05.07.2024
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Taliban-Kämpfer in Kabul zum Jahrestag der Machtübernahme. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Abdul Khaliq

Vom 29.06. bis 02.07.2024 trafen sich Vertreter*innen von 25 Nationen mit den Taliban in Doha, um über eine Zusammenarbeit zu beraten. Während es für die Regierungsvertreter*innen kein Problem war, sich mit den menschenverachtenden Taliban zu treffen, waren afghanische Menschenrechtsaktivist*innen nicht eingeladen.

Für die Debat­te über eine Zukunft in Afgha­ni­stan waren Stim­men aus der Zivil­ge­sell­schaft und von Frauenrechtler*innen für die Ver­ant­wort­li­chen also nicht rele­vant. Gleich­zei­tig zum Tref­fen for­der­te auch der außen­po­li­ti­sche Spre­cher der SPD-Bun­des­tags­frak­ti­on, Nils Schmid, die Bun­des­re­gie­rung sol­le dar­über nach­den­ken, »wie­der Diplo­ma­ten nach Afgha­ni­stan zu ent­sen­den« und die Bot­schaft wie­der­zu­er­öff­nen, da nicht davon aus­zu­ge­hen sei, dass die Tali­ban »in abseh­ba­rer Zeit ihre Macht wie­der abge­ben werden.«

Keine Legitimation für Verbrecher!

Damit wird ein fata­les Zei­chen gesen­det. Anstatt die Stim­men der afgha­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft (im Exil) zu stär­ken, soll das Tali­ban-Regime nun offen­bar schritt­wei­se legi­ti­miert wer­den – auch, um Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan durch­füh­ren zu kön­nen? Denn was die fak­ti­sche Lage im Land angeht, so hat sich nichts geän­dert oder verbessert.

Die aktuelle Situation in Afghanistan ist in jeder Hinsicht katastrophal

Nicht nur das poli­ti­sche Sys­tem Afgha­ni­stans und die Sicher­heits­kräf­te des Lan­des sind zusam­men­ge­bro­chen, son­dern auch das Ver­wal­tungs­sys­tem, das Jus­tiz­sys­tem und das Bil­dungs­sys­tem wur­den zer­stört. Vie­le Men­schen aus die­sen Appa­ra­ten ver­lo­ren ihre Jobs. Etli­che Mili­tär­of­fi­zie­re, Sol­da­ten und Sicher­heits­kräf­te wur­den ver­haf­tet, gefol­tert und ermor­det, die UNAMA berich­te­te im August 2023 bereits von über 200 sol­cher Tötun­gen. Tau­sen­de muss­ten flie­hen, eini­ge wur­den aus Nach­bar­län­dern wie­der nach Afgha­ni­stan in den Tod abge­scho­ben.

Gene­rell sind öffent­li­che Hin­rich­tun­gen, Aus­peit­schun­gen und will­kür­li­che Ver­haf­tun­gen in Afgha­ni­stan an der Tages­ord­nung. Ein Bei­spiel: Am 05.06.2024 ließ ein Gericht in der Pro­vinz Sar‑i Pul ins­ge­samt 63 Per­so­nen in einem Sport­sta­di­on öffent­lich aus­peit­schen. Den 14 Frau­en und 49 Män­nern wer­den unter ande­rem angeb­li­che homo­se­xu­el­le Hand­lun­gen, Dieb­stahl und ande­re »mora­li­sche Ver­bre­chen« vorgeworfen.

Scharia als Waffe zur Einschränkung der Bürgerrechte

Mit­te Sep­tem­ber 2021 ersetz­ten die Tali­ban das Frau­en­mi­nis­te­ri­um durch das Minis­te­ri­um für Gebet und Ori­en­tie­rung sowie für die För­de­rung von Tugend und die Ver­hin­de­rung von Las­tern. Es han­delt sich um ein Organ zur Umset­zung der Scha­ria und der Dekre­te der Tali­ban, um die Bür­ger­rech­te zu unter­gra­ben. Gleich­zei­tig schlos­sen sie die Staats­an­walt­schaft zur Bekämp­fung frau­en­spe­zi­fi­scher Gewalt. Damit haben die Frau­en des Lan­des jeg­li­che poli­ti­sche und juris­ti­sche Ver­tre­tung ihrer Anlie­gen verloren.

Die schritt­wei­sen Fort­schrit­te bei der Stär­kung der Frau­en­rech­te unter der Regie­rung der Isla­mi­schen Repu­blik Afgha­ni­stans in den vor­an­ge­gan­ge­nen 20 Jah­ren wur­den zer­stört. Seit Juni 2023 wur­den lan­des­weit min­des­tens 52 Dekre­te erlas­sen, die die Rech­te von Frau­en und Mäd­chen ein­schrän­ken. Frau­en wur­den sys­te­ma­tisch aus allen Tei­len der Gesell­schaft aus­ge­schlos­sen. Mäd­chen ist der Schul­be­such ab der sieb­ten Klas­se ver­bo­ten, Frau­en dür­fen weder arbei­ten noch stu­die­ren oder sich frei bewe­gen. Sie dür­fen nicht rei­sen, kei­nen Sport trei­ben, kei­ne Parks oder öffent­li­che Bäder besu­chen und nicht ein­mal allein das Haus verlassen.

Vie­le sind von Zwangs­ehen mit Tali­ban-Anhän­gern und bru­ta­len Stra­fen wie sexu­el­len Miss­hand­lun­gen in Haft, Aus­peit­schun­gen und Stei­ni­gun­gen bedroht. Anfang Juli 2023 wur­de die Schlie­ßung der Schön­heits­sa­lons ange­kün­digt. Damit ver­schwin­den die letz­ten Schutz­räu­me für Frau­en. Dar­über hin­aus ver­lie­ren schät­zungs­wei­se 50.000 Frau­en ihre Ein­kom­mens­quel­le in einem Land, in dem es kaum noch lega­le Ver­dienst­mög­lich­kei­ten für Frau­en gibt.

Es herrscht eine Kul­tur der Ein­schüch­te­rung und Straf­lo­sig­keit, mit der in den letz­ten Jah­ren alle inter­na­tio­nal aner­kann­ten Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten sys­te­ma­tisch unter­gra­ben wurden.

Auch die freie Bericht­erstat­tung lei­det. In den letz­ten Jah­ren hat­te sich eine viel­fäl­ti­ge Medi­en­land­schaft ent­wi­ckelt, aber laut Repor­ter ohne Gren­zen wur­den inner­halb eines Jah­res fast 40 Pro­zent aller Medi­en ein­ge­stellt und über 76 Pro­zent der Journalist*innen ver­lo­ren ihren Job – oder gaben ihn aus Angst vor den Tali­ban auf. In vie­len Pro­vin­zen arbei­ten gar kei­ne Journalist*innen mehr.

Es herrscht eine Kul­tur der Ein­schüch­te­rung und Straf­lo­sig­keit. Nicht nur, dass in den letz­ten Jah­ren alle inter­na­tio­nal aner­kann­ten Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten sys­te­ma­tisch unter­gra­ben wur­den. Die Tali­ban-Füh­rung hat auch deut­lich gemacht, dass sie kein Inter­es­se dar­an hat, ihre Anhän­ger für die will­kür­li­che Gewalt der Sit­ten­po­li­zei zur Rechen­schaft zu ziehen.

Die humanitäre Lage wird immer prekärer

Afgha­ni­stan steht vor der größ­ten huma­ni­tä­ren Kri­se seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban. Die letz­ten Jahr­zehn­te waren in Afgha­ni­stan geprägt von Kon­flik­ten, Armut und den Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels. Im Jahr 2024 wer­den schät­zungs­wei­se 23,7 Mil­lio­nen Men­schen – mehr als die Hälf­te der Bevöl­ke­rung – huma­ni­tä­re Hil­fe benö­ti­gen. Für Frau­en und die länd­li­che Bevöl­ke­rung ist die­se Exis­tenz­un­si­cher­heit noch alar­mie­ren­der, Mil­lio­nen von Kin­dern sind von schwe­rer Unter­ernäh­rung und lebens­be­droh­li­chen Krank­hei­ten bedroht. Die Aus­gren­zung von Frau­en aus dem Bereich der Wirt­schaft trägt eben­falls zu einer pre­kä­ren Situa­ti­on bei.

Die Situa­ti­on ist vor allem auf den Zusam­men­bruch der Wirt­schaft nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban im Jahr 2021 zurück­zu­füh­ren. Dazu kom­men Natur­ka­ta­stro­phen. Von Über­schwem­mun­gen im April 2024 waren 32 der 34 Pro­vin­zen betrof­fen, mehr als 250 Men­schen starben.

Den­noch muss­te das Welt­ernäh­rungs­pro­gramm der Ver­ein­ten Natio­nen (WFP) auf­grund von Finan­zie­rungs­eng­päs­sen die Nah­rungs­mit­tel­hil­fe für rund zehn Mil­lio­nen Men­schen bis 2023 ein­stel­len. Und seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban im August 2021 sind die Gel­der der afgha­ni­schen Zen­tral­bank ein­ge­fro­ren und unzu­gäng­lich, wäh­rend inter­na­tio­na­le Sank­tio­nen und Restrik­tio­nen den Zufluss aus­län­di­scher Gel­der einschränken.

Mehr als 1,6 Mil­lio­nen Afghan*innen haben seit August 2021 ihr Land ver­las­sen, die meis­ten flo­hen in den Iran und nach Paki­stan. Doch auch dort sind sie nicht sicher, wie sich seit Okto­ber 2023 dra­ma­tisch zeigt: Paki­stan begann eine Abschie­bungs­of­fen­si­ve, von Ende Okto­ber bis Febru­ar 2024 wur­den 541.000 Afghan*innen in die Hän­de der Tali­ban abge­scho­ben. Dar­un­ter sind auch Men­schen, die für die Auf­nah­me­ver­fah­ren Deutsch­lands und ande­rer Län­der nach Paki­stan geflo­hen waren. Die Aus­wei­sung aus Paki­stan wird die huma­ni­tä­ren Bedar­fe noch erhöhen.

Auch Sicherheit herrscht nicht

UNAMA hat Kennt­nis von 23 bewaff­ne­ten Grup­pen, die sich zu Ope­ra­tio­nen in Afgha­ni­stan beken­nen. Dazu zäh­len die Natio­na­le Wider­stands­front, die Afgha­ni­stan Free­dom Front und das Afgha­ni­stan Libe­ra­ti­on Move­ment (ehe­mals Afgha­ni­stan Libe­ra­ti­on Front) und der Isla­mi­sche Staat in der Pro­vinz Kho­ra­san (ISKP).

Es gab bei­spiels­wei­se Anschlä­ge auf den Flug­ha­fen, das Außen­mi­nis­te­ri­um und eine Bank in Kan­da­har, bei denen sowohl Diplo­ma­ten als auch de-fac­to Sicher­heits­kräf­te eben­so ums Leben kamen wie Zivilist*innen. Sol­che Anschlä­ge und Kampf­hand­lun­gen tref­fen die Zivil­be­völ­ke­rung über­all in Afgha­ni­stan, die genann­ten Bei­spie­le zei­gen deut­lich, wie pre­kär die Sicher­heits­la­ge in Afgha­ni­stan ist.

Wenn Gesprä­che über die Zukunft Afgha­ni­stans statt­fin­den, muss dies unter Ein­be­zie­hung der Zivil­ge­sell­schaft und mit einer akti­ven Betei­li­gung der Frau­en geschehen!

Auch ist erwäh­nens­wert, dass die Ermor­dung von Ayman al-Zawa­hi­ri, dem Anfüh­rer von al-Qai­da, am 31. Juli 2022 im Her­zen von Kabul statt­fand, an einem Ort. Die­ses Bei­spiel zeigt klar, wie die Tali­ban ter­ro­ris­ti­sche Grup­pen in Afgha­ni­stan auf­neh­men und ihnen Schutz bieten.

Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan?

Ange­sichts der kata­stro­pha­len men­schen­recht­li­chen, huma­ni­tä­ren und Sicher­heits­la­ge kom­men Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan nicht in Betracht. Ent­spre­chend fatal ist es, wenn die Ministerpräsident*innen/Innenminister*innen zum Bei­spiel Bay­erns und Sach­sens genau das fordern.

Aus dem Fol­ter­ver­bot folgt: Nie­mand darf abge­scho­ben wer­den, wenn nach der Abschie­bung Fol­ter oder unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­de Behand­lung oder Bestra­fung droht (Art. 3 EMRK, Arti­kel 4 der EU-Grund­rech­te­char­ta). Es gilt unein­ge­schränkt für alle Men­schen – auch für Per­so­nen, die in Deutsch­land Straf­ta­ten began­gen haben. Denn die Garan­tie der Men­schen­wür­de gilt für alle Men­schen, unab­hän­gig von der Schwe­re der von ihnen began­ge­nen Ver­bre­chen. Ihre Stra­fen müs­sen sie in Deutsch­land ver­bü­ßen. Etwa­ige »Sicher­heits­zu­sa­gen« für die abzu­schie­ben­den Straf­tä­ter sind von Sei­ten der ter­ro­ris­ti­schen Tali­ban weder ver­trau­ens­wür­dig noch zuver­läs­sig und kön­nen damit eine men­schen­rechts­wid­ri­ge Abschie­bung nicht legitimieren.

Keine Normalisierung der Beziehungen zu den Taliban!

Wir unter­stüt­zen den Appell von Exil-Afghan*innen, ins­be­son­de­re von afgha­ni­schen Frau­en, an die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft, die Feh­ler aus der Kon­fe­renz von Doha nicht zu wie­der­ho­len und Ver­bre­cher nicht durch die Auf­nah­me von inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen zu legi­ti­mie­ren. Wenn Gesprä­che über die Zukunft Afgha­ni­stans statt­fin­den, muss dies unter Ein­be­zie­hung der Zivil­ge­sell­schaft und mit einer akti­ven Betei­li­gung der Frau­en geschehen!

(aa, mk)