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Neue Schätzung: Mindestens 23.000 tote Flüchtlinge seit dem Jahr 2000
Ein neues, journalistisches Datenbankprojekt will eine zuverlässige Statistik über die Zahl der Todesopfer des europäischen Grenzregimes schaffen. Die aktuelle Zahl übersteigt bisherige Schätzungen um mehrere Tausend. Das Projekt macht sichtbar: Flüchtlinge sterben auch im Einsatzgebiet europäischer Grenzschützer.
Der größte rote Punkt auf der Interaktiven Karte von „The Migrant’s Files“ liegt im Mittelmeer, auf halber Strecke zwischen Tunesien bzw. Libyen und Sizilien. Bei Mouseover erscheint die Information: „3840 migrants died at this location between 2000 and 2013.” Auch in der Ägäis, im Einsatzgebiet der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, sind lauter rote Punkte.
Mit der Datenbank versucht eine Arbeitsgruppe europäischer Journalistinnen und Journalisten, eine Lücke zu füllen. Denn während die EU unter anderem in das hoch technisierte Überwachungssystem Eurosur an den europäischen Land- und Seegrenzen investiert, das Flüchtlingsboote etwa durch Drohnen und Satelliten ausfindig machen soll, erheben weder die Behörden der europäischen Mitgliedstaaten – auch nicht die deutsche Bundesregierung – noch Frontex Statistiken über die Todesfälle an Europas Außengrenzen.
Anonyme Bestattungen
Tote Flüchtlinge, die an den Küsten angespült werden, werden in der Regel anonym bestattet. So bleibt die Dimension der Menschenrechtsverletzungen durch die europäische Abschottungspolitik im Dunkeln. Regelmäßige Schätzungen zu Todesfällen gibt etwa das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ab, das Interviews mit Überlebenden, Telefonanrufe und E‑Mails von Angehörigen auswertet.
Weiter veröffentlicht der italienische Journalist Gabriele del Grande auf Medienberichten basierende Schätzungen auf dem Blog „Fortress Europe“. Von ihm stammt auch die Zahl der 19.000 Toten seit 1988. Del Grande wie das in Amsterdam ansässige Netzwerk UNITED for Intercultural Action beziehen offenbar im Unterschied zu UNHCR auch Tote beim Überqueren der Sahara ein. Alle Schätzungen gehen davon aus, dass die eigentliche Zahl der Toten weitaus höher liegt.
The Migrant’s Files
Das neue Projekt führt nun die Auswertungen von United for Intercultural Action, jene Del Grandes und Projektdaten der Europäischen Kommission im Datenbankprojekt „The Migrant’s Files“ zusammen und analysiert laufend die Berichterstattung über Todesfälle und Vermisstenmeldungen. Mittels einer durchgehenden Erhebungssystematik, Datenbereinigungen und Gegenchecks wollen die Journalisten eine möglichst zuverlässige Statistik über tote Flüchtlinge zu schaffen.
Die Neue Zürcher Zeitung, die an dem Projekt beteiligt ist, nennt die Zahl von 23.000 Toten und Vermissten allein für den Zeitraum ab 1. Januar 2000. Le monde diplomatique spezifiert die Zahl auf 23.258 – die Zahl liegt um 70 Prozent höher als von Del Grande für den gleichen Zeitraum ermittelt und scheint derzeit die genauste zu sein. Die Mehrzahl der toten Flüchtlinge ist ertrunken, aber Hunderte starben an Hunger oder Durst, an Kälte oder Unterkühlung, erstickten in LKWs oder beim Überqueren von Minenfeldern.
Kein Ende der Abschottungspolitik
Dass das europäische Grenzregime nicht auf Flüchtlingsschutz, sondern auf Abwehr ausgerichtet ist, belegen nicht nur die dokumentierten Todesfälle oder völkerrechtswidrige Pushbacks in der Ägäis, sondern auch die Aussage eines Frontex-Mitarbeiters, der anonym bleiben wollte: Darauf angesprochen, dass die europäische Grenzagentur keine Statistiken über das Sterben an Europas Außengrenzen führt, sagte dieser:„Die Arbeit von Frontex ist der Kampf gegen die illegale Migration, nicht die Seenotrettung, und diese Menschen sind tot, das sind keine Migranten mehr“. Außerdem sei ihm und seinen Kollegen unklar, wie Eurosur, so wie es bisher entwickelt wurde, Menschenleben retten sollte.
So zynisch diese Aussage ist, so richtig ist die dahinterstehende Analyse: Frontex ist keine Seenotrettungsorganisation und auch Eurosur wurde nicht zur Rettung von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten ins Leben gerufen. Mit dem Ausbau von Abwehrmechanismen und einem Mehr an Kontrolle wird die Zahl der Toten an Europas Grenzen weiter dramatisch zunehmen.
Medienberichte: Die Zeit; Süddeutsche Zeitung
Das Sterben in der Ägäis geht weiter – mindestens 22 Flüchtlinge starben vor Samos (07.05.14)
Italien unterhöhlt Flüchtlingsschutz (10.04.14)
Geplante Frontex-Verordnung: EU will das Abdrängen von Flüchtlingen zur Norm erklären (20.02.14)
Tod im Schlepptau der Küstenwache (22.01.14)
Nach Lampedusa: EU-Kommission recycelt flüchtlingsfeindliche Vorschläge (05.12.13)
„Left to die“: Verweigerte Seenotrettung kostet mehr als 260 Bootsflüchtlinge das Leben (02.12.13)