31.03.2014
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Ausschnitt aus der interaktiven Karte von <a href="http://themigrantsfiles.com" target="_blank">"The Migrants' Files"</a>

Ein neues, journalistisches Datenbankprojekt will eine zuverlässige Statistik über die Zahl der Todesopfer des europäischen Grenzregimes schaffen. Die aktuelle Zahl übersteigt bisherige Schätzungen um mehrere Tausend. Das Projekt macht sichtbar: Flüchtlinge sterben auch im Einsatzgebiet europäischer Grenzschützer.

Der größ­te rote Punkt auf der Inter­ak­ti­ven Kar­te von „The Migran­t’s Files“ liegt im Mit­tel­meer, auf hal­ber Stre­cke zwi­schen Tune­si­en bzw. Liby­en und Sizi­li­en. Bei Mou­seo­ver erscheint die Infor­ma­ti­on: „3840 migrants died at this loca­ti­on bet­ween 2000 and 2013.” Auch in der Ägä­is, im Ein­satz­ge­biet der euro­päi­schen Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex, sind lau­ter rote Punkte.

Mit der Daten­bank ver­sucht eine Arbeits­grup­pe euro­päi­scher Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten, eine Lücke zu fül­len. Denn wäh­rend die EU unter ande­rem in das hoch tech­ni­sier­te Über­wa­chungs­sys­tem Euro­sur an den euro­päi­schen Land- und See­gren­zen inves­tiert, das Flücht­lings­boo­te etwa durch Droh­nen und Satel­li­ten aus­fin­dig machen soll, erhe­ben weder die Behör­den der euro­päi­schen Mit­glied­staa­ten – auch nicht die deut­sche Bun­des­re­gie­rung – noch Fron­tex Sta­tis­ti­ken über die Todes­fäl­le an Euro­pas Außengrenzen. 

Anony­me Bestattungen

Tote Flücht­lin­ge, die an den Küs­ten ange­spült wer­den, wer­den in der Regel anonym bestat­tet. So bleibt die Dimen­si­on der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch die euro­päi­sche Abschot­tungs­po­li­tik im Dun­keln. Regel­mä­ßi­ge Schät­zun­gen zu Todes­fäl­len gibt etwa das UN-Flücht­lings­hilfs­werk UNHCR ab, das Inter­views mit Über­le­ben­den, Tele­fon­an­ru­fe und E‑Mails von Ange­hö­ri­gen auswertet.

Wei­ter ver­öf­fent­licht der ita­lie­ni­sche Jour­na­list Gabrie­le del Gran­de auf Medi­en­be­rich­ten basie­ren­de Schät­zun­gen auf dem Blog „Fort­ress Euro­pe“. Von ihm stammt auch die Zahl der 19.000 Toten seit 1988. Del Gran­de wie das in Ams­ter­dam ansäs­si­ge Netz­werk UNITED for Inter­cul­tu­ral Action bezie­hen offen­bar im Unter­schied zu UNHCR auch Tote beim Über­que­ren der Saha­ra ein. Alle Schät­zun­gen gehen davon aus, dass die eigent­li­che Zahl der Toten weit­aus höher liegt.

The Migran­t’s Files

Das neue Pro­jekt führt nun die Aus­wer­tun­gen von United for Inter­cul­tu­ral Action, jene Del Gran­des und Pro­jekt­da­ten der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on im Daten­bank­pro­jekt „The Migran­t’s Files“ zusam­men und ana­ly­siert lau­fend die Bericht­erstat­tung über Todes­fäl­le und Ver­miss­ten­mel­dun­gen. Mit­tels einer  durch­ge­hen­den Erhe­bungs­sys­te­ma­tik, Daten­be­rei­ni­gun­gen und Gegen­checks wol­len die Jour­na­lis­ten eine mög­lichst zuver­läs­si­ge Sta­tis­tik über tote Flücht­lin­ge zu schaffen.

Die Neue Zür­cher Zei­tung, die an dem Pro­jekt betei­ligt ist, nennt die Zahl von 23.000 Toten und Ver­miss­ten allein für den Zeit­raum ab 1. Janu­ar 2000. Le mon­de diplo­ma­tique spe­zi­fiert die Zahl auf 23.258 – die Zahl liegt um 70 Pro­zent höher als von Del Gran­de für den glei­chen Zeit­raum ermit­telt und scheint der­zeit die genaus­te zu sein. Die Mehr­zahl der toten Flücht­lin­ge ist ertrun­ken, aber Hun­der­te star­ben an Hun­ger oder Durst, an Käl­te oder Unter­küh­lung, erstick­ten in LKWs oder beim Über­que­ren von Minenfeldern.

Kein Ende der Abschottungspolitik 

Dass das euro­päi­sche Grenz­re­gime nicht auf Flücht­lings­schutz, son­dern auf Abwehr aus­ge­rich­tet ist, bele­gen nicht nur die doku­men­tier­ten Todes­fäl­le oder völ­ker­rechts­wid­ri­ge Push­backs in der Ägä­is, son­dern auch die Aus­sa­ge eines Fron­tex-Mit­ar­bei­ters, der anonym blei­ben woll­te: Dar­auf ange­spro­chen, dass die euro­päi­sche Grenz­agen­tur kei­ne Sta­tis­ti­ken über das Ster­ben an Euro­pas Außen­gren­zen führt, sag­te dieser:„Die Arbeit von Fron­tex ist der Kampf gegen die ille­ga­le Migra­ti­on, nicht die See­not­ret­tung, und die­se Men­schen sind tot, das sind kei­ne Migran­ten mehr“. Außer­dem sei ihm und sei­nen Kol­le­gen unklar, wie Euro­sur, so wie es bis­her ent­wi­ckelt wur­de, Men­schen­le­ben ret­ten sollte.

So zynisch die­se Aus­sa­ge ist, so rich­tig ist die dahin­ter­ste­hen­de Ana­ly­se: Fron­tex ist kei­ne See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­ti­on und auch Euro­sur wur­de nicht zur Ret­tung von Flücht­lin­gen, Migran­tin­nen und Migran­ten ins Leben geru­fen. Mit dem Aus­bau von Abwehr­me­cha­nis­men und einem Mehr an Kon­trol­le wird die Zahl der Toten an Euro­pas Gren­zen wei­ter dra­ma­tisch zunehmen.

Medi­en­be­rich­te: Die Zeit; Süd­deut­sche Zeitung

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