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Europaweit: Angriffe auf die Zivilgesellschaft
Sie sind essentiell für die Verwirklichung von Menschenrechten und verteidigen in der EU den Kern der europäischen Idee. Doch die Arbeit zivilgesellschaftlicher Akteur*innen wird in vielen Mitgliedsstaaten zunehmend erschwert. Eine Übersicht.
Die hier aufgeführten Beispiele zeigen dabei unterschiedliche Vorgehensweisen auf. Es werden beispielsweise bürokratische Hürden geschaffen oder den Organisationen ihre Finanzgrundlagen entzogen. Vermehrt wird bestehendes Strafrecht auf zivilgesellschaftliche Aktivitäten angewendet oder es werden neue Gesetze verabschiedet, die Menschenrechtsarbeit kriminalisieren.
ENGLAND: »Stansted 15«
Ende März 2017 verschaffen sich 15 Aktivist*innen Zugang zur Luftseite des Stansted-Flughafens in London und verhindern mit friedlichem Protest den Abflug eines Abschiebecharters. Sie werden unter Anwendung eines Anti-Terror-Gesetzes aus dem Jahr 1990 angeklagt, ihnen droht lebenslange Haft. Das Strafmaß am 10. Dezember 2018 fällt milde aus: Der zuständige Richter stellt fest, dass die Aktivist*innen »nicht mit schwerwiegender Absicht« gehandelt hätten. Keine*r der Verurteilten muss ins Gefängnis. Dennoch schaffte der Prozess gegen die »Stansted 15« eine neue Bedrohungslage für Aktivist*innen, die in England zivilen Ungehorsam üben.
DEUTSCHLAND: Aus Kirchenasyl wird »Beihilfe zum illegalen Aufenthalt« gemacht
Im Januar 2019 werden in Kirchengemeinden im Rhein-Hunsrück-Kreis Büros und Privatwohnungen von evangelischen Pfarrer*innen durchsucht und sensible Unterlagen und Dateien beschlagnahmt. Der Vorwurf: »Beihilfe zum illegalen Aufenthalt«. Im April entschied das Landgericht, dass die Hausdurchsuchungen rechtswidrig waren. Die Pfarrer*innen hatten neun Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Sudan unter den Schutz des Kirchenasyls gestellt, weil die desolate Versorgungslage für Schutzsuchende in Italien eine Dublin-Überstellung dorthin nicht zuließ.
»Die Kriminalisierung von Gewissensentscheidungen ist ein falscher und destruktiver Weg.«
»Wir bitten dringend um eine Rückkehr zu einem konstruktiven und lösungsorientierten Vorgehen. Die Kriminalisierung von Gewissensentscheidungen ist ein falscher und destruktiver Weg«, mahnt die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Asyl in der Kirche an.
UNGARN: »Wie ein Damokles-Schwert über der Zivilgesellschaft«
»Wir befinden uns in Ungarn in einer Situation, in der die Herrschaft des Rechts endet und die Herrschaft der Willkür beginnt«, warnt das Ungarische Helsinki Komitee (HHC) im September 2018. Kurz darauf bestätigt das EU-Parlament mehrheitlich in einer Abstimmung, dass die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn bedroht ist und leitet erstmalig ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags zum Schutz der Grundwerte der EU ein.
Diverse Gesetzesänderungen der Orbàn-Regierung haben die humanitäre Hilfe und die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen in den vergangenen Jahren massiv eingeschränkt. Insbesondere in der Flüchtlingsarbeit tätige Organisationen haben dadurch große Finanzierungsprobleme. Menschenrechtsarbeit droht mit Haft bestraft zu werden. »All diese Gesetzesänderungen sind Angriffe auf den Rechtsstaat. Die Anti-NGO-Gesetze sind nur ein Teil davon.
Allein die Verabschiedung von Gesetzen von solch schlechter Qualität zeigt, wie weit der Abbau des Rechtsstaats bereits fortgeschritten ist. Wann und wie sie angewendet werden, liegt allein bei der Regierung. Das schwebt wie ein Damokles-Schwert über der Zivilgesellschaft,« sagt Anikó Bakonyi vom HHC im Interview mit PRO ASYL.
ITALIEN: Ein Vorbild für solidarische Flüchtlingsaufnahme wird zerstört
Domenico »Mimmo« Lucano ist Bürgermeister der Kleinstadt Riace. Die Stadt gilt als Symbol eines Italiens, das Flüchtlinge willkommen heißt. Statt in Sammellagern bringt der Bürgermeister Schutzsuchende in leerstehenden Häusern unter und trägt damit zur Wiederbelebung der zunehmend verwaisten Stadt bei. Anfang Oktober 2018 wird Lucano unter Hausarrest gestellt und seines Amtes enthoben. Ihm wird vorgeworfen, Eheschließungen zwischen Migrant*innen und Einwohner*innen arrangiert zu haben. Zudem wird er beschuldigt, Aufträge zur lokalen Müllentsorgung ohne Ausschreibung an Kooperativen von Migrant*innen vergeben zu haben.
Das Verfahren läuft noch, der Ausgang ist offen. Die europaweite Solidarität mit Riace und seinem Bürgermeister ist derweil ungebrochen.
GRIECHENLAND: Eine Lebensretterin wird angeklagt
Die Geschwister Sarah und Yusra Mardini aus Syrien wurden 2015 weltweit bekannt: Auf ihrer Flucht nach Griechenland über die Ägäis fiel der Motor ihres Bootes aus. Die beiden Leistungsschwimmerinnen zogen das Boot bis nach Lesvos und retteten 18 Flüchtlingen an Bord damit das Leben. Drei Jahre später kehrt Sarah Mardini nach Lesvos zurück, um ehrenamtlich zu helfen.
Kurz darauf wird sie mit 29 weiteren Helfer*innen festgenommen: Die griechische Justiz wirft ihr »Beihilfe zur illegalen Einreise« und weitere Straftaten vor. Für Mardinis Anwalt sind die Vorwürfe haltlos und das Vorgehen der Behörden »klar ein Versuch, die Hilfe für Flüchtlinge zu kriminalisieren«. Sarah Mardini wurde mittlerweile aus der U‑Haft entlassen, das Verfahren in Griechenland ist noch anhängig (März 2019).
DEUTSCHLAND: DRUCK AUF DIE ZIVILGESELLSCHAFT NIMMT ZU
Laut Entwurf des sogenannten»Geordnete-Rückkehr-Gesetzes« sollen Informationen zum konkreten Ablauf einer Abschiebung als Geheimnisse im strafrechtlichen Sinne eingestuft werden. Das heißt: Wer diese Geheimnisse verrät, macht sich strafbar.
Der Entwurf ist durchzogen von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement wie der Flüchtlingsberatung.
Die Strafvorschrift bezieht sich auf Amtsträger*innen, aber auch andere Personen können sich »wegen Anstiftung oder Beihilfe zur Haupttat« strafbar machen. Das können auch Berater*innen, Mitarbeiter*innen in Flüchtlingsorganisationen, Ehrenamtliche sein. Ausgenommen sind nur Journalist*innen. Der Entwurf ist durchzogen von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement wie der Flüchtlingsberatung.
Das Deutsche Rote Kreuz warnt am 15. April: »Sucht eine Beraterin um Auskunft bei einer Ausländerbehörde zum konkreten Verfahrensstand eines Ratsuchenden, könnte sie damit zu einer Straftat anstiften, wenn der Mitarbeitende in der Ausländerbehörde Informationen zu Terminen bei Botschaften und Amtsärzten mitteilt und die Beraterin diese dem Ratsuchenden zum Zwecke der umfassenden Sachverhaltsaufklärung weitergibt.«
Zur umfassenden Stellungnahme von PRO ASYL geht es hier.
(mz / dm)