Image
Demo für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes vor der SPD-Parteizentrale 2014. Foto: picture alliance / dpa | Britta Pedersen

In den Koalitionsverhandlungen geht es laut Medienberichten aktuell auch um das Asylbewerberleistungsgesetz. Die Abschaffung des Sondergesetzes ist schon lange eine Forderung der Zivilgesellschaft. Während die Grünen zumindest die Sätze an Hartz IV anpassen wollen, geht es für die FDP mal wieder um vermeintliche »Pull-Faktoren«.

Laut Medi­enberich­ten wird in den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen um eine – ver­fas­sungs­recht­lich ange­zeig­te – Anglei­chung der nied­ri­gen Sät­ze des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes an Hartz IV gerun­gen. Dies wäre zumin­dest ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung. Denn auch wenn es von Rechts ger­ne anders dar­ge­stellt wird: Asyl­su­chen­de leben in Deutsch­land mit gra­vie­ren­den Ein­schrän­kun­gen. Sie sind ver­pflich­tet, in gro­ßen Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen wie AnkER-Zen­tren zu woh­nen, bekom­men dort pri­mär Sach­leis­tun­gen und die Gesund­heits­ver­sor­gung ist auf ein Mini­mum beschränkt. Das ist aus ver­fas­sungs­recht­li­cher Sicht extrem kri­tisch zu bewer­ten und die Kür­zun­gen, die das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz vor­sieht, sind aus Sicht von PRO ASYL ein­deu­tig ver­fas­sungs­wid­rig. Wirk­lich kon­se­quent wäre des­we­gen die Abschaf­fung des Son­der­ge­set­zes (sie­he unten unse­re For­de­run­gen an die ver­han­deln­den Parteien).

Mit die­ser sozi­al­po­li­tisch höchst rele­van­ten Fra­ge wird aber ins­be­son­de­re von der CDU/CSU, als neue Oppo­si­ti­ons­par­tei­en, und der FDP aktu­ell ein wei­te­res The­ma ver­mischt: Auf­grund von Obdach­lo­sig­keit und feh­len­der staat­li­cher Unter­stüt­zung sehen sich zum Bei­spiel in Grie­chen­land als Flücht­lin­ge aner­kann­te Men­schen gezwun­gen, in einem ande­ren EU-Mit­glied­staat tat­säch­li­chen Schutz und eine Lebens­per­spek­ti­ve zu suchen. Die­se kla­ren Push-Fak­to­ren wer­den in der Debat­te aber oft unter­schla­gen und die Dis­kus­si­on statt­des­sen auf den ver­meint­li­chen Pull-Fak­tor der Sozi­al­leis­tun­gen in Deutsch­land reduziert.

Das Asylbewerberleistungsgesetz – ein Sonderregime zur Abschreckung

Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz (Asyl­bLG) wur­de 1993 ver­ab­schie­det, um für Asyl­su­chen­de und ande­re Betrof­fe­ne im Ver­gleich zu deut­schen Sozialhilfeempfänger*innen deut­lich nied­ri­ge­re Leis­tun­gen ein­zu­füh­ren. Im glei­chen Jahr wur­de mit dem soge­nann­ten »Asyl­kom­pro­miss« das Recht, nach dem Grund­ge­setz Asyl zu bekom­men, deut­lich ein­ge­schränkt (seit damals Art. 16a Grund­ge­setz). Die Ein­füh­rung des Asyl­bLG war also Teil der dama­li­gen Abschre­ckungs- und Abschot­tungs­po­li­tik – und ist dies auch weiterhin.

Sozi­al­leis­tun­gen dür­fen nicht zum Abschre­cken von Migrant*innen beson­ders nied­rig gehal­ten wer­den – denn das ver­stößt gegen ihre Menschenwürde.

Karlsruhe: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«! 

In einem weg­wei­sen­den Urteil zum Asyl­bLG 2012 stell­ten die Verfassungsrichter*innen fest, dass der Anspruch auf das aus der Men­schen­wür­de abge­lei­te­te Exis­tenz­mi­ni­mum deut­schen und aus­län­di­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen glei­cher­ma­ßen zusteht. Auch garan­tiert das Exis­tenz­mi­ni­mum nicht nur das »nack­te Über­le­ben«, son­dern muss eben­so eine Teil­ha­be am sozia­len, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Leben ermög­li­chen. Die Leis­tun­gen nach dem Asyl­blG waren zu dem Zeit­punkt seit 1993 – also seit 19 Jah­ren – nicht erhöht wor­den! Ent­spre­chend ver­ur­teil­te das BVerfG die­se als  ein­deu­tig unzu­rei­chend und verfassungswidrig.

Ein beson­ders rele­van­tes Fazit aus dem Urteil ist: »Die Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu rela­ti­vie­ren«! Das heißt, dass Sozi­al­leis­tun­gen nicht zum Abschre­cken von Migrant*innen beson­ders nied­rig gehal­ten wer­den dür­fen – denn das ver­stößt gegen ihre Men­schen­wür­de. Der Gesetz­ge­ber muss dage­gen in einem trans­pa­ren­ten Ver­fah­ren bele­gen, dass eine Grup­pe von aus­län­di­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen tat­säch­lich einen gerin­ge­ren Bedarf als ande­re hat, um nied­ri­ge­re Leis­tun­gen recht­fer­ti­gen zu können.

Leistungsanpassungen mit einem Haken

Die mitt­ler­wei­le zahl­rei­chen Kür­zungs­tat­be­stän­de im Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz stan­den damals vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt nicht zur Debat­te – doch gera­de nach dem Hartz IV-Urteil von 2019 ist auch hier von Ver­fas­sungs­wid­rig­keit aus­zu­ge­hen.

Die Bun­des­re­gie­rung ist mitt­ler­wei­le gesetz­lich ver­pflich­tet, die Leis­tungs­sät­ze des Asyl­bLG jähr­lich ent­spre­chend der Ver­än­de­rungs­ra­te der Leis­tun­gen nach dem SGB XII anzu­pas­sen. Nach­dem das Arbeits- und Sozi­al­mi­nis­te­ri­um bereits zwei Jah­re über­fäl­lig war mit der Anpas­sung, leg­te es 2019 ein Ände­rungs­ge­setz vor, wel­ches mit einem »Kniff« dafür sorgt, dass es nicht zu Mehr­aus­ga­ben kommt. Seit dem 1. Sep­tem­ber 2019 gel­ten allein­ste­hen­de Asyl­su­chen­de und Gedul­de­te, die in einer Gemein­schafts­un­ter­kunft woh­nen, des­halb nicht mehr als allein­ste­hend, son­dern zäh­len zyni­scher Wei­se als »Schick­sals­ge­mein­schaft«. Des­we­gen bekom­men sie nicht mehr Leis­tun­gen nach der Bedarfs­stu­fe 1, für Allein­ste­hen­de, son­dern Leis­tun­gen nach der Bedarfs­stu­fe 2, wie Ehepartner*innen. In der Geset­zes­be­grün­dung wur­de dies damit gerecht­fer­tigt, dass es durch gemein­sa­mes Haus­hal­ten ähn­li­che »Ein­spar­ef­fek­te« geben würde.

Das ist abso­lut rea­li­täts­fern! In einer Gemein­schafts­un­ter­kunft leben Men­schen aus unter­schied­li­chen Län­dern und Kul­tu­ren, sie spre­chen oft noch nicht ein­mal die glei­che Spra­che. Wie soll man sich da auf einen gemein­sa­men Spei­se­plan und eine Ein­kaufs­lis­te ver­stän­di­gen? Tat­säch­lich wird dies im deut­schen Sozi­al­recht noch nicht ein­mal bei frei­wil­li­gen WGs, z. B. von Stu­die­ren­den, verlangt.

Immer wie­der kommt es dazu, dass in Unter­künf­ten Flücht­lin­gen ver­wei­gert wird, einen Not­arzt zu rufen – in man­chen Fäl­len mit gra­vie­ren­den oder gar töd­li­chen Folgen.

Bis zu 18

Mona­te müs­sen Asyl­su­chen­de in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen leben – ohne Selbst­be­stim­mung und Privatsphäre

Entmündigung im Lager und eingeschränkte Gesundheitsversorgung

Asyl­su­chen­de sind ver­pflich­tet, wäh­rend ihres Asyl­ver­fah­rens bis zu 18 Mona­te in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen zu leben, in man­chen Fäl­len auch dar­über hin­aus. Wäh­rend die­ser »Lager­pflicht« wer­den die Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz in der Regel als Sach­leis­tun­gen gedeckt. Selbst­be­stim­mung? Fehl­an­zei­ge! Was geges­sen wird und wann bestimmt der Spei­se­plan der Kan­ti­ne – über Mona­te hin­weg. Hin­zu kommt, dass es in vie­len die­ser gro­ßen Zen­tren an Pri­vat­sphä­re man­gelt, meh­re­re Per­so­nen sich Schlaf­zim­mer und Wasch­räu­me tei­len müs­sen. In der Coro­na-Pan­de­mie wur­den die Zen­tren so zu Hot­spots und für die betrof­fe­nen Men­schen zur aku­ten Gesundheitsgefahr.

Beson­ders pro­ble­ma­tisch ist, dass das Asyl­bLG nach wie vor dazu führt, dass sich AsylbLG-Empfänger*innen in der Regel vor einem Arzt­be­such beim Sozi­al­amt einen Kran­ken­schein abho­len müs­sen, da AsylbLG-Empfänger*innen nur in weni­gen Bun­des­län­dern eine Gesund­heits­kar­te erhal­ten. Das führt dazu, dass sich immer wie­der medi­zi­ni­sche Lai­en die Ent­schei­dung anma­ßen, ob ein behand­lungs­wür­di­ger „Not­fall“ vor­liegt oder nicht. Immer wie­der kommt es dazu, dass in Unter­künf­ten Flücht­lin­gen ver­wei­gert wird, einen Not­arzt zu rufen – in man­chen Fäl­len mit gra­vie­ren­den oder gar töd­li­chen Folgen.

Push-Faktor: Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit in Griechenland

Seit meh­re­ren Jah­ren doku­men­tie­ren PRO ASYL gemein­sam mit unse­rer Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an die Lebens­be­din­gun­gen aner­kann­ter Flücht­lin­ge in Grie­chen­land. Ver­bes­sert hat sich nichts. Für sie herrscht in Grie­chen­land das nack­te Elend– wie die­ses Jahr auch von zwei Ober­ver­wal­tungs­ge­rich­ten in Deutsch­land bestä­tigt wur­de (OVG Nord­rhein-West­fa­len, Urtei­le vom 21. Janu­ar 2021, 11 A 1564/20.A und 11 A 2982/20.A; OVG Nie­der­sach­sen, Urtei­le vom 19. April 2021, 10LB 244/20 und 10 LB 245/20).

Dass es Schutz­be­rech­tig­ten bei einer Rück­kehr nach Grie­chen­land gelin­gen könn­te, in Grie­chen­land einen regu­lä­ren Job zu fin­den, um das eige­ne Über­le­ben zu sichern, hal­ten die bei­den Gerich­te für »nahe­zu ausgeschlossen«

Seit 2020 sind alle Schutz­be­rech­tig­ten in Grie­chen­land ver­pflich­tet, inner­halb von drei­ßig Tagen die Unter­künf­te zu ver­las­sen, in denen sie wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens leb­ten. Eine Inte­gra­ti­ons­stra­te­gie zur Bereit­stel­lung von Wohn­raum oder Unter­stüt­zung beim Zugang zu Wohn­raum gibt es nicht. Gleich­zei­tig wur­den wegen beschleu­nig­ter Ver­fah­ren mehr Asyl­su­chen­de als zuvor aner­kannt. Die­se bei­den Tat­sa­chen füh­ren dazu, dass in den ver­gan­ge­nen Mona­ten tau­sen­de Geflüch­te­te ihr Obdach ver­lo­ren haben. Sie sit­zen mit Kind und Kegel auf der Stra­ße und sind auf Almo­sen angewiesen.

Dass es Schutz­be­rech­tig­ten bei einer Rück­kehr nach Grie­chen­land gelin­gen könn­te, in Grie­chen­land einen regu­lä­ren Job zu fin­den, um das eige­ne Über­le­ben zu sichern, hal­ten die bei­den Gerich­te für »nahe­zu aus­ge­schlos­sen« (OVG NRW, 11 A 1564/20.A, Rn. 78). Ganz abge­se­hen von for­mel­len Hür­den hin­sicht­lich des Zugangs zum Arbeits­markt ver­zeich­net Grie­chen­land die höchs­te Arbeits­lo­sig­keit in der EU. Eben­so wenig sehen die OVGs eine rea­lis­ti­sche Mög­lich­keit für aner­kann­te Schutz­be­rech­tig­te, bei einer Rück­kehr nach Grie­chen­land staat­li­che Sozi­al­leis­tun­gen zu erhal­ten. Selbst NGOs und Kir­chen sind nicht in der Lage, die Not von aner­kann­ten Schutz­be­rech­tig­ten in Grie­chen­land abzu­fan­gen und ihre ele­men­ta­ren Bedürf­nis­se zu befriedigen.

Im Okto­ber 2021 ver­schärf­te sich die Situa­ti­on auf ein Neu­es. Man­gels Alter­na­ti­ven sind vie­le aner­kann­te Flücht­lin­ge in Grie­chen­land dar­auf ange­wie­sen in den Asyl­la­gern zu blei­ben, sie wider­set­zen sich damit der Anord­nung die­se zu ver­las­sen. Nun haben die Behör­den ent­schie­den, das Cate­ring für aner­kann­te Flücht­lin­ge ein­zu­stel­len. Sie bekom­men kein Essen mehr. Die Not­la­ge ver­schärft sich dadurch weiter.

34.000

Geflüch­te­te kamen wegen der aus­sichts­lo­sen Situa­ti­on in Grie­chen­land nach Deutschland

Bis­her kamen wegen die­ser Aus­sichts­lo­sig­keit und dem täg­li­chen Kampf ums Über­le­ben etwa 34.000 Geflüch­te­te nach Deutsch­land. Doch auch hier wird ihnen bis­lang jede dau­er­haf­te Per­spek­ti­ve ver­sagt. Denn seit fast zwei Jah­ren hat das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge ihre Asyl­ver­fah­ren »deprio­ri­siert« und ent­schei­det nicht ‑statt ihnen ent­spre­chend der ober­ge­richt­li­chen Recht­spre­chung Schutz zu bie­ten, müs­sen vie­le der Betrof­fe­nen wei­ter­hin in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen ausharren.

Forderungen an die verhandelnden Parteien

Die Lebens­be­din­gun­gen von Asyl­su­chen­den in Deutsch­land sind also durch­aus pre­kär und PRO ASYL for­dert von den ver­han­deln­den Par­tei­en SPD, Grü­ne und FDP die­se Situa­ti­on grund­le­gend zu ver­bes­sern! Die aktu­el­len Rege­lun­gen ent­mün­di­gen die Men­schen, iso­lie­ren sie vom Rest der Gesell­schaft und ver­hin­dern den Beginn eines selbst­stän­di­gen Lebens von Beginn an in Deutsch­land. Des­we­gen hat PRO ASYL schon zur Bun­des­tags­wahl gefor­dert:

  • Abschaf­fung des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes und Ein­glie­de­rung der Betrof­fe­nen in die regu­lä­re Sozialhilfe
  • Gleich­stel­lung bei der Gesundheitsversorgung
  • Abschaf­fung von AnkER-Zen­tren und ver­gleich­ba­ren Ein­rich­tun­gen sowie Redu­zie­rung der Wohn­pflicht in der Erst­auf­nah­me auf vier Wochen, aber min­des­tens wie 2015 auf maxi­mal drei Monate
  • Asyl­su­chen­de und aner­kann­te Flücht­lin­ge müs­sen in Deutsch­land blei­ben dür­fen, wenn ihnen bei Rück­kehr in euro­päi­sche Mit­glied­staa­ten men­schen­un­wür­di­ge Zustän­de drohen

Gleich­zei­tig ist klar: In vie­len Mit­glied­staa­ten der EU, neben Grie­chen­land zum Bei­spiel auch Ita­li­en, ist die Lage von Asyl­su­chen­den und Schutz­be­rech­tig­ten extrem pro­ble­ma­tisch. Anstatt jedoch in Deutsch­land die Bedin­gun­gen des­we­gen zu ver­schlech­tern, braucht es Ände­run­gen im euro­päi­schen Rechts­sys­tem, die zu einer Ver­bes­se­rung der Lebens­um­stän­de von Geflüch­te­ten in allen Mit­glied­staa­ten füh­ren. Des­we­gen soll­te sich die neue Bun­des­re­gie­rung für fol­gen­de Reform­vor­schlä­ge stark machen:

  • Ein fai­res und soli­da­ri­sches Asyl­sys­tem, das nicht auf Zwang und Sank­tio­nen setzt, son­dern die Inter­es­sen der Betrof­fe­nen berück­sich­tigt und nicht die Haupt­ver­ant­wor­tung für die Flücht­lings­auf­nah­me den Außen­staa­ten zuweist
  • Schnel­le Frei­zü­gig­keit für inter­na­tio­nal Schutz­be­rech­tig­te ana­log zu EU-Bürger*innen und gegen­sei­ti­ge Aner­ken­nung von posi­ti­ven Schutzentscheidungen

(wj)