18.09.2024
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Ablehnungsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge

Die menschenrechtliche und humanitäre Situation in Afghanistan ist katastrophal. Trotzdem beginnt das Bundesamt, wohl im Windschatten der von rechts getriebenen Debatte, Schutzsuchende abzulehnen. Eine Analyse der negativen Bescheide offenbart ein beunruhigendes Muster widersprüchlicher und mangelhaft begründeter Entscheidungen.

Unter den Tali­ban fin­den will­kür­li­che Ver­haf­tun­gen, Fol­ter, öffent­li­che Aus­peit­schun­gen und außer­ge­richt­li­che Tötun­gen statt; die Rech­te von Mäd­chen und Frau­en sind mas­siv ein­ge­schränkt. Hin­zu kom­men exis­ten­ti­el­le Bedro­hun­gen wie Hun­ger, Arbeits­lo­sig­keit und Was­ser­knapp­heit, die vie­le Men­schen zwin­gen, Afgha­ni­stan zu ver­las­sen, sodass das Land auf Platz drei der Haupt­her­kunfts­län­der steht.

Fast allen, die seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban in Deutsch­land Schutz ersucht haben, wur­de die­ser gewährt. Die berei­nig­te Schutz­quo­te für afgha­ni­sche Asyl­su­chen­de lag 2022 bei 99,4 Pro­zent und 2023 bei 99 Pro­zent. Frau­en erhal­ten vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) meis­tens den Flücht­lings­sta­tus, 2023 war dies bei 76 Pro­zent der Frau­en der Fall. In den meis­ten ande­ren Fäl­le wird wegen dro­hen­der Ver­elen­dung ein Abschie­be­ver­bot nach § 60 Abs. 5 Auf­ent­halts­ge­setz (Auf­enthG) fest­ge­stellt. Neue Zah­len zei­gen nun aber, dass die Schutz­quo­te auf einem lang­sa­men Abwärts­trend ist. Im ers­ten Quar­tal 2024 sank sie auf 96,9 Pro­zent, im zwei­ten Quar­tal auf 96,4 Prozent.

PRO ASYL hat 30 nega­ti­ve Ent­schei­dun­gen aus der Zeit von Mai bis August 2024 gesam­melt und ana­ly­siert. Sie betref­fen alle­samt jun­ge männ­li­che Asyl­su­chen­de. Die Ana­ly­se zeigt: Die Argu­men­ta­ti­on des BAMF ist lücken­haft und widersprüchlich.

Das BAMF zur Lage in Afghanistan: Lebensbedrohlich

Nicht ohne Grund lag die Aner­ken­nungs­quo­te afgha­ni­scher Asyl­su­chen­der bis vor Kur­zem bei fast 100 Pro­zent. Inter­es­san­ter­wei­se lie­fert das BAMF selbst reich­lich Bewei­se dafür, wie gerecht­fer­tigt die­ser Schutz ist: In den 30 von PRO ASYL ana­ly­sier­ten Beschei­den benö­tigt das Bun­des­amt im Durch­schnitt drei Sei­ten, um die Viel­zahl von Berich­ten zu der men­schen­recht­lich und huma­ni­tär lebens­be­droh­li­chen Lage aufzuführen.

Als welt­weit größ­te huma­ni­tä­re Kri­se bezeich­ne­te der stell­ver­tre­ten­de UN-Son­der­ge­sand­te für Afgha­ni­stan die Lage im Febru­ar 2023. Das Bun­des­amt bestä­tigt, dass sich die­se Kri­se sta­bi­li­siert hat. Der Ver­lust der Ein­kom­mens­quel­len betrifft die gesam­te Gesell­schaft. Die Chan­cen, sich ein Exis­tenz­mi­ni­mum auf unters­ter Stu­fe zu sichern, sind laut BAMF »auf ein Mini­mum redu­ziert«. In Afgha­ni­stan droht gra­vie­ren­der Hun­ger. »In allen Pro­vin­zen [sind] 18,9 Mil­lio­nen Men­schen, fast die Hälf­te der Bevöl­ke­rung, von aku­ter Ernäh­rungs­un­si­cher­heit betrof­fen«, stellt das BAMF immer wie­der in sei­nen Beschei­den fest. Rund zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung sind außer­dem auf huma­ni­tä­re Hil­fe ange­wie­sen, deren Ver­tei­lung häu­fig durch die Tali­ban behin­dert wird.

Die Lage in Afgha­ni­stan hat sich seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban also kei­nes­wegs ver­bes­sert, das sieht das BAMF in sei­nen Beschei­den sogar selbst so. Was sich aber im Jahr 2024 geän­dert hat, ist der poli­ti­sche Dis­kurs: Bund und Län­der for­dern Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan, und am 30. August 2024 schob Deutsch­land zum ers­ten Mal seit der Macht­über­nah­me Men­schen nach Afgha­ni­stan ab.

Bundesamt widerspricht sich selbst

Für die Prü­fung, ob ein Abschie­be­ver­bot nach § 60 Abs. 5 Auf­enthG vor­liegt, muss das Bun­des­amt prü­fen, ob die schlech­ten huma­ni­tä­ren Ver­hält­nis­se eine Gefah­ren­la­ge dar­stel­len, die einer unmensch­li­chen oder ernied­ri­gen­den Behand­lung von Schutz­su­chen­den im Sin­ne von Art. 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK) gleichkommt.

Hier­von ist aus­zu­ge­hen, wenn eine zurück­ge­kehr­te Per­son mit hoher Wahr­schein­lich­keit »unab­hän­gig von ihrem Wil­len und ihren per­sön­li­chen Ent­schei­dun­gen in eine Situa­ti­on extre­mer mate­ri­el­ler Not« gera­ten wür­de, in der es ihr nicht gelin­gen wür­de, »ihre ele­men­tars­ten Bedürf­nis­se zu befrie­di­gen, wie ins­be­son­de­re, sich zu ernäh­ren, sich zu waschen und eine Unter­kunft zu fin­den, und die ihre phy­si­sche oder psy­chi­sche Gesund­heit beein­träch­tig­te oder sie in einen Zustand der Ver­elen­dung ver­setz­te, der mit der Men­schen­wür­de unver­ein­bar wäre« (so der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH) in sei­nen Urtei­len »Ibra­him« und »Jawo« vom 19. März 2019, C‑297/17, Rn. 89 ff. und C‑163/17, Rn. 90 ff.).

Ange­sichts der Lage in Afgha­ni­stan sieht das BAMF auch für einen allein­ste­hen­den »leis­tungs­fä­hi­gen, erwach­se­nen Mann« die »hohen Anfor­de­run­gen« für eine Ver­let­zung von Art. 3 EMRK »regel­mä­ßig« erfüllt. Nur wenn »beson­de­re begüns­ti­gen­de Umstän­de« vor­lie­gen, wird kein Abschie­be­ver­bot fest­ge­stellt. Es wäre daher eine sorg­fäl­ti­ge Ein­zel­fall­prü­fung zu erwar­ten, bei der die per­sön­li­chen Umstän­de des Asyl­su­chen­den sys­te­ma­tisch in Bezug auf die­se Rechts­norm sub­su­miert wer­den. Die die­ser Ana­ly­se zugrun­de lie­gen­den Beschei­de zeich­nen jedoch ein ande­res Bild.

Der Mythos vom »tragfähigen familiären Netzwerk«

»Der Antrag­stel­ler ver­fügt über ein bestehen­des und trag­fä­hi­ges fami­liä­res Netz­werk, das ihn im Fal­le der Rück­kehr unter­stüt­zen könn­te.« Mit leicht abge­än­der­ten Vari­an­ten die­ses ein­fa­chen Sat­zes und dazu oft­mals nur ein oder zwei kur­zen Absät­zen ver­neint das Bun­des­amt die Mög­lich­keit, dass ein »jun­ger, gesun­der und arbeits­fä­hi­ger Mann« bei sei­ner Rück­kehr nach Afgha­ni­stan einer unmensch­li­chen und ernied­ri­gen­den Behand­lung im Sin­ne von Art. 3 EMRK aus­ge­setzt wird. Bereits vor der Macht­über­nah­me der Tali­ban war das »fami­liä­re Netz­werk« das Haupt­ar­gu­ment, mit dem ein Abschie­be­ver­bot für jun­ge afgha­ni­sche Män­ner abge­lehnt wur­de. Und nun scheint es wie­der zurück zu sein.

In einem Bescheid nennt das Bun­des­amt als Bei­spiel für ein sol­ches Netz­werk einen Bru­der, der einen Lebens­mit­tel­la­den betreibt. In eini­gen ande­ren Beschei­den ver­weist das BAMF auf Eltern, die ein Haus besit­zen, oder Fami­lie, die Land besitzt. Ob dar­aus tat­säch­lich wirt­schaft­li­che Vor­tei­le ent­ste­hen, wird jedoch vom Bun­des­amt nicht veri­fi­ziert. Die not­wen­di­ge Prü­fung, ob Ver­wand­te tat­säch­lich unter­stüt­zungs­fä­hig und bereit dazu sind, bleibt also aus.

Eine Bewertung ohne Grundlage

Auch wei­te­re Argu­men­te des BAMF berück­sich­ti­gen die Lage in Afgha­ni­stan nicht. So kommt das BAMF bei einem Antrag­stel­ler zu dem Schluss, dass »die Lage sei­ner in Afgha­ni­stan leben­den Fami­lie durch­schnitt­lich« sei. Wenn jedoch die Hälf­te der Bevöl­ke­rung in Afgha­ni­stan von aku­ter Ernäh­rungs­un­si­cher­heit betrof­fen ist, müss­te dies logi­scher­wei­se zur Schluss­fol­ge­rung füh­ren, dass sich die Fami­lie selbst in einer Situa­ti­on befin­det, die einer unmensch­li­chen oder ernied­ri­gen­den Behand­lung im Sin­ne von Art. 3 EMRK gleichkommt.

In einem wei­te­ren Fall schluss­fol­gert das BAMF aus fünf Jah­ren Schul­be­such, dass es dem Antrag­stel­ler »dem­zu­fol­ge schon grund­sätz­lich mög­lich und zumut­bar ist, einer Arbeit nach­zu­ge­hen und selbst­stän­dig für sei­nen Lebens­un­ter­halt zu sor­gen«. In einem ande­ren Fall zieht das BAMF eine noch weit­rei­chen­de­re Schluss­fol­ge­rung und behaup­tet, dass der Umstand, dass ein Bru­der des Antrag­stel­lers die Schu­le besucht hat, »auf gute wirt­schaft­li­che Ver­hält­nis­se schlie­ßen lässt« – obwohl der Schul­be­such kos­ten­los war. Das BAMF legt auch kei­ne Infor­ma­tio­nen vor, die bestä­ti­gen wür­den, dass gebil­de­te Ver­wand­te oder der Besuch einer Grund­schu­le  jeman­dem ermög­li­chen, sei­nen Lebens­un­ter­halt in Afgha­ni­stan zu sichern.

Entscheider*innen müssen nachfragen

Mehr noch: Wenn es kei­ne ver­füg­ba­ren qua­li­fi­zier­ten Jobs gibt, bringt eine Aus­bil­dung über­haupt kei­nen Vor­teil. Das BAMF unter­sucht den tat­säch­li­chen Arbeits­markt in Afgha­ni­stan aber nicht. Aller­dings hat das Aus­wär­ti­ge Amt in sei­nem Lage­be­richt vom Juni 2023 klar fest­ge­stellt: »Im Zuge der Wirt­schafts­kri­se droht eine Ver­ar­mung der urba­nen Mit­tel­schicht. Vie­le Ange­stell­te des öffent­li­chen Diens­tes haben ihre Arbeit ver­lo­ren. Tätig­kei­ten, die mit der inter­na­tio­na­len Prä­senz im Land ver­bun­den waren, sind weg­ge­bro­chen.« Merk­ma­le wie eine Aus­bil­dung, die jun­gen, allein­ste­hen­den Män­nern angeb­lich »gute Chan­cen auf dem Arbeits­markt in Afgha­ni­stan« ver­schaf­fen, sind in Wirk­lich­keit wertlos.

In eini­gen der vor­lie­gen­den Fäl­le haben die Antrag­stel­ler in der Anhö­rung ihre wirt­schaft­li­che Situa­ti­on nicht selbst erwähnt. Das BAMF fol­gert dar­aus, dass sie »offen­sicht­lich kei­ne Exis­tenz­ängs­te« haben und folg­lich kei­nen Anspruch auf ein Abschie­be­ver­bot. Die­se Schluss­fol­ge­rung ist an sich schon frag­wür­dig: »Begrün­de­te Furcht« ist zwar ein Kri­te­ri­um für die Flücht­lings­ei­gen­schaft aber nicht für ein Abschie­be­ver­bot. Das BAMF ist ver­pflich­tet, die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on selbst­stän­dig zu prü­fen. Wenn ein Antrag­stel­ler davon aus­geht, nur über Kon­flik­te mit den Tali­ban berich­ten zu müs­sen und nicht über sei­ne schlech­te wirt­schaft­li­che Lage, hat das BAMF in der Anhö­rung ent­spre­chen­de Fra­gen zu stellen.

PRO ASYL fordert eine gründliche Einzelfallprüfung

Die Lage in Afgha­ni­stan ist ein­deu­tig: Die Bedin­gun­gen vor Ort stel­len für einen Groß­teil der Men­schen gra­vie­ren­de Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen dar. Das Bun­des­amt muss daher die Prü­fung eines Abschie­be­ver­bots auf der Annah­me auf­bau­en, dass bei einer Abschie­bung eine Ver­let­zung des Art. 3 EMRK vor­liegt. Soll­te es Aus­nah­men geben, müs­sen die­se sorg­fäl­tig für den Ein­zel­fall begrün­det werden.

PRO ASYL unter­stützt der­zeit meh­re­re afgha­ni­sche Schutz­su­chen­de dabei, gegen ableh­nen­de Beschei­de zu klagen.

(ll)