10.12.2013
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Daniel ist in Deutschland geboren und wurde nach Serbien abgeschoben, jetzt lebt er mit seiner Familie in Vidikovac. Unterhalb der linken Schulter trägt er die Narbe eines Messerstichs – beigebracht von Neonazis in Deutschland. Foto: Allegra Schneider / KOOP

Anwältinnen und Anwälte, Journalisten und Flüchtlingsorganisationen haben sich in Serbien über die Lage dort lebender Roma informiert. Während die Große Koalition plant, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als „sichere Herkunftsstaaten“ einzustufen, um Asylanträge aus diesen Staaten noch pauschaler ablehnen zu können, als dies ohnehin bereits Praxis ist, zeigen die Recherchen vor Ort : Von „Sicherheit“ kann für Roma in Serbien keine Rede sein.

Eine Dele­ga­ti­on meh­re­rer Flücht­lings­rä­te, Roma-Orga­ni­sa­tio­nen, Anwäl­tin­nen und Anwäl­ten hat sich Mit­te des Jah­res in Ser­bi­en über die Lage der Roma infor­miert. In Ihrer Pres­se­er­klä­rung heißt es: 

„Wir haben infor­mel­le Sied­lun­gen gese­hen, deren »Häu­ser« nur aus Sperr­müll und Pap­pe bestan­den. Wir haben städ­ti­sche Roma-Sied­lun­gen gese­hen, die seit Jah­ren nicht ans öffent­li­che Abwas­ser­netz ange­schlos­sen wer­den. Immer wie­der wur­de uns über die Ver­wei­ge­rung der Zuzah­lungs­be­frei­ung von Medi­ka­men­ten für chro­nisch Kran­ke berich­tet – ein sozi­al­recht­li­ches Detail von oft lebens­be­droh­li­cher Bedeu­tung. Wir haben gese­hen wie durch eine auf­wän­di­ge und kos­ten­in­ten­si­ve flä­chen­de­cken­de Ver­sie­ge­lung der öffent­li­chen Abfall­ei­mer in Bel­grad Müll­sam­meln­den ihre Lebens­grund­la­ge ent­zo­gen wird.“

„Wir haben erfah­ren, dass ein Teil einer von uns besuch­ten Sied­lung weni­ge Wochen vor unse­rem Besuch mit Bull­do­zern unter Poli­zei­be­wa­chung geräumt und zer­stört wur­de. Gegen­über den Medi­en wur­de dies von der Stadt­ver­wal­tung als Räu­mung einer ille­ga­len Müll­kip­pe dargestellt.“

„Uns haben Men­schen davon berich­tet, dass sie immer wie­der – weil sie als Roma iden­ti­fi­ziert wur­den – kör­per­li­chen Angrif­fen und Belei­di­gun­gen bei ras­sis­ti­schen Über­grif­fen aus­ge­setzt sind, und dass eine poli­zei­li­che Straf­ver­fol­gung prak­tisch nicht statt­fin­det. Wir haben Men­schen ken­nen­ge­lernt, die uns anfangs eher bei­läu­fig von dem wäh­rend der Nazi-Besat­zung nach Deutsch­land ver­schlepp­ten Groß­va­ter erzähl­ten, der nie eine Ent­schä­di­gung erhielt.“

„Wir haben mit dem Lei­ter der Behör­de gespro­chen, die für die Wie­der­ein­glie­de­rung der Abge­scho­be­nen zustän­dig ist. Wir haben erlebt, wie er uns vor lau­fen­der Kame­ra ver­si­cher­te, in Ser­bi­en müs­se kein Rück­keh­rer in Wäl­dern oder unter Brü­cken schla­fen. Nur weni­ge Stun­den spä­ter wur­de uns beim Besuch der infor­mel­len Sied­lung Vidi­ko­vac am Stadt­rand von Bel­grad bewusst, dass dies in einem sehr zyni­schen Sin­ne sogar stimm­te: Vidi­ko­vac besteht aus »Häu­sern« aus Sperr­müll und Pap­pe und steht nicht im Wald oder unter einer Brü­cke, son­dern am Ran­de eines offe­nen Fel­des. Vie­le Men­schen dort spre­chen flie­ßend deutsch: Sie sind jah­re­lang in Deutsch­land gewe­sen, dort gebo­ren und aufgewachsen.“

Dass Roma in Ser­bi­en und vie­len ande­ren Staa­ten Ost­eu­ro­pas mas­siv ras­sis­tisch dis­kri­mi­niert wer­den, ist alles ande­re als neu. Offi­zi­el­le Berich­te, wie der des Komi­tee zur Besei­ti­gung ras­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung der Ver­ein­ten Natio­nen oder des Men­schen­rechts­kom­mis­sars des Euro­pa­rats, sowie zahl­rei­che Berich­te von NGOs bele­gen die sys­te­ma­ti­sche Aus­gren­zung der Roma, die lebens­be­droh­li­che Armut zur Fol­ge hat.

Doch vor dem Hin­ter­grund der beharr­li­chen Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung der Lan­des- und Bun­des­po­li­tik, die allein dar­an inter­es­siert ist, Roma-Flücht­lin­ge mög­lichst schnell abschie­ben zu kön­nen, sehen sich Anwäl­tin­nen und Anwäl­te, Ver­tre­ter von Flücht­lings­or­ga­ni­sa­tio­nen und Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten immer wie­der gezwun­gen, auf die Lage der Roma in Ser­bi­en, Maze­do­ni­en oder Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na auf­merk­sam zu machen und zu doku­men­tie­ren, dass vie­le Roma gezwun­gen sind, in slum­ar­ti­gen, inof­fi­zi­el­len Sied­lun­gen zu leben, die jeder­zeit geräumt wer­den kön­nen, dass ihnen oft der Zugang zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung, zu Sozi­al­leis­tun­gen, zu Bil­dung und regu­lä­rer Arbeit ver­baut ist, weil sie umfas­sen­der ras­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung unter­wor­fen und ras­sis­ti­schen Angrif­fen aus­ge­setzt sind.

Den bekann­ten Fak­ten zum Trotz plant die Gro­ße Koali­ti­on von CDU/CSU und SPD, Ser­bi­en, Maze­do­ni­en und Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na – Staa­ten, aus denen haupt­säch­lich Roma flie­hen – als „siche­re Her­kunfts­staa­ten“ ein­zu­stu­fen, um Asyl­an­trä­ge aus die­sen Staa­ten noch pau­scha­ler ableh­nen zu kön­nen, als dies ohne­hin bereits Pra­xis ist. „Das ist beschä­mend, und es ist dop­pelt beschä­mend, dass die­se Ein­schrän­kung des Asyl­rechts Nach­kom­men der Ver­folg­ten des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Völ­ker­mords tref­fen soll“, so die Mit­glie­der der Recherchegruppe.

Bericht­erstat­tung über Recherchereise:

Weser-Kurier: „Über­all aus­ge­schlos­sen“
Recher­che­grup­pe hat abge­scho­be­ne Roma-Flücht­lin­ge in Ser­bi­en besucht

taz: „Vor­wärts ins Feindesland“

Aus Ham­burg, Han­no­ver und Kiel wer­den Roma nach Ser­bi­en abge­scho­ben. Wie ergeht es ihnen?

taz: „Ich war erschüt­tert“
Inter­view mit Andrea Vogel, Inter­nis­tin, Kli­ni­kum Bre­men Mitte

taz: „Roma wer­den instru­men­ta­li­siert“
Inter­view mit Ken­an Emi­ni, alle bleiben!

taz: „In Vidi­ko­vac spricht man deutsch“
Am Ran­de Bel­grads woh­nen Roma-Fami­li­en in Slum-Hüt­ten. Vie­le wur­den aus Deutsch­land abgeschoben.

taz: „Aus Ham­burg in die Ber­ge“
Fami­lie M. wur­de aus Ham­burg-Groß Bors­tel abge­scho­ben. Im süd­ser­bi­schen Pirot reicht Ihr Geld kaum für Essen.

Ers­ter Ein­druck der Recher­che­rei­se unter alle-bleiben.info

 „Siche­re Her­kunftstaa­ten“: Deal auf Kos­ten der Roma-Flücht­lin­ge im Kabi­nett beschlos­sen (30.10.14)

 Von wegen „sicher“: CDU/CSU wol­len Mon­te­ne­gro und Alba­ni­en zu „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ erklä­ren (04.06.14)

 Gesetz­ent­wurf zu siche­ren Her­kunfts­staa­ten: „ver­harm­lo­send und irre­füh­rend“ (30.04.14)

 Gericht spricht Roma aus Ser­bi­en Schutz zu  (28.04.14)

 8. April – Inter­na­tio­na­ler Tag der Roma (08.04.14)

 Aus drei mach fünf: Täu­schung im Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren (18.03.14)

 Wie die Bun­des­re­gie­rung Roma von fai­ren Asyl­ver­fah­ren aus­schlie­ßen will (06.03.14)