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„Macht die Grenze auf!“ – die Situation in Idomeni spitzt sich zu
Die Situation in Idomeni droht zu eskalieren. 6.000 Menschen harren unter elenden Bedingungen an der griechisch-mazedonischen Grenze aus. Wer nicht aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak kommt, wird am Grenzübertritt gehindert. NGOs und UnterstützerInnen wird seit heute der Zugang zu den Schutzsuchenden verwehrt. MitarbeiterInnen vom PRO ASYL – Projekt RSPA berichten aus Idomeni.
Mittlerweile gibt es den ersten tragischen Todesfall: Ein 22-jähriger Marokkaner wurde durch einen Stromschlag auf den Bahnschienen tödlich verletzt. Seit dem 19. November dürfen in Idomeni nur noch Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak die griechisch-mazedonische Grenze überqueren. Alle anderen werden ohne jegliche Prüfung etwaiger Fluchtgründe als Wirtschaftsflüchtlinge definiert, diskriminiert und an der Weiterreise gehindert. Derzeit befinden sich rund 6.000 Flüchtlinge und MigrantInnen aus verschiedenen Kriegs- und Krisenregionen im Grenzort. In der Hoffnung, endlich auf die andere Seite der Grenze zu kommen, harren sie tagelang in der Kälte in Zelten aus. Die Polizei fordert die Schutzsuchenden auf, den Ort innerhalb von drei Tagen zu verlassen – ansonsten würden sie unter Gewaltandrohung dazu gezwungen.
Mazedonien beginnt mit Bau eines Zaunes
Indessen hat Mazedonien am 28. November parallel zur Bahnlinie mit dem Bau eines vierzig Kilometer langen Stacheldrahtzauns entlang der Grenze zu Griechenland begonnen. Mehrfach täglich versuchen Schutzsuchende mit Protesten die Behörden auf beiden Seiten und die internationale Öffentlichkeit auf ihre ausweglose Situation, die unmenschlichen Lebensbedingungen vor Ort und die ihnen widerfahrene Gewalt aufmerksam zu machen. Bei einem spontanen Versuch, die Grenzpolizei und den Zaun zu umgehen und die Grenze zu überqueren, wurden am Mittwoch viele Flüchtlinge durch Gummigeschosse der mazedonischen Polizei verletzt, wie über soziale Medien berichtet wurde.
In Idomeni fehlt es an Essen und warmer Kleidung
Die Situation in Idomeni spitzt sich täglich weiter zu. Obwohl mehrere internationale Hilfsorganisationen präsent sind, gibt es einen großen Mangel an Essen, Decken und warmer Kleidung. Auch an Informationen fehlt es. Den verzweifelt Wartenden wird lediglich geraten, nach Athen zu fahren und entweder Asyl zu beantragen, oder an dem europäischen Relocation Programm teilzunehmen. Während eines Asylverfahrens – welches aufgrund der mangelnden Infrastruktur in Griechenland unabsehbar lange dauern kann – bekommen Schutzsuchende jedoch weder irgendwelche finanzielle Unterstützung noch Unterkunft.
Geplantes Relocation-Programm funktioniert nicht
Auch das Relocation Programm stellt keine echte Alternative zur Weiterflucht dar: Der innereuropäische Verteilungsmechanismus – der theoretisch dazu dienen soll, zunächst 66.400 Schutzbedürftige aus Griechenland innerhalb der EU zu verteilen – funktioniert nicht. Bisher wurden gerade einmal 30 Personen von Griechenland aus umgesiedelt. Außerdem steht das Programm nur Syrern, Eritreern und Irakern offen. Etliche der Wartenden, beispielsweise Somalier und Iraner bleiben perspektivlos zurück – für sie besteht nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, von der Umsiedlung zu profitieren.
Die meisten Schutzsuchenden warten daher trotz der unerträglichen Situation weiter an der Grenze. Chrissi Wilkens, Mitarbeiterin des PRO ASYL – Projektes RSPA hat in Idomeni sieben der wartenden Flüchtlinge porträtiert:
Samsur, Eritrea
„Ich bin seit mehr als 15 Tagen hier. Mein Ehemann und ich schlafen in einem Zelt zusammen mit anderen Flüchtlingen. Ich bin sehr krank wegen der Kälte hier. Manchmal regnet es, und das Wasser kommt rein. Wir müssen aber hier bleiben. Wir haben keine andere Option.” Die 19-Jährige schaut einer Gruppe von Syrern nach, die gerade Richtung Grenze eilen. “Sie können durchkommen”, sagt sie bitter. “Sie haben Probleme, aber wir haben ähnliche Probleme wie sie. Auf uns hört keiner. Hier kommen die Organisationen und sagen uns, dass wir entweder hier bleiben oder nach Athen zurückkehren. Was sollen wir denn in Athen machen? Dort gibt es keine Hilfe für uns.” Die junge Frau weiß, dass Flüchtlinge aus Eritrea am Relocation-Programm der EU teilnehmen können. Aber sie vertraut den anwesenden Organisationen nicht: “Wir haben in der Türkei auf ein ähnliches Programm drei Jahre lang gewartet. Nichts ist passiert. Kein Land hat uns aufgenommen. Wir haben nur unsere Zeit verloren. Wir werden nicht nochmal denselben Fehler machen.“
Idrizz, Somalia
“Die Somalier hier, aber auch alle anderen Flüchtlinge, wollen nicht illegal die Grenze überqueren, weil die Polizei in Serbien und Mazedonien uns dann nur zurückschicken wird“, sagt der 17-jährige Idrizz. Seit mehr als einem Monat ist er alleine unterwegs, auf der Suche nach Schutz in Deutschland. Er hilft gerade zwei Frauen aus seiner Heimat, ihre Sachen in ein wärmeres Zelt zu transportieren. Bei der Suche nach Decken haben sie kein Glück, da gerade keine der Hilfsorganisationen eine übrig hat. Ein paar Meter weiter steht der 20-jährige Mohamed aus Somalia, und neben ihm Saleh, der behindert ist. Verärgert erzählt Mohamed, wie immer wieder Mitarbeiter des UΝ-Flüchtlingskommissariats den Somaliern empfehlen, nach Athen zu fahren, ohne ihnen zu erklären wie sie dort überleben können. “Sollen wir als Bettler auf die Straße gehen? Oder sollen die Frauen in der Prostitution landen? Wir müssen doch realistisch sein. Der griechische Staat kann uns nichts anbieten! Wir werden hier warten, bis die Grenze geöffnet wird”. Neben Mohamed sitzt ein 50-jähriger Somalier, den RSPA-Mitarbeiterinnen schon vor zwei Wochen im Hotspot Moria auf Lesbos getroffen haben. Damals wartete er tagelang unter freiem Himmel auf seine Registrierung. Mittlerweile ist er schwer erkrankt. Jeden Tag muss er von den Ärzten Ohne Grenzen behandelt werden. “Innerhalb eines Monats habe ich Diabetes bekommen”, sagt er frustriert. Bei einem Gespräch mit den somalischen Flüchtlingen am 3.12. bekräftigten sie, dass sie trotz der sehr gefährlichen Situation weiter in Idomeni bleiben und die Öffnung der Grenze für alle fordern werden.
Yassine, Marokko
“Wir sind keine Terroristen. Wir sind Menschen wir ihr. Ich will nach Europa, um eine Arbeit zu finden. Ich habe meine Familie in Casablanca zurück gelassen. Hier ist meine kleine Tochter“. Der 26-Jährige bricht in Tränen aus, als er auf seinem Handy seine Bilder seiner Tochter zeigt. Er steht zusammen mit anderen Marokkanern und Iranern vor dem frisch errichteten Stacheldrahtzaun an der Grenze. Die Iraner singen leise ein Lied – ein Lied der Solidarität, wie ein Mann neben Yassine erklärt. Danach rufen sie die verzweifelte Parole “Merkel help us! Merkel help us!“. Yassine kann nicht mehr warten. Er ist seit mehr als 20 Tagen hier. “Warum lässt uns Mazedonien nicht durch? Macht doch die Grenze auf! Hier gibt es nichts für uns. Kein Essen, keinen Platz zum Schlafen. Nichts!”. Sein Großvater kämpfte im Zweiten Weltkrieg 1944 zusammen mit den Franzosen gegen das Naziregime. Vom heutigen Europa hat er sich etwas anderes erwartet – gerade was Menschenrechte angeht.
Mohsen, Iran
“Helft uns bitte, helft uns“. Der 38-jährige Iraner sitzt in einem kleinen Zelt und wiederholt während unseres Gesprächs immer wieder diese Worte. Er ist aus dem Iran geflohen, weil er vom Islam zum Christentum konvertierte, sagt er. Wenn er zurück in seine Heimatstadt Shiraz abgeschoben würde, wird er getötet, sagt er. “Unsere Regierung ist eine Diktatur. Wir wollen Freiheit!“ Mohsen befindet sich seit 12 Tagen im Grenzort Idomeni, zusammen mit seiner Frau, seinen zwei kleinen Kindern sowie weiteren Verwandten. Der einjährige Sohn musste wegen Darmproblemen drei Tage ins Krankenhaus. “Es gibt hier nur Kekse, kaltes Wasser und kaltes Essen. Alle Menschen sind nervös. Die Situation ist sehr gefährlich. Ich habe kein Geld, um Schlepper zu bezahlen, damit ich die Grenze an einer anderen Stelle überqueren kann. Meine Familie in Iran glaubt, dass wir in einem Hotel wohnen und es uns gut geht – deshalb zeigt unsere Gesichter bitte nicht auf Fotos. Bitte helft uns, um wenigstens die Kinder zu retten.“
Ismail, Jemen
“Ich wusste nicht, dass die Grenze zu ist und nur bestimmte Nationalitäten durchkommen. Ich bin vor 12 Tagen hierhergekommen. Die Reise über die Ägäis habe ich immer noch nicht verarbeitet – wir sind beinahe ertrunken.“ Der 27-jährige Mann ist vor dem Krieg aus dem Jemen geflohen, sagt er. “Ich habe keine Option. Ich kann nicht zurück in mein Land. Ich werde dann gezwungen, in die Armee zu gehen. Ich habe keinen Pass und kein Geld, um einen Schlepper zu bezahlen. Lasst mich wenigstens hier sterben. Ich kann nicht zurück.” Im selben Zelt wie Ismail befindet sich eine andere Familie aus Jemen. Die Großmutter ist behindert, und die beiden kleinen Kinder der Familie schlafen erschöpft auf dem Boden. “Es gibt kein Zurück für uns. Die Huthis werden uns töten”, sagt der Vater. “Als wir auf der Insel angekommen sind, hat uns die Polizei gesagt: Fahrt nach Idomeni. Als wir angekommen sind, war die Grenze für uns aber schon zu.“
Michael, Nepal
“Warum werden wir für die Terroranschläge in Paris bestraft? Wir sind hier gefangen. Griechenland hat uns dieses Papier für einen 30-tägigen Aufenthalt gegeben, als wir mit dem Schlauchboot angekommen sind. Wenn uns nicht erlaubt wird, die Grenze zu überqueren, warum geben sie uns dieses Papier? Ich bin seit 16 Tagen hier, zusammen mit 45 anderen Menschen aus Nepal. Unser Zelt ist nicht geeignet für die Wetterbedingungen hier“, sagt der 28-jährige Mann. Wenn es regnet, dringt Wasser ein und alles wird nass. Sie müssen vor ihrem Zelt mit Holz aus dem Wald Feuer machen, um etwas Warmes zu kochen. “Es wird zwar Essen verteilt. Aber immer stehen etwa 700 Personen Schlange. Man wartet dann drei Stunden. Wenn wir dran sind, dann ist nichts mehr übrig.“ Michael kommt aus der Stadt Gorkha. Er war Leiter eines Hotels, musste aber nach dem großen Erdbeben im April fliehen. Das Epizentrum des Erdbebens lag in der Nähe seiner Heimatstadt. Mehrmals am Tag protestiert eine Gruppe von Flüchtlingen und geht Richtung Zaun. Michael folgt ihnen mit seinem Rucksack und der vagen Hoffnung, dass sie es schaffen, durchzukommen. “Ich will nach Dänemark. Dort habe ich Freunde, die mir helfen können, mein Leben wieder aufzubauen“, sagt er.
Ali, Pakistan
“Die mazedonische Polizei hat uns gerade nach Griechenland abgeschoben. Wir sind vor 15 Tagen von Idomeni aus gestartet. Wir waren in Kroatien, als Slowenien beschlossen hat, nur bestimmte Nationalitäten durchzulassen. Wir haben einfach kein Glück.” Der 20-jährige Ali wartet zusammen mit anderen Pakistanern vor einem Bus, den das UNHCR für diejenigen reserviert, die sich entschieden haben, zurück nach Athen zu fahren. “Ich werde in Athen Asyl beantragen. Falls es abgelehnt wird, werde ich nach Pakistan abgeschoben. In Athen habe ich keinen Platz zum Schlafen und auch keine Freunde. Wahrscheinlich muss ich auf der Straße übernachten. Aber hier kann ich nicht bleiben. Keiner weiß, wann und ob die Grenzen wieder öffnen”. Im Bus sitzt ein 13-Jähriger aus Pakistan zusammen mit seinem Onkel. Das Ziel der beiden war Deutschland. Der Junge ist stark erkältet und hat Fieber. Er schaut traurig aus dem Fenster. “Sie werden mich nach Pakistan abschieben. Es gibt hier keine Chance für mich in Europa.”
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