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Plakat auf der #unteilbar-Demonstration in Berlin. Foto: Bellinda Bartolucci / PRO ASYL

Die Kapitänin der »Sea Watch 3« ist frei. Die Anordnung der italienischen Ermittlungsrichterin ist eine schallende Ohrfeige für Matteo Salvini. Carola Rackete habe einen »Rechtfertigungsgrund«, um sich über das Anlegeverbot in Lampedusa hinwegzusetzen: Sie habe Menschenleben gerettet – und deshalb »aus Pflichtsinn« gehandelt – so die Richterin.

Am 12.06.2019 ret­te­te die »Sea Watch 3« 53 Men­schen aus See­not. Mit den Schutz­su­chen­den an Bord nahm das Schiff Kurs Rich­tung Euro­pa. Für die »Sea Watch 3« begann damit eine 16-tägi­ge War­te­zeit vor der ita­lie­ni­schen Insel Lam­pe­du­sa. Weder Mal­ta noch Ita­li­en waren bereit, die Boots­flücht­lin­ge aufzunehmen.

»Wir sind müde, wir sind alle erschöpft (…) Wir kön­nen das nicht mehr aus­hal­ten, wir sind wie in einem Gefäng­nis, weil wir von allem abge­schnit­ten sind«, sag­te einer der Geret­te­ten am zwölf­ten Tag an Bord der »Sea Watch 3«.

Medizinische Notfälle

Immer wie­der kam es an Bord zu medi­zi­ni­schen Not­fäl­len. 13 Per­so­nen muss­ten eva­ku­iert und in ein Kran­ken­haus gebracht wer­den. Am 26.06.2019 erklär­te die Kapi­tä­nin Caro­la Racke­te schließ­lich den Not­stand. Die Lage hat­te sich so zuge­spitzt, dass sie nicht mehr für die Sicher­heit der Men­schen an Bord garan­tie­ren konn­te. Sie muss­te des­halb ohne die Erlaub­nis der Behör­den in ita­lie­ni­sche Hoheits­ge­wäs­ser fahren.

»Ich habe beschlos­sen in den Hafen von Lam­pe­du­sa ein­zu­fah­ren. Ich weiß was ich ris­kie­re, aber die Geret­te­ten sind erschöpft. Ich brin­ge sie jetzt in Sicher­heit«, begrün­de­te Racke­te ihre Entscheidung.

Nach einem Besuch ita­lie­ni­scher Parlamentarier*innen und Gesprä­chen mit der Küs­ten­wa­che hoff­te die Sea Watch 3 – Crew wei­ter­hin auf eine poli­ti­sche Lösung. In der Nacht zum 29.06.2019 fuhr sie in den Hafen von Lam­pe­du­sa ein. Dort wur­de sie umge­hend ver­haf­tet und unter Haus­ar­rest gestellt. Die Schutz­su­chen­den durf­ten eini­ge Stun­den spä­ter eben­falls an Land und wur­den in den ört­li­chen »Hot­spot« gebracht.

Die Rich­te­rin stell­te fest, dass weder Tune­si­en noch Liby­en als siche­rer Hafen ange­se­hen wer­den können.

Kapitänin kommt frei – Richterin erinnert an die Pflicht zur Rettung von Menschenleben

Der Haus­ar­rest wur­de am 03.07.2019 auf­ge­ho­ben. Die Ermitt­lungs­rich­te­rin folg­te der Argu­men­ta­ti­on von Racke­te. Der Vor­wurf des »Wider­stands gegen ein Kriegs­schiff« wur­de fal­len gelas­sen. Die Rich­te­rin stell­te fest, dass zur Erfül­lung ihrer Pflicht – der Pflicht zur Ret­tung von Men­schen­le­ben – auch der Wider­stand gegen Voll­stre­ckungs­be­am­te gerecht­fer­tigt war. Des­halb wur­de auch die­ser Vor­wurf fal­len gelas­sen. Dar­über hin­aus stell­te sie fest, dass weder Tune­si­en noch Liby­en als siche­rer Hafen ange­se­hen wer­den kön­nen und die Geret­te­ten zu Recht nach Lam­pe­du­sa, den nächs­ten siche­ren Hafen, gebracht wurden.

Hintergrund: Die Pflicht zur Seenotrettung 

Aus dem See­rechts­über­ein­kom­men der Ver­ein­ten Natio­nen ergibt sich die Pflicht zur See­not­ret­tung. In den »MSC Gui­de­lines on the tre­at­ment of per­sons res­cued at sea« ist fest­ge­hal­ten, dass Geret­te­te an einen siche­ren Ort gebracht wer­den müssen. 

In den Richt­li­ni­en ist ein siche­rer Ort defi­niert als ein Ort, an dem die aus See­not Geret­te­ten kei­ne wei­te­ren Gefah­ren zu befürch­ten haben und an dem ihre Grund­be­dürf­nis­se gesi­chert sind.

Auch ist in den Richt­li­ni­en fest­ge­hal­ten, dass Schif­fe nur zeit­wei­se einen siche­ren Ort dar­stel­len und so schnell wie mög­lich von die­ser Ver­ant­wor­ten den Geret­te­ten gegen­über ent­bun­den wer­den müs­sen. Sie müs­sen folg­lich in den nächst­ge­le­ge­nen siche­ren Hafen gebracht werden.

Im Abschnitt der Richt­li­ni­en zur Defi­ni­ti­on eines siche­ren Orts, fin­det sich auch die Rück­sicht­nah­me auf die beson­de­ren Bedürf­nis­se von Asyl­su­chen­den wie­der. An die­ser Stel­le wird ersicht­lich, dass die see­recht­li­che Defi­ni­ti­on eines siche­ren Hafens im Fal­le der Aus­schif­fung von Schutz­su­chen­den zwin­gend mit men­schen- und flücht­lings­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen ver­bun­den sein muss.

Die Aus­schif­fung von Schutz­su­chen­den muss zwin­gend mit men­schen- und flücht­lings­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen ver­bun­den sein.

Salvini schäumt und droht

Die rich­ter­li­che Anord­nung zeigt ein­mal mehr, wer sich im zen­tra­len Mit­tel­meer nicht an gel­ten­des Recht hält: Matteo Sal­vi­ni. Die Wei­ge­rung des ita­lie­ni­schen Innen­mi­nis­ters, Schutz­su­chen­de an Land zu las­sen, ver­letzt völ­ker­recht­li­che Ver­pflich­tun­gen. Die Aus­schif­fung darf nicht an Auf­nah­me­zu­sa­gen ande­rer Staa­ten geknüpft wer­den. Gegen Sal­vi­ni wur­de auf­grund des glei­chen Vor­ge­hens im Fall des ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­chen­schiffs »Diciot­ti« im August 2018 Ermitt­lun­gen wegen Frei­heits­be­rau­bung und Amts­miss­brauch eingeleitet.

Sal­vi­ni ging mit einem Dekret vom 11.06.2019 noch wei­ter und woll­te zivi­le Seenotretter*innen mit einer Geld­stra­fe bele­gen. Doch auch hier ver­füg­te die Rich­te­rin, das Dekret sei nicht anwend­bar. Es kön­ne ledig­lich gegen Schmugg­ler ange­wen­det werden.

Nach Ver­öf­fent­li­chung der rich­ter­li­chen Ent­schei­dung ließ Sal­vi­ni nicht lan­ge mit dem nächs­ten Angriff auf rechts­staat­li­che Struk­tu­ren auf sich war­ten und kün­dig­te eine Reform der ita­lie­ni­schen Jus­tiz an. »Das ist kein Urteil, das Ita­li­en gut tut, es ist kein Urteil, das für Ita­li­en spricht«, wütet er und offen­bart ein­mal mehr sei­ne anti­de­mo­kra­ti­sche Haltung.

Bombardierung eines Flüchtlingshaftlagers in Tripolis 

Über­schat­tet wird die Frei­las­sung Racke­tes von einer wei­te­ren Schre­ckens­nach­richt aus Liby­en. In der Nacht zum 03.07.2019 kamen bei einem Luft­an­griff von Gene­ral Haft­ars Trup­pen auf ein Lager in Tri­po­lis mehr als 40 Flücht­lin­ge ums Leben. Es ist der Angriff mit den bis­lang schlimms­ten Aus­wir­kun­gen für Schutz­su­chen­de in dem Bür­ger­kriegs­land. Aber es ist nicht der ers­te Vor­fall und auch er war abseh­bar. Seit Haft­ar im April 2019 sei­ne Offen­si­ve auf Tri­po­lis star­te­te, war­nen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen davor, dass Schutz­su­chen­de zwi­schen die Fron­ten gera­ten und Opfer des Bür­ger­kriegs werden.

Krokodilstränen aus Brüssel 

Die EU-Außen­be­auf­trag­te Mog­he­ri­ni, die Kom­mis­sa­re Johan­nes Hahn und Dimit­ris Avra­mo­pou­los zei­gen sich in einer gemein­sa­men Erklä­rung betrof­fen. Sie spre­chen davon, dass der scho­ckie­ren­de und tra­gi­sche Angriff auf ein Gefan­ge­nen­la­ger in Tri­po­lis an die mensch­li­chen Kos­ten des Kon­flikts in Liby­en erinnere.

Über die Mit­ver­ant­wor­tung der EU schwei­gen die Repräsentant*innen. Zur Erin­ne­rung: Lager, wie das in Tri­po­lis, sind die Lager in Liby­en, in die Euro­pa die Men­schen, die auf dem Mit­tel­meer geret­tet wer­den, zurück­schi­cken lässt.

Über die Mit­ver­ant­wor­tung der EU schwei­gen die drei Repräsentant*innen. Zur Erin­ne­rung:  Lager, wie das in Tri­po­lis, sind die Lager in Liby­en, in die Euro­pa die Men­schen, die auf dem Mit­tel­meer geret­tet wer­den, zurück­schi­cken lässt. Die EU muss sofort die Zusam­men­ar­beit mit liby­schen Mili­zen ein­stel­len. Es darf kei­ne Unter­stüt­zung für Akteu­re, die Schutz­su­chen­de zurück in liby­sche Fol­ter­la­ger zurück brin­gen, geleis­tet wer­den. Die in Liby­en gestran­de­ten Flücht­lin­ge müs­sen sofort eva­ku­iert wer­den – und zwar nach Europa.

humanitäre Katastrophe im Mittelmeer beenden!

Die EU hat die Pflicht, einen robus­ten, flä­chen­de­cken­den EU-See­not­ret­tungs­dienst auf­zu­bau­en. Aus­we­ge aus dem huma­ni­tä­ren Desas­ter im Mit­tel­meer bie­ten nur lega­le und siche­re Flucht­we­ge nach Euro­pa. Den Boots­flücht­lin­gen muss nach Anlan­dung in einem siche­ren euro­päi­schen Hafen eine men­schen­wür­di­ge Auf­nah­me und Zugang zu einem fai­ren Asyl­ver­fah­ren gewährt werden.

Europäischen Solidarmechanismus etablieren

Eine Koali­ti­on auf­nah­me­be­rei­ter Staa­ten muss sich zusam­men­fin­den und einen Soli­dar­me­cha­nis­mus für die Auf­nah­me von Boots­flücht­lin­gen in der EU eta­blie­ren. Die Auf­nah­me wür­de so auto­ma­tisch gewähr­leis­tet und damit wür­den auch lebens­ge­fähr­den­de ad-hoc-Aktio­nen zur Über­nah­me der Geflüch­te­ten für jedes ein­zel­ne Schiff, das Men­schen in See­not geret­tet hat, verhindert.

Zahl­rei­che Städ­te, Regio­nen und Gemein­den in Deutsch­land und Euro­pa haben bereits ihre Auf­nah­me­be­reit­schaft signa­li­siert. Für sie muss die Mög­lich­keit geschaf­fen wer­den, Boots­flücht­lin­ge im Rah­men eines Relo­ca­ti­on-Pro­gramms aufzunehmen.

Über 400 Orga­ni­sa­tio­nen in Deutsch­land unter­stüt­zen die­se For­de­run­gen. 60 Kom­mu­nen haben ihre Auf­nah­me­be­reit­schaft erklärt.

Breiter Rückhalt ist da

Der Fall von Caro­la Racke­te hat die­sen Rück­halt erneut deut­lich gemacht. Spon­tan wur­den zahl­rei­che Pro­tes­te und Mahn­wa­chen orga­ni­siert und ihre Frei­las­sung gefor­dert. Inner­halb kür­zes­ter Zeit wur­den Spen­den von über einer Mil­li­on Euro gesammelt.

Caro­la Racke­te bezeich­net die Ent­schei­dung der Rich­te­rin als »als gro­ßen Sieg für die Soli­da­ri­tät mit allen Migrant*innen, ein­schließ­lich Flüch­ten­den und Asyl­su­chen­den, und gegen die Kri­mi­na­li­sie­rung von Helfer*innen in vie­len Län­dern Euro­pas«.

Viele Demonstrationen am Wochenende

Ange­sichts der töd­li­chen Fol­gen der EU-Flücht­lings­po­li­tik und der Angrif­fe auf die Zivil­ge­sell­schaft hat die See­brü­cke nun den »Not­stand der Mensch­lich­keit« aus­ge­ru­fen. Am Sams­tag, den 06.07.2019, wer­den in zahl­rei­chen deut­schen Städ­ten die Men­schen auf die Stra­ße gehen und eine huma­ne, men­schen­rechts­ba­sier­te Flücht­lings­po­li­tik von der EU einfordern.

»DIE MENSCHLICHKEIT WIRD ANGEGRIFFEN, ES IST ZEIT ZU HANDELN.«

Auf­ruf der Seebrücke

»DIE MENSCHLICHKEIT WIRD ANGEGRIFFEN, ES IST ZEIT ZU HANDELN. WIR RUFEN DEN NOTSTAND DER MENSCHLICHKEIT AUS! DIESER NOTSTAND WIRD SOLANGE ANDAUERN, BIS SICH EUROPÄISCHE STAATEN AUF EINEN SOLIDARISCHE UND HUMANEN VERTEILUNGSMECHANISMUS ALLER GERETTETEN VERSTÄNDIGT HABEN UND ALLE SEENOTRETTER*INNEN WIEDER FREI SIND.«

PRO ASYL ruft gemein­sam mit den Initia­to­ren zur Teil­nah­me an den Demons­tra­tio­nen auf.

(dm / kk)