialen Zentren sicherstellen

Bei der psy­cho­so­zia­len Ver­sor­gung trau­ma­ti­sier­ter Geflüch­te­ter haben sich in Deutsch­land seit Jahr­zehn­ten die Psy­cho­so­zia­len Zen­tren bewährt, indem sie die spe­zi­el­le Ver­sor­gung für Über­le­ben­de von Krieg und Fol­ter im Wesent­li­chen über­neh­men. Gleich­zei­tig ist ihre Finan­zie­rung bis heu­te nicht aus­rei­chend und nicht nach­hal­tig gesi­chert. Dies führt dazu, dass vie­le Geflüch­te­te wochen- und mona­te­lang kei­ne psy­cho­so­zia­le Unter­stüt­zung erfah­ren bzw. auf einen The­ra­pie­platz war­ten. Teil­wei­se bleibt ihnen Unter­stüt­zung in ihrer Not ganz ver­sagt. Damit alle, die Bedarf haben und psy­cho­so­zia­le Unter­stüt­zung und The­ra­pie benö­ti­gen, ver­sorgt wer­den kön­nen, muss die Finan­zie­rung sicher­ge­stellt und bedarfs­ge­recht auf­ge­stockt werden.

Gesetzlichen Anspruch auf Sprachmittlung einführen

Zudem gibt es in Deutsch­land für geflüch­te­te Men­schen bis­lang kei­nen Anspruch auf Sprachmittler*innen, die sie bei der Behand­lung durch Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen unter­stüt­zen. Das führt oft zu Miss­ver­ständ­nis­sen oder sogar Fehl­be­hand­lun­gen, die mit­un­ter lebens­ge­fähr­lich wer­den kön­nen. Es braucht einen gesetz­li­chen Anspruch auf pro­fes­sio­nel­le Sprach­mitt­lung in der Arbeit mit Geflüch­te­ten und ande­ren, mit denen eine kor­rek­te Ver­stän­di­gung andern­falls nicht mög­lich ist.

Schwere Erkrankungen im asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren berücksichtigen

Schwe­re Erkran­kun­gen wer­den nicht aus­rei­chend im Asyl- und Auf­ent­halts­ver­fah­ren berück­sich­tigt. Zum einen ver­bleibt vie­len Betrof­fe­nen kei­ne Zeit zur Bei­brin­gung von ärzt­li­chen Attes­ten bei der Asyl­an­hö­rung. Zum ande­ren ist den Betrof­fe­nen durch die über­höh­ten Anfor­de­run­gen in unzu­mut­ba­rer Wei­se die Beweis­last für das Vor­lie­gen ihrer Erkran­kung auferlegt.

Seit dem Asyl­pa­ket II und dem so genann­ten Geord­ne­te-Rück­kehr-Gesetz sind die Anfor­de­run­gen an Attes­te kaum noch erfüll­bar. Wegen des (Fach-)Arztkriteriums wer­den Stel­lung­nah­men psy­cho­lo­gi­scher Psychotherapeut*innen nicht mehr berücksichtigt.

Hier­durch wur­den cir­ca zwei Drit­tel der Fach­kräf­te aus­ge­schlos­sen, die davor Stel­lung­nah­men aus­stel­len konn­ten. Für den Aus­schluss der Exper­ti­se psy­cho­lo­gi­scher Psychotherapeut*innen besteht kein sach­li­cher Grund: Sie sind auf­grund ihrer Aus- und Wei­ter­bil­dung zur Dia­gnos­tik und Behand­lung psy­chi­scher Stö­run­gen befä­higt und berech­tigt. Es kommt des­halb zu Abschie­bun­gen trotz schwe­rer Krank­heit und beson­de­rer Schutzbedürftigkeit.

Beson­de­re Schutz­be­dar­fe müs­sen in asyl- und auf­ent­halts­recht­li­chen Ver­fah­ren eine stär­ke­re Berück­sich­ti­gung erlan­gen. Zunächst müs­sen sie jedoch iden­ti­fi­ziert wer­den kön­nen. Aus die­sem Grund ist eine ange­mes­se­ne Zeit zwi­schen Asyl­ge­such und Asyl­an­hö­rung und die Strei­chung der § 60 Abs. 7 S. 2 ff. und § 60a Abs. 2c und Auf­enthG notwendig.

Wir bit­ten Sie ein­dring­lich, im Rah­men der Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen die vor­ge­nann­ten Erfor­der­nis­se zu berück­sich­ti­gen, um die bestehen­den Lücken bei der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung und dem Abschie­bungs­schutz zu schließen.

(wr,pva)