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Heute morgen hat die griechische Polizei mit der Räumung des Camps in Idomeni begonnen. Foto: Vasilis Tsartsanis

Seit der Schließung der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland am 19. November campierten Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Idomeni. Heute hat die griechische Polizei mit der Räumung des provisorischen Lagers begonnen. Chrissi Wilkens, Mitarbeiterin des PRO ASYL-Projektes Refugee Support Program Aegean (RSPA), war in den letzten Tagen in Idomeni und Athen und dokumentierte die Situation:

Die ange­kün­dig­te Poli­zei­ope­ra­ti­on zur Räu­mung von mehr als 1.200 Flücht­lin­gen und Migran­tIn­nen, die tage­lang am Grenz­über­gang nach Maze­do­ni­en aus­harr­ten, hat heu­te begon­nen. Laut Medi­en­be­rich­ten haben 400 Poli­zis­ten an der Ope­ra­ti­on teil­ge­nom­men, die um 8 Uhr mor­gens ange­fan­gen hat. Jour­na­lis­tIn­nen und Hel­fern wur­de der Zugang ver­wei­gert. Seit dem 19. Novem­ber durf­ten nur noch Schutz­su­chen­de aus Syri­en, Afgha­ni­stan und Irak die Gren­ze pas­sie­ren. Flücht­lin­gen aus allen ande­ren Her­kunfts­län­dern wur­de die Wei­ter­rei­se ver­wei­gert. Seit­dem harr­ten sie zu Tau­sen­den unter wid­ri­gen Bedin­gun­gen im Grenz­ort Ido­me­ni aus.

Grie­chen­land ist kei­ne Alternative

Nur weni­ge Stun­den vor der Räu­mung sprach RSPA-Mit­ar­bei­te­rin Chris­si Wil­kens in Ido­me­ni mit den Flücht­lin­gen, die ver­zwei­felt am Grenz­über­gang warteten.

“Ich wer­de mit mei­ner Fami­lie hier an der Gren­ze blei­ben und jeden Tag ver­su­chen, wei­ter­zu­rei­sen“, so Pau­lus, ein 38-jäh­ri­ger Marok­ka­ner. „Ich habe sehr gro­ße Pro­ble­me in mei­ner Hei­mat. Ich kann ein­fach nicht zurück. Wir blei­ben hier bis die Welt uns viel­leicht hört und auch wir wei­ter dür­fen“, sag­te er noch ein paar Stun­den vor der Räu­mung.  „Das ist ein Gefäng­nis ohne sicht­ba­re Git­ter und Zäu­ne. Grie­chen­land ist jetzt unser Gefäng­nis.“, sag­te Moham­med, ein min­der­jäh­ri­ger unbe­glei­te­ter Flüchtling.

Die Men­schen, die nun aus Ido­me­ni nach Athen gebracht wer­den, sehen kei­ne Zukunft in Grie­chen­land. In der Haupt­stadt wer­den sie in pro­vi­so­ri­schen Mas­sen­un­ter­künf­ten untergebracht.

Nur pro­vi­so­ri­sche Unter­künf­te in Athen

Flücht­lin­ge, die noch vor der heu­ti­gen Räu­mung nach Athen gereist sind, wur­den in das Tae­kwon­do- Sta­di­on im Athe­ner Stadt­teil Palaio Fali­ro gebracht. Bis­her sind bereits über 750 Per­so­nen dort unter­ge­bracht, wei­te­re Bus­se aus Ido­me­ni wer­den noch erwar­tet. In weni­ger als 10 Tage muss die Hal­le aller­dings schon wie­der geräumt wer­den, weil sie für die Durch­füh­rung einer Sport­ver­an­stal­tung gemie­tet wur­de. Was danach mit den Schutz­su­chen­den aus Ido­me­ni gesche­hen soll, ist noch unklar. Zunächst wer­den sie ver­mut­lich in ande­re Not­un­ter­künf­te in Athen ver­bracht – es ist abseh­bar, dass vie­le ohne Obdach blei­ben wer­den. Dar­über hin­aus gibt es Medi­en­be­rich­te, denen zufol­ge in sie­ben ehe­ma­li­gen Kaser­nen in Thes­sa­lo­ni­ki – 500 Kilo­me­ter von Athen ent­fernt – wei­te­re Unter­brin­gungs­ka­pa­zi­tä­ten geschaf­fen wer­den sollen.

“Die ein­zi­ge Opti­on ist der Weg aus Grie­chen­land raus.“

Die Men­schen in der dunk­len Tae­kwon­do-Hal­le sind ver­zwei­felt. Ein 20-jäh­ri­ger Mann aus Soma­lia, sucht eine Mög­lich­keit, Athen zu ver­las­sen. Dabei nimmt er jede Gefahr in Kauf, denn in Grie­chen­land sieht er kei­ne Mög­lich­keit zu über­le­ben: “Die ein­zi­ge Opti­on ist der Weg aus Grie­chen­land raus. Die Schlep­per ver­lan­gen aber sehr viel Geld, das ich nicht habe. Ich wer­de ver­su­chen, mich in einem LKW zu ver­ste­cken, der nach Ita­li­en fährt.” Bis jetzt hat nie­mand den jun­gen Flücht­ling über die Mög­lich­keit eines Asyl­an­trags infor­miert. Er weiß auch nicht, wie er wäh­rend eines Asyl­ver­fah­rens in Grie­chen­land über­le­ben sollte.

“Hier kann mir und mei­ner Fami­lie nie­mand helfen.“

Ein paar Meter wei­ter steht ein Mann und hält sei­ne Regis­trie­rungs­pa­pie­re von den Behör­den der der Insel Chi­os in den Hän­den. Der Paläs­ti­nen­ser aus Syri­en ist mit sei­ner 7‑köpfigen Fami­lie nach Grie­chen­land gekom­men. Die Poli­zei hat ihn als Paläs­ti­nen­ser regis­triert, wes­halb die Gren­ze in Ido­me­ni für ihn ver­sperrt blieb. Nun ist er nach Athen gekom­men, um mit der Hil­fe von Anwäl­ten, sei­ne Regis­trie­rungs­da­ten zu kor­ri­gie­ren. In Athen will er auf kei­nen Fall blei­ben. “Hier kann mir und mei­ner Fami­lie nie­mand hel­fen. Ich weiß, wie es auf­grund der Wirt­schafts­kri­se hier ist. Wir wol­len nach Deutsch­land. Ich will mei­nen Kin­dern eine bes­se­re Zukunft bie­ten. Ich will ihnen Sicher­heit geben und sie ver­sor­gen können.”

„Ich muss end­lich in ein Land, in dem ich wirk­lich leben kann“

Ami­ne, ein 29-jäh­ri­ger Mann aus Alge­ri­en bricht in Trä­nen aus. „Die Men­schen glau­ben, dass wir alle Ter­ro­ris­ten sind. Wir sind ein­fach Men­schen, die kei­ne Per­spek­ti­ve in ihren Län­dern haben. Vie­len von uns droht bei einer Rück­kehr Gefahr. Wir sind dort nicht sicher. Ich habe doch nicht ohne Grund mei­ne Hei­mat und mein Haus ver­las­sen!” Abdma, ein jun­ger Mann aus Soma­lia, ist ges­tern Abend selbst von der Gren­ze nach Athen zurück­ge­kom­men, bevor die Poli­zei­ope­ra­ti­on star­te­te. In Athen zu blei­ben ist auch für ihn kei­ne Lösung. Er sucht bereits nach alter­na­ti­ven Wegen, Grie­chen­land zu ver­las­sen. „Ich habe schon sie­ben Jah­re in einem Flücht­lings­camp in Kenia gelebt, bevor ich hier­her geflo­hen bin. Ich muss end­lich in ein Land, in dem ich wirk­lich leben kann und sicher bin.“

Grie­chen­land wirbt für frei­wil­li­ge Rückkehr

Der grie­chi­sche Migra­ti­ons­mi­nis­ter Gian­nis Mou­z­a­las beton­te, dass Flücht­lin­ge, die in Athen Asyl bean­tra­gen wol­len, die Mög­lich­keit dazu bekä­men. Zugleich setzt sei­ne Regie­rung  auf frei­wil­li­ge Rück­kehr und Abschie­bun­gen. 300 von den Flücht­lin­gen und Migran­ten, die die Gren­ze nicht pas­sie­ren durf­ten, hät­ten bereits ange­kün­digt, in ihre Hei­mat zurück­keh­ren zu wol­len. „Es wird aber auch Abschie­bun­gen geben”, so Mouzalas.

Im Hof des Tae­kwon­do-Sta­di­ons umringt eine Grup­pe von Flücht­lin­gen auf­ge­regt und erwar­tungs­voll  zwei Frau­en, die gera­de ange­kom­men sind. Es sind Mit­ar­bei­te­ri­nen der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM). Sie stel­len sich vor die Trep­pe und erklä­ren, wel­che Natio­na­li­tä­ten an ihrem frei­wil­li­gen Rück­füh­rungs­pro­gramm teil­neh­men kön­nen. Syrer könn­ten wegen dem andau­ern­den Bür­ger­krieg nicht zurück. Alge­ri­er auch nicht, weil die Regie­rung nicht mit IOM koope­rie­re und Soma­li­er auch nicht, weil es in ihrer Hei­mat zu gefähr­lich sei. Alle ande­ren, die über die nöti­gen Doku­men­te ver­fü­gen, könn­ten inner­halb einer Woche zurück in ihre Her­kunfts­län­der ver­bracht wer­den. Allen, die an dem Pro­gramm teil­neh­men, wird eine finan­zi­el­le Hil­fe von 400 Euro angeboten.

Meh­re­re der zuhö­ren­den jun­gen Marok­ka­ner über­le­gen, den Weg zurück in die Hei­mat zu wäh­len und das Ange­bot zu akzep­tie­ren. Ein jun­ger Mann schüt­telt jedoch den Kopf. ”Ich kann doch nicht zurück nach Marok­ko. Ich bin da weg, weil ich dort nicht leben konn­te. Ich muss einen Weg fin­den, um von hier weg­zu­kom­men. Viel­leicht pas­siert noch ein Wun­der und sie öff­nen die Gren­ze doch wieder…”

Flücht­lin­gen dro­hen Haftlager

Der Bür­ger­meis­ter von Athen, Gior­gos Kami­nis, zeig­te sich bereits besorgt, wie die Flücht­lin­ge aus Ido­me­ni in Athen unter­ge­bracht wer­den sol­len. Er befürch­tet, dass erneut Tau­sen­de Flücht­lin­ge und Migran­tIn­nen obdach­los und mit­tel­los in der grie­chi­schen Haupt­stadt wer­den aus­har­ren müssen.

Men­schen­recht­ler befürch­ten, dass die Haft­po­li­tik der ver­gan­ge­nen Jah­re wie­der ange­wandt wer­den könn­te. „Vie­le wer­den in Grie­chen­land hän­gen blei­ben. Grie­chen­land kann all die­sen Flücht­lin­gen nicht ein­mal eine Grund­ver­sor­gung bie­ten, die ihnen recht­lich zusteht. Gleich­zei­tig ist das Relo­ca­ti­on-Pro­gramm nur für eine begrenz­te Zahl von Men­schen zugäng­lich und nur für weni­ge Grup­pen zugäng­lich“, so der Anwalt der NGO Aiti­ma, Spy­ros Riza­kos. Auch Amnes­ty Inter­na­tio­nal fürch­tet um  die Schutz­su­chen­den, die nach Athen zurück­kom­men. “Wir kön­nen nicht aus­schlie­ßen, dass die­je­ni­gen, die kei­ne Papie­re haben, in den Haft­la­gern enden. Wenn nicht gleich, dann spä­ter”, so Gior­gos Kos­mo­pou­los, Direk­tor der Orga­ni­sa­ti­on in Griechenland.

Trotz des win­ter­li­chen Wet­ters und der unru­hi­gen See ist die Zahl der Neu­an­kom­men­den auf den Ägä­is-Inseln wei­ter­hin hoch. Nach Anga­ben des UNHCR sind in den letz­ten 24 Stun­den mehr als 5.200 Per­so­nen ange­kom­men. Auch das Ster­ben in der Ägä­is nimmt kein Ende. Seit Mitt­woch haben in zwei Schiffs­un­glü­cken mehr als 16 Flücht­lin­ge ihr Leben ver­lo­ren. Vie­le gel­ten wei­ter­hin als vermisst.

Grie­chen­land als Abstell­gleis für unge­woll­te Schutzsuchende

Laut Medi­en­be­rich­ten soll­ten in der nächs­ten Woche Fron­tex-Ver­bän­de  nach Ido­me­ni fah­ren. Immer wie­der war in EU-Krei­sen die man­geln­de Sys­te­ma­tik der grie­chi­schen Behör­den bei der Erfas­sung Neu­an­kom­men­der kri­ti­siert wor­den.  Fron­tex wird wahr­schein­lich noch ein­mal zusätz­lich prü­fen, ob alle Flücht­lin­ge voll­stän­dig regis­triert wur­den. Befürch­tet wur­de schon vor Tagen, eine enor­me Ver­lang­sa­mung der Grenz­über­que­rungs­pro­zes­se. Jetzt steht die Fra­ge im Raum, ob die Gren­ze ganz geschlos­sen wird und was dies für Fol­gen haben wird.

Eini­ge euro­päi­sche Poli­ti­ke­rIn­nen for­der­ten letz­te Woche den Aus­schluss Grie­chen­lands aus der Schen­gen­zo­ne. Grund­la­ge die­ser For­de­rung war das ver­meint­li­che Ver­sa­gen Grie­chen­lands, die Außen­gren­zen Euro­pas zu schüt­zen, alle Undo­ku­men­tier­ten zu regis­trie­ren und „Hot Spots“ auf­zu­bau­en. Grie­chen­land droht nun, auf Druck Euro­pas suk­zes­si­ve zum Abstell­gleis für unge­woll­te Schutz­su­chen­de zu wer­den – die nächs­ten huma­ni­tä­ren Kri­sen und Kata­stro­phen sind vorprogrammiert.

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