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Kooperation mit der Türkei: Wie die EU die Ägäis-Grenze schließen will
Heute empfangen Spitzenvertreter der EU den türkischen Staatspräsident Erdogan in Brüssel. Die EU will die Türkei dazu bringen, Schutzsuchende an der Flucht nach Europa zu hindern und sie in EU-finanzierten Lagern in der Türkei festzuhalten. Die Türkei droht für Flüchtlinge zur Falle zu werden. Und Erdogan dürfte erhebliche Gegenleistungen verlangen.
Heute empfangen EU-Spitzenvertreter den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Brüssel. Ziel des Zusammentreffens ist eine Kooperation mit der Türkei bei der Abriegelung der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland, über die derzeit die meisten Flüchtlinge nach Europa fliehen.
Laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung plant die EU-Kommission, dass türkische und griechische Grenzschutzeinheiten in Kooperation mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Seegrenze abriegeln und alle Flüchtlinge in die Türkei zurückweisen. Dort sollen die Flüchtlinge in sechs von der EU mitfinanzierten Flüchtlingslagern festgehalten werden, die insgesamt für zwei Millionen Menschen ausgelegt werden sollen.
Kein Flüchtlingsschutz in der Türkei
Die Pläne stehen aus Sicht von PRO ASYL in Widerspruch zum internationalen Flüchtlingsrecht. Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention und Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbieten solche Zurückweisungen von Schutzsuchenden. Betroffen wären vor allem syrische, afghanische und irakische Flüchtlinge, die derzeit versuchen, der Not und Perspektivlosigkeit in den Erstaufnahmestaaten wie der Türkei zu entkommen.
Die Türkei beherbergt bereits rund 2 Millionen Flüchtlinge – sie werden dort als „Gäste“ betrachtet, Rechte haben sie daher keine, arbeiten dürfen sie nicht. Die Genfer Konvention hat die Türkei mit einem „regionalen Vorbehalt“ unterzeichnet, der allen Schutzsuchenden aus Syrien, Afghanistan, Irak oder anderen Nicht-Europäischen Staaten den Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Konvention verweigert.
Was verlangt Erdogan als Gegenleistung?
Wie die EU die Türkei motivieren will, sechs Flüchtlingslager für weitere zwei Millionen Flüchtlinge zu schaffen und an der Abriegelung der EU-Außengrenze mitzuwirken, ist bislang nicht klar. Sicher ist, dass die türkische Regierung der EU dafür einen sehr hohen Preis abverlangen wird – und um Flüchtlingen den Weg nach Europa abzuschneiden, dürfte die EU bereit sein, der Türkei weitreichende Zugeständnisse zu machen.
Die Türkei plant, in Nordsyrien eine sogenannte Sicherheitszone zu schaffen, vorgeblich um Flüchtlingslager auf syrischem Boden zu errichten. Die Pläne setzen eine massive militärische Intervention der Türkei in Nordsyrien voraus und lassen eine weitere militärische Eskalation des Konflikts zwischen der türkischen Regierung und Kurden in Nordsyrien und der Türkei befürchten. Es droht, dass sich Erdogan für die brandgefährlichen Pläne Unterstützung oder zumindest stillschweigende Akzeptanz erkauft. Dabei ist klar: Eine weitere Eskalation des Konflikts wird noch mehr Menschen zur Flucht zwingen.
Ist die Türkei ein „sicheres Herkunftsland“?
Vor dem Hintergrund des aufflammenden Konflikts zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Minderheit sowie zahlreichen Berichten über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ist aus menschenrechtlicher Perspektive nicht nachvollziehbar, dass weiterhin die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland diskutiert wird. Die Diskussion zeigt, dass das Konzept der „sicheren Herkunftsländern“ nicht den realen Gegebenheiten in den Herkunftsländern folgt, sondern allein politischem Kalkül.
Gegenleistung der EU: 500.000 Flüchtlinge aufnehmen?
Angeblich will sich die EU verpflichten, 500.000 Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Angesichts der für zwei Millionen Menschen geplanten EU-Flüchtlingslager in der Türkei ist diese Zahl eher gering – und angesichts der Unwilligkeit der meisten EU-Staaten, Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren, zugleich überraschend hoch angesetzt. Zu befürchten ist, dass sich die EU auf die Aufnahme bzw. die Verteilung der Schutzsuchenden nicht einigen kann und sich allein auf eine rigide Grenzabriegelung einigt – und Erdogan eventuell andere Zugeständnisse macht.
Medienberichte:
Zeit: „EU und Türkei wollen Ägäis gemeinsam abriegeln“
NTV: „Kontrolle der Außengrenze – EU-Politiker appellieren an Erdogan“
FAZ: „Erdogan in Brüssel: Die Festung, die keine ist“
Die Welt: „Erdogan muss die Grenzen wieder schließen“
Zeit: „EU-Politiker fordern von Erdoğan besseren Schutz der Grenzen“
EU-Türkei-Flüchtlingsgipfel: Kein Ausverkauf der Menschenrechte (29.11.15)
Endstation Idomeni (25.11.15)
„Sichere“ Herkunftsländer: Im Zweifel gegen den Schutzsuchenden? (15.10.15)
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Ausstieg aus dem Flüchtlingsvölkerrecht? Populismus wider die Verfassung (06.10.15)