Aufgrund der Corona-Pandemie hat das BAMF neben den Dublin-Überstellungen auch die Überstellungsfristen ausgesetzt und stützt letzteres auf § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art 27 Abs. 4 Dublin-III-VO. In diesen Praxishinweisen von PRO ASYL und Equal Rights Beyond Borders wird dieses Vorgehen analysiert und bezüglich verschiedener Fallgruppen geprüft.

Update 26.01.2021: Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt hat die Fra­ge, ob die Aus­set­zung der Dub­lin-Fris­ten wegen der Coro­na-Pan­de­mie euro­pa­rechts­wid­rig war, mit Beschluss vom 26. Janu­ar 2021 dem Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on (EuGH) vor­ge­legt. Wann mit einer Ent­schei­dung des EuGHs zu rech­nen ist, kann aktu­ell nicht vor­her­ge­sagt wer­den. In der Regel sind sol­che Ver­fah­ren aber für eine län­ge­re Zeit anhängig.

Update, 04.08.2020:

  • Das BAMF hat die Pra­xis auf­ge­ge­ben, bei Per­so­nen ohne anhän­gi­ges Kla­ge­ver­fah­ren § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO anzuwenden. 
  • Per­so­nen im Dub­lin-Ver­fah­ren, bei denen kein Kla­ge­ver­fah­ren anhän­gig ist und bei denen die Über­stel­lungs­frist abge­lau­fen ist, sind nicht mehr län­ger von der Aus­set­zung der Über­stel­lungs­frist betrof­fen und wer­den ins natio­na­le Asyl­ver­fah­ren übernommen. 
  • Noch ist uns nicht bekannt, ob die Über­nah­me ins natio­na­le Ver­fah­ren auto­ma­tisch erfolgt oder ob das BAMF ange­schrie­ben wer­den muss.

Update Mai 2020: In meh­re­ren Ent­schei­dun­gen wur­de vom VG Schles­wig-Hol­stein die Unter­bre­chung der Frist als euro­pa­rechts­wid­rig beur­teilt und nach Frist­ab­lauf die Zustän­dig­keit Deutsch­lands fest­ge­stellt. Sie­he bei­spiels­wei­se VG Schles­wig-Hol­stein, Urteil vom 15.05.2020, Az. 10 A 596/19

Update, 16.04.2020: Die EU-Kom­mis­si­on stellt in ihrer Kom­mu­ni­ka­ti­on zu Covid-19 und der Asyl­po­li­tik fest, dass eine Aus­set­zung der Über­stel­lungs­fris­ten auf­grund einer Pan­de­mie kei­ne Rechts­grund­la­ge in der Dub­lin-III-Ver­ord­nung hat und bestä­tigt damit die Rechts­auf­fas­sung von PRO ASYL. Ent­spre­chend müs­sen laut Kom­mis­si­on die Fris­ten wei­ter­lau­fen und die Ver­ant­wor­tung nach Frist­ab­lauf auf den Mit­glied­staat über­ge­hen, in dem sich die Per­son aktu­ell aufhält.

Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) hat in einer Mit­tei­lung an die Präsident*innen der deut­schen Ver­wal­tungs­ge­rich­te bekannt­ge­ge­ben, dass bis auf wei­te­res alle Dub­lin-Über­stel­lun­gen sowie ‑Über­stel­lungs­fris­ten auf Grund der Coro­na-Pan­de­mie aus­ge­setzt sei­en. Zudem erhal­ten vie­le Betrof­fe­ne eben­so ent­spre­chen­de Schrei­ben.

Das BAMF stützt die Aus­set­zung der Fris­ten auf § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art 27 Abs. 4 Dub­lin-III-Ver­ord­nung. Nach einer sol­chen Aus­set­zung soll die Über­stel­lungs­frist kom­plett neu beginnen.

Nach § 80 Abs. 4 VwGO kann eine Behör­de die Voll­zie­hung eines Ver­wal­tungs­akts, der trotz Rechts­be­helf voll­zieh­bar bleibt, aus­set­zen. Dies ist bei »Dub­lin-Beschei­den« der Fall, weil Kla­gen gegen die­se Ent­schei­dun­gen kei­ne auf­schie­ben­de Wir­kung haben. Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO wie­der­um ermög­licht es den Mit­glied­staa­ten, die Aus­set­zung der Über­stel­lungs­ent­schei­dung bis zum Abschluss des Rechts­be­helfs vorzusehen.

Nach Ein­schät­zung des BAMF sind ange­sichts der wegen der Coro­na-Kri­se geschlos­se­nen Gren­zen und Rei­se­ver­bo­te in Euro­pa Dub­lin-Über­stel­lun­gen nicht ver­tret­bar. Die zeit­wei­se Aus­set­zung soll laut BAMF jedoch nicht zum Ablauf der jewei­li­gen Dub­lin-Über­stel­lungs­frist füh­ren, die nach Art. 29 Abs. 1 Dub­lin-III-VO grund­sätz­lich sechs Mona­te beträgt. Die­se Frist, nach deren Ablauf die Zustän­dig­keit für das Asyl­ver­fah­ren auf Deutsch­land über­ge­hen wür­de, wer­de unter­bro­chen. Dabei stützt sich die Behör­de auf die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts (Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18). Dem­nach wer­de die Über­stel­lungs­frist vor ihrem Ablauf durch eine Aus­set­zung der Voll­zie­hung der Abschie­bungs­an­ord­nung jeden­falls dann unter­bro­chen, wenn dies aus sach­lich ver­tret­ba­ren Grün­den erfolgt ist.

Die­ses Vor­ge­hen des BAMF löst eini­ge Unsi­cher­hei­ten und Fra­ge­stel­lun­gen in der Bera­tungs­pra­xis aus. Fol­gen­de kur­ze Zusam­men­stel­lung soll – auch auf Grund ent­spre­chen­der Nach­fra­gen und Dis­kus­sio­nen – eine kur­ze Über­sicht über die Wir­kun­gen die­ser Ent­schei­dung und Kon­se­quen­zen für die Bera­tungs­pra­xis bie­ten. Die­se kann frei­lich nur vor­läu­fig und vor­be­halt­lich der wei­te­ren Ent­wick­lun­gen. Sie erset­zen kei­ne anwalt­li­che Beratung.

Eine PDF-Ver­si­on der Pra­xis­hin­wei­sen mit wei­te­ren Nach­wei­sen ist hier zu finden.

Ins­be­son­de­re Per­so­nen, bei denen aktu­ell ein Kla­ge­ver­fah­ren anhän­gig ist, soll­ten sich von fach­kun­di­gen Rechtsanwält*innen über das im indi­vi­du­el­len Fall bes­te Vor­ge­hen bera­ten lassen.

Zunächst ist fest­zu­stel­len, dass das BAMF nicht rechts­wirk­sam die Über­stel­lung aus­set­zen und dadurch die Über­stel­lung­frist in Fäl­len unter­bre­chen kann, in denen gegen den Dub­lin-Bescheid (kon­kret: die Abschie­bungs­an­ord­nung nach § 34a AsylG) kein Rechts­mit­tel ein­ge­legt wurde.

Auch wenn das BAMF den Hin­weis eben­so an Per­so­nen im Dub­lin-Ver­fah­ren schickt, die nicht geklagt haben: Die aktu­el­le Voll­zie­hungs­aus­set­zung betrifft die­se Fäl­le nicht. Die Über­stel­lungs­frist endet regu­lär sechs Mona­te nach Annah­me des Auf- oder Wie­der­auf­nah­me­ge­su­ches durch den ande­ren Mit­glieds­staat. Eine mög­li­cher­wei­se gegen­tei­li­ge Auf­fas­sung des BAMF wäre juris­tisch kaum zu hal­ten, wie fol­gend begrün­det wird.

  1. Natio­na­les Recht – § 80 Abs. 4 VwGO 

80 Abs. 4 VwGO regelt die Mög­lich­keit der Behör­de, die Voll­zie­hung eines Ver­wal­tungs­ak­tes »in Fäl­len des § 80 Abs. 2 VwGO« aus­zu­set­zen. Der Ver­wal­tungs­akt ist hier der Dub­lin-Bescheid. Die Kla­ge gegen den Dub­lin-Bescheid hat kei­ne auto­ma­ti­sche auf­schie­ben­de Wir­kung, so dass ein Fall des § 80 Abs. 2 VwGO vor­liegt. Die­se Norm regelt eine Aus­nah­me vom Grund­satz des § 80 Abs. 1 VwGO, der bestimmt, dass Anfech­tungs­kla­gen grund­sätz­lich auf­schie­ben­de Wir­kung haben. Inso­fern ist ein­deu­ti­ger Bezugs­punkt und Rege­lungs­ge­gen­stand des § 80 Abs. 4 VwGO die auf­schie­ben­de Wir­kung der Kla­ge. Die Behör­de kann zwar die Voll­zie­hung vor Kla­ge­er­he­bung aus­set­zen (BVerwG, Beschluss vom 17. 09.2001 – 4 VR 19/01 – Rn. 5), die­se Aus­set­zung endet dann aber mit der Bestand­kraft – also etwa mit Ablauf der Kla­ge­frist oder Kla­ge­ab­wei­sung, vgl. auch § 80b Abs. 1 S. 2 VwGO. Ohne anhän­gi­ges Rechts­mit­tel kann es somit kei­ne wirk­sa­me Voll­zie­hungs­aus­set­zung geben.

  1. Euro­pa­recht – Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung

Für Dub­lin-Beschei­de wird dies auch ein­deu­tig durch Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO bestä­tigt. Denn die­ser gibt der Behör­de die Mög­lich­keit, die Durch­füh­rung der Über­stel­lung »bis zum Abschluss des Rechts­be­helfs oder der Über­prü­fung« der Über­stel­lungs­ent­schei­dung – also des Dub­lin-Beschei­des – aus­zu­set­zen. Ohne anhän­gi­ges Ver­fah­ren, mit dem die Recht­mä­ßig­keit des Beschei­des über­prüft wird, erlaubt Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO der Behör­de eine Aus­set­zung nicht. Laut der Ent­schei­dung des BVerwG vom Janu­ar 2019 ist die Kla­ge­er­he­bung »uni­ons­recht­li­ches Min­des­ter­for­der­nis« für die Aus­set­zung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO (Rn. 29). Dies folgt im Übri­gen auch aus Art. 29 Abs. 1 Dub­lin-III-VO, der für den Beginn der Über­stel­lungs­frist die Annah­me des Auf- oder Wie­der­auf­nah­me­ge­su­ches oder die end­gül­ti­ge Ent­schei­dung über das Rechts­mit­tel gegen den Dub­lin-Bescheid bestimmt. Auch die­se Rege­lung zeigt, dass es eine Ver­län­ge­rung der Über­stel­lungs­frist durch behörd­li­che Aus­set­zung nach Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO nur in Zusam­men­hang mit einem ein­ge­leg­ten Rechts­mit­tel geben kann.

Eine irgend­wie gear­te­te Aus­nah­me­re­ge­lung für die vor­über­ge­hen­de Unmög­lich­keit von Über­stel­lun­gen etwa auf Grund höhe­rer Gewalt exis­tiert nicht. Zie­le der Dub­lin-III-Ver­ord­nung sind unter ande­rem die rasche Bestim­mung des zustän­di­gen Mit­glieds­staa­tes (Erwä­gungs­grund 5) und ein zügi­ger Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren in der Sache. Die­ses Ziel wird auch nicht durch die vor­über­ge­hen­de Unmög­lich­keit einer Über­stel­lung in Fra­ge gestellt.

  1. Kei­ne ana­lo­ge Anwendung

Auch eine ana­lo­ge Anwen­dung von § 80 Abs. 4 VwGO auf bestands­kräf­ti­ge Dub­lin-Beschei­de ist recht­lich nicht mög­lich. Dazu bedürf­te es einer plan­wid­ri­gen Rege­lungs­lü­cke. Art. 29 Abs. 2 Dub­lin-III-VO regelt aber die Mög­lich­kei­ten der Ver­län­ge­rung der Über­stel­lungs­frist aus ande­ren Grün­den als anhän­gi­gen Rechts­mit­teln abschlie­ßend. Die Frist kann auf ein Jahr ver­län­gert wer­den, wenn sich Antrag­stel­len­de in Straf­haft befin­den und auf 18 Mona­te, wenn Antrag­stel­len­de flüch­tig sind. Dies zeigt schon, dass in der Dub­lin-III-VO bewusst gere­gelt wur­de, dass die Ver­län­ge­rung der Über­stel­lungs­frist nur an aus­drück­lich nor­mier­ten Ver­hal­ten von Antragsteller*innen anknüp­fen soll. Es ist nicht über­zeu­gend, dass Kon­stel­la­tio­nen über­se­hen wur­den, in denen die Über­stel­lung wegen Umstän­den unmög­lich ist, die außer­halb des Ver­ant­wor­tungs­be­rei­ches sowohl der Antrag­stel­len­den als auch des unzu­stän­di­gen Staa­tes lie­gen. Sol­che Kon­stel­la­tio­nen waren auch vor der Coro­na-Kri­se denkbar.

Pra­xis­hin­weis:

Nach Ablauf der jewei­li­gen – regu­lä­ren und nicht wirk­sam aus­ge­setz­ten – Über­stel­lungs­frist, soll­te das BAMF auf­ge­for­dert wer­den, das Asyl­ver­fah­ren zu über­neh­men, wie es nach Frist­ab­lauf durch die Dub­lin-III-Ver­ord­nung vor­ge­se­hen ist (Antrag auf Wie­der­auf­grei­fen des Ver­fah­rens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Die Ein­lei­tung recht­li­cher Schrit­te kann bereits ange­droht wer­den. Soll­te das BAMF sich wei­gern oder nicht reagie­ren, so ist in ent­spre­chen­den Fäl­len nach Ablauf der sechs­mo­na­ti­gen Über­stel­lungs­frist ein Eil­an­trag beim zustän­di­gen Ver­wal­tungs­ge­richt nach § 123 VwGO ein­zu­rei­chen, um das BAMF zur Bescheid­auf­he­bung zu ver­pflich­ten sowie zur Auf­nah­me des Asyl­ver­fah­rens und wei­ter dazu zu ver­pflich­ten, bis zur Auf­he­bung kei­ne Über­stel­lung durch­zu­füh­ren bzw. durch die Aus­län­der­be­hör­de durch­füh­ren zu las­sen. Ein sol­cher »wirk­sa­mer und schnel­ler« Rechts­be­helf ist uni­ons­recht­lich ver­pflich­tend vor­ge­ge­ben (vgl. EuGH, Urteil vom 25.10.2017 – C‑201/16 (Shiri), Rn. 44 ff.). Teil­wei­se anders­lau­ten­de ver­wal­tungs­ge­richt­li­che Beschlüs­se, wonach ein Eil­ver­fah­ren nicht statt­haft sei, ste­hen in deut­li­chem Wider­spruch zu die­ser Rechtsprechung.

Wur­den Kla­ge und Eil­an­trag gegen den Dub­lin-Bescheid ein­ge­legt und wur­de dem Eil­an­trag nach § 80 Abs. 5 VwGO statt­ge­ge­ben, so ent­fal­tet die vom BAMF ange­streb­te Voll­zie­hungs­aus­set­zung eben­falls kei­ne Rechts­wir­kung. Denn die Voll­zie­hung ist bereits aus­ge­setzt. Für Betrof­fe­ne erge­ben sich kei­ne Änderungen.

Ist der Eil­an­trag nach § 80 Abs. 5 VwGO noch anhän­gig, ergibt sich aus der behörd­li­chen Voll­zie­hungs­aus­set­zung auch kei­ne zusätz­li­che Rechts­wir­kung für die Über­stel­lungs­frist. Denn die­se wird ohne­hin unter­bro­chen wäh­rend der Eil­an­trag anhän­gig ist und beginnt erst bei ableh­nen­der Ent­schei­dung über den Eil­an­trag oder die Kla­ge erneut zu lau­fen (BVerwG, Urteil vom 26.05.2016 – 1 C 15.15; dann: mög­li­cher­wei­se Rechts­wir­kung der Voll­zugs­aus­set­zung, sie­he III.).

Pra­xis­hin­weis:

Trotz behörd­li­cher Aus­set­zung dürf­te das Rechts­schutz­be­dürf­nis an einer statt­ge­ben­den Eil­ent­schei­dung, also einer gericht­li­chen Aus­set­zung nach § 80 Abs. 5 VwGO (qua­si zusätz­lich zur behörd­lich ange­ord­ne­ten) nicht ent­fal­len. Denn die­se gericht­li­che Anord­nung der auf­schie­ben­den Wir­kung ent­fal­tet bis zur Ent­schei­dung über die Kla­ge Wir­kung und nicht nur (unab­seh­bar) tem­po­rär, bis Über­stel­lun­gen wie­der auf­ge­nom­men wür­den, wie die BAMF-Ent­schei­dung. Lehnt das Gericht den Eil­an­trag den­noch for­mal­ju­ris­tisch man­gels Rechts­schutz­be­dürf­nis­ses ab, wäre nach Ende der behörd­li­chen Über­stel­lungs-Aus­set­zung ein Ände­rungs­an­trag nach § 80 Abs. 7 VwGO zu stel­len, so dass das Gericht dann über die Gewäh­rung des Eil­rechts­schut­zes zu ent­schei­den hätte.

Rechts­wir­kun­gen ent­fal­ten könn­te die behörd­li­che Voll­zie­hungs­aus­set­zung damit allein, wenn

  1. die Rechts­mit­tel­frist für den Dub­lin-Bescheid – ins­be­son­de­re die Frist, den Eil­an­trag ein­zu­le­gen – noch läuft oder
  2. nur eine Kla­ge, aber kein Eil­an­trag, gegen den Dub­lin-Bescheid ein­ge­legt wur­de oder
  3. der Eil­an­trag vom Ver­wal­tungs­ge­richt abge­lehnt wur­de und die Kla­ge noch anhän­gig ist.

Nach Logik des BAMF wür­den dann in all die­sen Fäl­len die Voll­zie­hungs­aus­set­zung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO die Über­stel­lungs­frist unter­bre­chen, so dass die sechs­mo­na­ti­ge Frist nach Ende der Voll­zie­hungs­aus­set­zung oder nach Abwei­sung der Kla­ge erneut zu lau­fen beginnt. Dem Bun­des­amt stün­den dann erneut vol­le sechs Mona­te zur Ver­fü­gung, um die Über­stel­lung zu rea­li­sie­ren (BVerwG, Urteil vom 26.05.2016). Die Frist wir aber nur wirk­sam unter­bro­chen, wenn die Voll­zie­hungs­aus­set­zung recht­mä­ßig ist (Umkehr­schluss aus: BVerwG, Urteil vom 08.01.2019, Rn. 21).

Es bestehen jedoch erheb­li­che Zwei­fel an der Recht­mä­ßig­keit der Vollziehungsaussetzung:

Grund­sätz­lich kommt der Behör­de ein wei­tes Ermes­sen bezüg­lich der Fra­ge zu, aus wel­chen Grün­den die Voll­zie­hung von Dub­lin-Über­stel­lun­gen nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO aus­ge­setzt wird. Aller­dings sind die­sem Ermes­sen uni­ons­recht­li­che Gren­zen gesetzt. Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt (BVerwG) hat die­se Gren­zen bis­her aus­drück­lich offen­ge­las­sen. Jeden­falls rechts­wid­rig sei die Voll­zie­hungs­aus­set­zung aber »[…] wenn bei kla­rer Rechts­la­ge und offen­kun­dig eröff­ne­ter Über­stel­lungs­mög­lich­keit die behörd­li­che Aus­set­zungs­ent­schei­dung allein dazu dient, die Über­stel­lungs­frist zu unter­bre­chen, weil sie auf­grund behörd­li­cher Ver­säum­nis­se ansons­ten nicht (mehr) gewahrt wer­den könn­te« (BVerwG, Urteil vom 08.01.2019, Rn. 27).

Vor­lie­gend sind die Über­stel­lun­gen auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie aus­ge­setzt, was nicht per se unter die­sen Fall der Rechts­wid­rig­keit nach dem BVerwG fällt. Aller­dings ent­hält die ent­spre­chen­de Pas­sa­ge des Urteils aus­drück­lich kei­ne abschlie­ßen­de Bewer­tung, so dass die Fra­ge der Recht­mä­ßig­keit der aktu­el­len Aus­set­zung nicht an Hand der Recht­spre­chung abschlie­ßend beur­teilt wer­den kann.

Für die Fra­ge nach der Recht­mä­ßig­keit der Aus­set­zung ist ent­schei­dend, dass die Rechts­grund­la­ge, auf die sich das BAMF bezieht, eine Voll­zie­hungs­aus­set­zung nur in Bezug auf anhän­gi­ge Rechts­be­hel­fe ermög­licht. Damit wird klar, dass hier die Behör­de ein Ermes­sen hat, das in einem Sach­zu­sam­men­hang mit dem Rechts­schutz steht. Der der­zeit erteil­te Über­stel­lungs­stopp für alle Über­stel­lun­gen nach der Dub­lin-III-VO auf­grund der Coro­na-Kri­se steht gera­de nicht in die­sem Zusammenhang.

Berück­sich­tigt wer­den muss eben­so, dass es außer­halb des Ein­flus­ses der Betrof­fe­nen liegt, dass Über­stel­lun­gen der­zeit nicht durch­ge­führt werden.

Die Voll­zie­hungs­aus­set­zung wür­de zudem Per­so­nen mit anhän­gi­gem Rechts­mit­tel schlech­ter stel­len als sol­che, die kei­ne Kla­ge ein­ge­reicht haben, da für die­se eine Voll­zugs­aus­set­zung gene­rell nicht in Betracht kommt. An die Inan­spruch­nah­me von Rechts­schutz so nega­ti­ve Fol­gen zu knüp­fen ist aus Sicht von Art. 19 Abs. 4 GG problematisch.

Außer­dem wider­spricht das Vor­ge­hen des BAMF dem euro­pa­recht­li­chen Beschleu­ni­gungs­ge­bots: Nach der Dub­lin-III-VO soll die Bestim­mung des zustän­di­gen Mit­glieds­staats und damit auch der Zugang zum inhalt­li­chen Asyl­ver­fah­ren schnell erfol­gen. Nur so kann gewähr­leis­tet wer­den, dass die Betrof­fe­nen einen effek­ti­ven Zugang zum Asyl­ver­fah­ren und ihrer inhalt­li­chen Prü­fung haben und sie dem­entspre­chend Rechts­si­cher­heit haben. So beschreibt es aus­drück­lich auch die Ver­ord­nung in ihrem Erwä­gungs­grund 5:

»(…) Sie soll­te ins­be­son­de­re eine rasche Bestim­mung des zustän­di­gen Mit­glied­staats ermög­li­chen, um den effek­ti­ven Zugang zu den Ver­fah­ren zur Gewäh­rung des inter­na­tio­na­len Schut­zes zu gewähr­leis­ten und das Ziel einer zügi­gen Bear­bei­tung der Anträ­ge auf inter­na­tio­na­len Schutz nicht zu gefährden.«

1. Kein anhän­gi­ges Kla­ge­ver­fah­ren: Sobald die Über­stel­lungs­frist abge­lau­fen ist, soll­te beim BAMF ein Antrag auf Auf­he­bung des Dub­lin-Bescheids und Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens in Deutsch­land gestellt wer­den. Zur Siche­rung des Anspruchs kann beim Gericht ein Antrag nach § 123 VwGO gestellt werden.

2. Statt­ge­ben­der Eil­be­schluss und anhän­gi­ges Kla­ge­ver­fah­ren: Die Über­stel­lungs­frist läuft ohne­hin nicht, da das Gericht die auf­schie­ben­de Wir­kung der Kla­ge ange­ord­net hat. Durch die Rück­nah­me der Kla­ge wür­de zwar die Frist zu lau­fen begin­nen. Eine Kla­ge­rück­nah­me ist aber nur sinn­voll, wenn trotz statt­ge­ben­dem Eil­rechts­be­schluss gerin­ge Erfolgs­aus­sich­ten im Kla­ge­ver­fah­ren bestehen, dies muss recht­lich unbe­dingt geprüft werden.

3. Anhän­gi­ger Eil­an­trag und anhän­gi­ges Kla­ge­ver­fah­ren: Die Über­stel­lungs­frist läuft nicht, da der Eil­an­trag auf­schie­ben­de Wir­kung hat. An dem Eil­an­trag kann trotz behörd­li­cher Aus­set­zung fest­ge­hal­ten wer­den. Es soll­te jedoch geprüft wer­den, ob Eil­an­trag und Kla­ge über­haupt Erfolgs­aus­sich­ten haben. Nur wenn dies nach aus­rei­chen­der recht­li­cher Prü­fung nicht der Fall ist, soll­te eine Rück­nah­me erwo­gen wer­den, um die Über­stel­lungs­frist in Gang zu setzen.

4. Kein Eil­an­trag gestellt aber anhän­gi­ges Kla­ge­ver­fah­ren: Nach Auf­fas­sung des BAMF wur­de die Über­stel­lungs­frist durch die behörd­li­che Voll­zie­hungs­aus­set­zung unter­bro­chen. Die­se Rechts­au­fas­sung kann ange­grif­fen wer­den, indem nach sechs Mona­ten (ab Annah­me des Auf­nah­me- oder Wie­der­auf­nah­me­ge­suchs durch den ande­ren Mit­glieds­staat) ein Eil­an­trag nach § 123 VwGO mit der Begrün­dung gestellt wird, dass die Aus­set­zung rechts­wid­rig war und die Über­stel­lungs­frist daher nicht unter­bro­chen wur­de. Zusätz­lich kann es – zwin­gend abhän­gig von den Erfolgs­aus­sich­ten der Kla­ge – sinn­voll sein, schon jetzt die Kla­ge zurück­zu­neh­men, damit im Fall, dass das Gericht der Rechts­auf­fas­sung des BAMF folgt, zumin­dest die Frist ab Kla­ge­rück­nah­me neu zu lau­fen beginnt. Nach sechs Mona­ten (ab Kla­ge­rück­nah­me) kann dann erneut ein Eil­an­trag nach § 123 VwGO zur Auf­nah­me des Asyl­ver­fah­rens gestellt wer­den. Vor einer Kla­ge­rück­nah­me soll­te jedoch aus­rei­chend recht­lich geprüft wer­den, ob die Kla­ge nicht Aus­sicht auf Erfolg hat.

5. Eil­an­trag abge­lehnt und anhän­gi­ges Kla­ge­ver­fah­ren: Wie unter 4. mit der Abwei­chung, dass kei­ne Anträ­ge nach § 123 VwGO, son­dern Anträ­ge nach § 80 Abs. 7 VwGO zu stel­len sind.

Für die Ent­schei­dung ob eine Kla­ge­rück­nah­me oder eine Rück­nah­me noch anhän­gi­ger Eil­an­trä­ge im Ein­zel­fall sinn­voll ist, soll­te in jedem Fall anwalt­li­cher Rat ein­ge­holt wer­den. Es besteht stets im Fall der Kla­ge­rück­nah­me das Risi­ko, dass Über­stel­lun­gen auch vor Ablauf der sechs-Monats­frist wie­der durch­ge­führt werden!

Im Ergeb­nis anders zu beur­tei­len sind Fäl­le, in denen die Dub­lin-Über­stel­lung der Her­stel­lung der Fami­li­en­ein­heit in einem ande­ren Dub­lin-Mit­glieds­staat dient, also auf den Art. 8–11 (Zustän­dig­keits­kri­te­ri­en bei Min­der­jäh­ri­gen und Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen), Art. 16 (Fami­li­en­zu­sam­men-füh­run­gen bei abhän­gi­gen Erwach­se­nen), Art. 17 Abs. 2 (Ermes­sens­klau­sel) Dub­lin-III-VO beruht. Die Mehr­zahl die­ser fami­li­en­ein­heits­be­zo­ge­nen Zustän­dig­keits­vor­schrif­ten erfor­dern ohne­hin die Zustim­mung der Antrag­stel­len­den (außer Art. 8 bei unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen), so dass auch kein Rechts­be­helf gegen den Dub­lin-Bescheid anhän­gig sein dürf­te, inso­fern die Über­stel­lung ja dem Wunsch der Antrag­stel­len­den entspricht.

In die­sen Fäl­len ist eine Über­stel­lung nach Ablauf der Über­stel­lungs­frist wei­ter­hin mög­lich. Dies gilt unab­hän­gig einer etwa­igen Voll­zugs­aus­set­zung, son­dern aus der Dub­lin-III-Ver­ord­nung selbst, ins­be­son­de­re aus Art. 17 Abs. 2, und dem Grund- und Men­schen­recht auf ein Fami­li­en­zu­sam­men­le­ben nach Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK.

(wj / beb)


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