16.09.2024
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Performance-Protest afghanischer Frauen in Berlin. Foto: Jonas Bickmann

Das Taliban-Regime zielt mit neuen afghanischen Laster- und Tugendgesetzen auf die völlige Unsichtbarmachung der Frau. Selbst die Stimme der Frau wird als intim bezeichnet und darf in der Öffentlichkeit nicht mehr gehört werden – nicht singend, nicht reimend, nicht rezitierend. Das zeigt: Frauen aus Afghanistan brauchen Flüchtlingsschutz.

Das 114-sei­ti­ge Doku­ment mit 35 Arti­keln, das der Asso­cia­ted Press vor­liegt, ist das ers­te Las­ter- und Tugend­ge­set­zes­pa­ket der Tali­ban, die seit Mit­te 2021 in Afgha­ni­stan die Macht inne­ha­ben. Bis­her haben die Tali­ban ihre Vor­schrif­ten für Frau­en per Dekre­te erlas­sen – mitt­ler­wei­le über 80 an der Zahl.

Mit dem nun neu­en Gesetz erhält die Sit­ten­po­li­zei des zustän­di­gen »Minis­te­ri­ums für Gebet und Ori­en­tie­rung sowie zur För­de­rung der Tugend und zur Ver­hin­de­rung von Las­tern« mehr Macht. Sie darf das per­sön­li­che Ver­hal­ten der Bevöl­ke­rung über Ver­war­nun­gen bis hin zu Unter­su­chungs­haft regu­lie­ren. Das Gesetz wur­de am 21.08.2024 vom Obers­ten Füh­rer Hiba­tul­lah Achundsa­da in Kraft gesetzt. Maul­vi Abdul Gha­far Farooq, Spre­cher des Minis­te­ri­ums, kom­men­tier­te: »Ins­hal­lah [so Gott will] ver­si­chern wir Ihnen, dass die­ses isla­mi­sche Gesetz eine gro­ße Hil­fe bei der För­de­rung der Tugend und der Besei­ti­gung des Las­ters sein wird«.

Gesetz zielt vor allem auf Frauen

In Arti­kel 13 heißt es, dass eine Frau ihren Kör­per in der Öffent­lich­keit jeder­zeit bede­cken muss und dass eine Gesichts­be­de­ckung uner­läss­lich ist, um ande­re nicht zu »ver­füh­ren«. Die Klei­dung darf nicht dünn, eng oder kurz sein. Es heißt kon­kret: »Mus­li­mi­sche Frau­en sind ver­pflich­tet, ihren Kör­per und ihr Gesicht vor Nicht-Mahr­am-Män­nern zu ver­ber­gen«, und: »Mus­li­mi­sche Frau­en sind ver­pflich­tet, ihren Kör­per vor ungläu­bi­gen Frau­en zu verbergen«.

Die Tali­ban wol­len Frau­en aus dem öffent­li­chen Leben aus­schlie­ßen. Außer­dem ist es ihnen ver­bo­ten, Män­ner anzu­se­hen, mit denen sie nicht bluts­ver­wandt oder ver­hei­ra­tet sind, und umgekehrt. 

Selbst die Stim­me der Frau wird als intim bezeich­net und darf in der Öffent­lich­keit nicht län­ger zu hören sein – kon­kret ver­bo­ten ist ihnen lau­tes Sin­gen, Rei­men und Rezi­tie­ren. Außer­dem ist es ihnen ver­bo­ten, Män­ner anzu­se­hen, mit denen sie nicht bluts­ver­wandt oder ver­hei­ra­tet sind, und umge­kehrt. Die Tali­ban wol­len Frau­en aus dem öffent­li­chen Leben aus­schlie­ßen. Sie wer­den zu »unsicht­ba­ren Wesen« gemacht.

Gesetz unterdrückt auch den Rest der Bevölkerung

Das Geset­zes­pa­ket betrifft vor allem Frau­en, aber auch vie­le Aspek­te des täg­li­chen Lebens der gan­zen Bevöl­ke­rung, wie öffent­li­che Gebets-Regeln, Män­ner-Klei­dung, Bart­län­ge, Ver­kehrs­mit­tel, Musik und das Feiern.

So ver­bie­tet das Gesetz zum Bei­spiel die Ver­öf­fent­li­chung und das Anse­hen von Bil­dern von Men­schen und Tie­ren, was die ohne­hin fra­gi­le afgha­ni­sche Medi­en­land­schaft bedroht. Auch das Abspie­len von Musik wird ver­bo­ten. Die Beför­de­rung allein rei­sen­der Frau­en wird ver­bo­ten und Fah­rer und Fahr­gäs­te wer­den ver­pflich­tet, zu bestimm­ten Zei­ten Gebe­te zu ver­rich­ten. Män­nern und Frau­en, die nicht mit­ein­an­der ver­wandt sind, wird es grund­sätz­lich ver­bo­ten sich ein­an­der zu nähern. Homo­se­xu­el­le Bezie­hun­gen, Ehe­bruch und Glücks­spie­le wer­den eben­falls in dem Gesetz (erneut) verboten.

Internationale Kritik reicht nicht aus

Der Euro­pa­rat hat in einer soge­nann­ten Brüs­se­ler Erklä­rung das Gesetz kri­ti­siert, da es afgha­ni­schen Frau­en fak­tisch ihr Grund­recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung raubt. Auch der UN-Hoch­kom­mis­sar für Men­schen­rech­te, Vol­ker Türk kri­ti­siert scharf, dass es Frau­en zu gesichts- und stim­men­lo­sen Schat­ten degra­die­re, was »völ­lig inak­zep­ta­bel« und des­halb das Gesetz zurück­zu­neh­men sei.

Das Fata­le: Wäh­rend sich die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft mit Erklä­run­gen zu Wort mel­det, lau­fen in der Pra­xis Vor­be­rei­tun­gen, mit den Tali­ban zusammenzuarbeiten.

Auch die Unter­stüt­zungs­mis­si­on der Ver­ein­ten Natio­nen in Afgha­ni­stan (UNAMA) und meh­re­re Außenminister*innen, dar­un­ter Anna­le­na Baer­bock, äußer­ten sich kri­tisch über die Lage der Men­schen­rech­te, ins­be­son­de­re der Frau­en­rech­te in Afghanistan.

Das Fata­le: Wäh­rend sich die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft mit Erklä­run­gen zu Wort mel­det, lau­fen in der Pra­xis Vor­be­rei­tun­gen, mit den Tali­ban zusam­men­zu­ar­bei­ten. Nach jedem neu­en Dekre­te-Paket gegen Frau­en­rech­te gibt es aus der gan­zen Welt Erklä­run­gen – denen jedoch kei­ne Taten fol­gen! Das­sel­be geschieht nun mit dem Tugendgesetz.

Gleich­zei­tig sind es gera­de die inter­na­tio­na­len Insti­tu­tio­nen, die Frau­en von wich­ti­gen Tref­fen aus­schlie­ßen. Sie tra­gen die Ver­ant­wor­tung für die Macht­er­grei­fung der Tali­ban, sie koope­rie­ren gera­de mit denen, die Afgha­ni­stan auf Kos­ten der Frau­en regie­ren und ver­su­chen, die Frau­en zu ent­mensch­li­chen. Eini­ge euro­päi­sche Län­der ver­su­chen der­zeit mit den Tali­ban zu ver­han­deln. Nor­we­gen hat die afgha­ni­sche Bot­schaft der vor­he­ri­gen afgha­ni­schen Repu­blik vor weni­gen Tagen geschlos­sen. Eben­so berei­tet Deutsch­land afgha­ni­schen Quel­len zufol­ge der­zeit die Schlie­ßung der afgha­ni­schen Bot­schaft im eige­nen Land vor. Das sind fata­le Schrit­te in Rich­tung einer Nor­ma­li­sie­rung des jet­zi­gen Tali­ban-Regimes, die zudem erheb­li­che Fol­gen für die­je­ni­gen haben wer­den, die vor der Tali­ban geflo­hen sind und nun gezwun­gen wer­den, sich für Doku­men­te an das ver­bre­che­ri­sche Regime zu wenden.

Taten statt Lippenbekenntnisse

Den inter­na­tio­na­len Erklä­run­gen müs­sen Taten fol­gen. Die EU soll­te den Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof dazu drän­gen, die Taten der Tali­ban als Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit zu unter­su­chen und dabei ein beson­de­res Augen­merk auf die geschlechts­spe­zi­fi­sche Ver­fol­gung zu legen. Die Situa­ti­on der Frau­en muss inter­na­tio­nal als Geschlech­ter­apart­heid aner­kannt wer­den, so dass die Tali­ban für ihre sys­te­ma­ti­schen Ver­bre­chen an afgha­ni­schen Frau­en völ­ker­recht­lich zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wer­den können.

In Deutsch­land und ande­ren west­li­chen Staa­ten muss Afghan*innen dau­er­haft Schutz gewährt wer­den. Afgha­ni­sche Frau­en müs­sen auf­grund geschlechts­spe­zi­fi­scher Ver­fol­gung durch die Tali­ban grund­sätz­lich den Flücht­lings­sta­tus erhal­ten, wie es die Euro­päi­sche Asyl­agen­tur (EUAA) bereits im Janu­ar 2023 gefor­dert hat. Die Emp­feh­lun­gen der EUAA sind zwar nicht bin­dend, stel­len aber ein star­kes Signal an die Mit­glied­staa­ten dar, ihre natio­na­le Asy­l­ent­schei­dungs­pra­xis anzu­pas­sen. Die schwe­di­sche Asyl­be­hör­de erkennt Frau­en und Mäd­chen aus Afgha­ni­stan bereits seit Dezem­ber 2022 die Flücht­lings­ei­gen­schaft zu, Däne­mark seit dem 30. Janu­ar 2023, die Schweiz seit dem 10. Juli 2023.

Obwohl die men­schen­recht­li­che und huma­ni­tä­re Kata­stro­phe in Afgha­ni­stan bekannt ist, gibt es zuneh­mend mehr Ableh­nun­gen von Asyl­an­trä­gen afgha­ni­scher Geflüchteter.

Obwohl die men­schen­recht­li­che und huma­ni­tä­re Kata­stro­phe in Afgha­ni­stan dem Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge bekannt ist, gibt es zuneh­mend mehr Ableh­nun­gen von Asyl­an­trä­gen afgha­ni­scher Geflüch­te­ter. Das BAMF sieht zum Bei­spiel auch bei vor­he­ri­ger Arbeit für die ehe­ma­li­ge afgha­ni­sche Regie­rung nicht unbe­dingt eine Gefahr für die Betrof­fe­nen, selbst wenn Kolleg*innen ver­schleppt oder getö­tet wur­den. Für PRO ASYL ist klar: Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan sind men­schen­rechts­wid­rig.

Das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm für gefähr­de­te Afghan*innen steht nur drei Jah­re nach dem chao­ti­schen Abzug der inter­na­tio­na­len Streit­kräf­te im Som­mer 2021 nun vor dem Aus – trotz der nicht ein­ge­lös­ten Schutz­ver­spre­chen der Bun­des­re­gie­rung. Nach dem aktu­el­len Haus­halts­plan der Regie­rung wird für nächs­tes Jahr kaum noch Geld hier­für ein­ge­plant. Doch gera­de jetzt ist die­ser Schutz drin­gend nötig – die neu­en Tugend­ge­set­ze der Tali­ban zei­gen ein­mal mehr, wie bedroht die Men­schen in Afgha­ni­stan sind. Für PRO ASYL und die Lan­des­flücht­lings­rä­te steht die­se kata­stro­pha­le Ent­wick­lung des Bun­des­auf­nah­me­pro­gramms auch im Zusam­men­hang mit den flücht­lings­feind­li­chen Debat­ten der letz­ten Mona­te. Sie for­dern mit vie­len wei­te­re Orga­ni­sa­tio­nen in einem gemein­sa­men State­ment vom 15.08.24 den Erhalt und die tat­säch­li­che Rea­li­sie­rung des Bun­des­auf­nah­me­pro­gramms und die Ein­hal­tung der Schutz­ver­spre­chen Deutschlands.

(aa, fw)