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Nach Sachsen jetzt das VG Münster: Infektionsschutz gilt auch für Geflüchtete!
Nach drei sächsischen Verwaltungsgerichten stellt ebenso das VG Münster fest: Infektionsschutz muss auch in Unterkünften für Geflüchtete gelten. Wenn dies nicht sichergestellt ist, dürfen die Personen ausziehen. In einer Pressekonferenz hatten PRO ASYL und die Flüchtlingsräte auf die problematische Situation in Unterkünften aufmerksam gemacht.
Von Beginn der Corona-Krise an hat PRO ASYL gewarnt: In vielen Unterkünften für Schutzsuchende in Deutschland lassen sich weder Abstands- noch Hygieneregeln einhalten. Nachdem Deutschland in den letzten Jahren vermehrt auf immer größere Unterbringungen gesetzt hat, muss spätestens jetzt während einer Pandemie ein Umdenken einsetzen: Die Betroffenen müssen dezentral untergebracht werden.
Zwar wurden in vereinzelten Regionen Personen noch schnell in die Kommunen verteilt, doch insgesamt ist wenig passiert. Noch immer wohnen viele geflüchtete Menschen in Unterkünften mit mehreren hundert Personen, stehen für die Essenausgabe oder die Waschmaschine in langen Schlangen, teilen sich ein Zimmer und nutzen Toiletten und Duschen mit zig Menschen. Wie schnell sich dort ein Virus ausbreiten kann, zeigen die Beispiele Ellwangen, wo die Hälfte der Bewohner*innen infiziert sind, und Bremen. Auf diese unerträgliche Situation haben PRO ASYL, die Landesflüchtlingsräte und die Seebrücken-Bewegung in einer gemeinsamen Pressekonferenz am 11. Mai 2020 aufmerksam gemacht.
Einige Geflüchtete gehen mit Unterstützung der örtlichen Landesflüchtlingsräte und PRO ASYL vor Gericht gegen ihre Unterbringung vor. Und sie gewinnen.
Die Betroffenen können nicht länger auf Politiker*innen warten, ihrer Fürsorgepflicht auch konsequent für Geflüchtete wahrzunehmen. Deswegen gehen einige mit Unterstützung der örtlichen Landesflüchtlingsräte und PRO ASYL vor Gericht gegen ihre Unterbringung vor. Und sie gewinnen.
PRO ASYL und der Sächsische Flüchtlingsrat haben die ersten Verfahren in Sachsen unterstützt. Der Flüchtlingsrat Sachen hat hier Musteranträge mit Tipps zu Eilverfahren zur dezentralen Unterbringung zur Verfügung gestellt.
Einigkeit beim VG Dresden, VG Leipzig, VG Chemnitz, VG Münster
In Sachsen hat die Rechtsprechungslinie angefangen, nun geht es in Nordrhein-Westfalen weiter. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 22. April 2020 war die erste, in der dem Eilantrag des Antragstellers stattgegeben wurde und der Auszug der Person aus der entsprechenden Unterkunft angeordnet wurde. Der Grund: bei einer Einrichtung der Größe von 700 Personen, in der sich Zimmer geteilt werden und auf eine Gemeinschaftsküche und fünf Toiletten 50 Bewohner*innen kommen, da können Infektionsschutzregeln wie die Abstandsregel von 1,50m gar nicht eingehalten werden. Diese seien aber nach der sächsischen Corona-Schutz-Verordnung »wo immer möglich« und »in allen Lebensbereichen« einzuhalten.
Zudem sei der Betrieb von Geschäften eingeschränkt, was aus Sicht des Gerichtes zeigt, dass die Landesregierung eine Ausbreitung des Virus durch die Zusammenkunft von Menschen in Unterkünften aller Art als besonders wahrscheinlich ansehe. Deswegen »würde [es] nicht nur einen Wertungswiderspruch zu diesen Regelungen darstellen, wollte man den Bereich der Asylbewerberunterkünfte von dem Gebot […] herausnehmen [..], es würde vor allem dem Sinn und Zweck der Verordnung selbst zuwiderlaufen, der Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus Sars-CoV‑2«.
Dieser Argumentation folgten die zwei anderen sächsischen Verwaltungsgerichte (VG Dresden im Beschluss vom 29.04.2020 und im Beschluss vom 24.04.2020; VG Chemnitz) und nun auch das VG Münster am 7. Mai 2020. Alle Gerichte stützen sich auch auf den § 49 Abs. 2 Asylgesetz. In dem heißt es:
»Die Verpflichtung [zur Wohnsitznahme in der Aufnahmeeinrichtung, Anm. d. Redaktion] kann aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge sowie aus sonstigen Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, insbesondere zur Gewährleistung der Unterbringung und Verteilung, oder aus anderen zwingenden Gründen beendet werden.«
PRO ASYL unterstützt solche Klagen aufgrund der politischen Bedeutung auch über seinen Rechtshilfefonds.
Gründe der öffentlichen Gesundheitsversorgung liegen insbesondere vor, wenn diese – wie das Corona-Virus – nach dem Infektionsschutz relevant sind. Wie die Gerichte feststellen, sind hier auch die Interessen der Asylsuchenden zu berücksichtigen, die sich vor einer Ansteckung schützen wollen. Die notwendigen wichtigen Gründe wurden von allen Gerichten als vorliegend erachtet, was das behördliche Ermessen so reduziert, dass die Betroffenen einen Anspruch haben, dezentral untergebracht zu werden.
Auf diesen wichtigen Passus im Gesetz hatte PRO ASYL schon zu Beginn der Corona-Pandemie verwiesen. Anstatt, dass die Politik aber proaktiv wird und zum Schutz der öffentlichen und individuellen Gesundheit eine Unterbringung in kleineren Unterkünften veranlasst, müssen Betroffene nun den Klageweg beschreiten. PRO ASYL unterstützt solche Klagen aufgrund der politischen Bedeutung auch über seinen Rechtshilfefonds.
Seit der Fertigstellung dieses Textes sind folgende Entscheidungen dazugekommen:
Keine Informationen, keine Hygiene, keinen Schutz
Den auf der Pressekonferenz geäußerten Vorwurf, dass die Politik nicht genug zum Schutz von Geflüchteten tue, hat die Bundesregierung zurückgewiesen. Ihr »gesamtes Handeln« ziele darauf ab, die Menschen in Deutschland vor einer Corona-Infektion zu schützen. Diese Äußerung muss für viele Betroffene wie der blanke Hohn wirken. Nicht nur die Gerichtsentscheidungen zeigen, dass es bei manchen Gruppen in Deutschland mit dem Infektionsschutz eben nicht so eng gesehen wird. Auch aus vielen Unterkünften werden gravierende Mängel bei der Hygiene berichtet. Gegenüber Bento erzählte ein Asylsuchender aus München im März: »Die Hygieneregeln sind hier ein Witz. Wir hocken hier auf engem Raum zusammen, es gibt keine Seife und kein Desinfektionsmittel in den Bädern, das Toilettenpapier ist knapp.«
»Wir beobachten derzeit eine bewusste Gefährdung der Gesundheit«
Geflüchtete aus der Landesaufnahmeeinrichtung (LAE) in Ellwangen berichten über Panik, Depression und kaum Zugang zu seriösen Informationsquellen, seit die gesamte Einrichtung unter Quarantäne steht. Viel zu spät habe die Verteilung der Geflüchteten auf die Zimmer innerhalb der LAE stattgefunden, das Virus breitete sich rasant unter den 516 Bewohner*innen aus.
Oft werden auch Personen, die bekannten Risikogruppen angehören, nicht angemessen geschützt. Vor dem VG Dresden musste zwei hochschwangere Frau ihren Auszug aus der Erstaufnahmeeinrichtung erst einklagen (Beschluss vom 29.04.2020, Beschluss vom 24.04.2020). Auch im Fall des in Bayern an Covid-19 verstorbenen Asylbewerbers stellt sich die Frage, warum er als Angehöriger einer Risikogruppe (60 Jahre alt mit mehreren Vorerkrankungen) weiterhin in einem Mehrbettzimmer im AnkER-Zentrum Geldersheim untergebracht war. Dass er innerhalb der Aufnahmeeinrichtung in einen gesonderten Trakt verlegt wurde, war offensichtlich als Schutzmaßnahme nicht ausreichend.
»Die Regierungen haben alle Warnungen in den Wind geschlagen, als noch ausreichend Zeit war, Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Coronapandemie in Flüchtlingsunterkünften zu ergreifen.«
Nde Nzongou Barthelemy ist Bewohner der Unterkunft in Hennigsdorf, Brandenburg, die unter Quarantäne steht. Bei der Pressekonferenz berichtete er, wie er die vergangenen Wochen erlebte. Besonders kritisierte er dabei, dass es kaum Informationen zur Quarantäne für ihn als Betroffenen gab – stattdessen Polizei-Präsenz, die die neuen Vorschriften durchsetzen sollte.
In Hennigsdorf dürfen Asylbewerber nur noch mit einem farbigen Bändchen, das ihren Teststatus zeigt, die Unterkunft verlassen, berichtet Nde Nzongou Barthelemy.
Wie die Organisation Women in Exile in einer Presseerklärung bekannt machte, wurde die in Hennigsdorf zunächst bis zum 12. Mai 2020 geltende Quarantäne auf den 21. Mai verlängert. Grund dafür sind neu aufgetretene Infizierungsfälle. Von solchen »Ketten-Quarantänen« wird auch aus anderen Unterkünften berichtet – Beweis dafür, dass Hygiene- und Infektionsschutzkonzepte offenbar nicht aufgehen. Im AnkER-Zentrum Geldersheim dauerte die Quarantäne bis Anfang Mai laut Bayerischem Flüchtlingsrat schon fünf Wochen.
Groß, größer, AnkER – der Wille zur Massenunterbringung in Deutschland
Schon seit längerem lässt sich der Trend in Deutschland erkennen, Asylsuchende und abgelehnte Schutzsuchende möglichst in zentralen und großen Unterkünften unterzubringen. Dieser Ansatz liegt zum Beispiel auch dem umstrittenen AnkER-Konzept zugrunde, welches sich seit 2018 von Bayern aus auch in anderen Bundesländern verbreitet hat (zum Teil nicht mit dem Titel, sondern als funktionsgleiche Einrichtung).
Zwar ist die Unterbringung von Asylsuchenden Ländersache, doch hat die Große Koalition mit dem 2. Hau-ab-Gesetz im letzten Jahr den Bundesländern bei der Unterbringung reinregiert. Mit dem Gesetz wurde die bis dato gesetzlich vorgesehene kurze Wohndauer in den großen Erstaufnahmeeinrichtung (längstens sechs Monate) verlängert auf das gesamte Asylverfahren und, im Falle einer Ablehnung, bis zur Abschiebung oder Rückkehr. Die maximale Aufenthaltsdauer beträgt nun anderthalb Jahre, also eine Verdreifachung zum vorherigen Zeitraum. Es gibt auch Personen, für die es gar keine Ausnahme von der Wohnpflicht in der Erstaufnahmeeinrichtung gibt: Personen aus vermeintlich »sicheren Herkunftsstaaten« und Personen, denen vorgeworfen wird, ihren Mitwirkungspflichten nicht nachzukommen.
Der Effekt: Immer mehr Personen leben immer länger in großen Unterkünften. Ein Konzept, dessen Problematik während der Corona-Pandemie besonders deutlich wird.
PRO ASYL macht schon lange auf das Problem aufmerksam: In Massenunterkünfte gibt es kaum Privatsphäre, was für die Betroffenen sehr belastend ist. Dass sich dies auch gesundheitsgefährdend auswirken kann, zeigt sich jetzt umso mehr. Ein weiteres Problem ist, dass viele solcher großen Einrichtungen abgelegen sind und es so den dort Lebenden erschweren, sich zum Beispiel unabhängig beraten zu lassen, Unterstützung zu holen oder Kontakte zur lokalen Bevölkerung zu knüpfen. Deswegen startete PRO ASYL u.a. 2018 die Kampagne #NichtMeineLager und setzt sich auch weiterhin für eine Abkehr von zentralisierten Unterbringungskonzepten ein.
(wj)