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„Sichere“ Herkunftsländer: Im Zweifel gegen den Schutzsuchenden?
Bundesinnenminister de Maizière unterstützte kürzlich den auf EU-Ebene diskutierten Vorschlag, die Türkei als sicheres Herkunftsland einzustufen. Im September 2015 hatte die Europäische Kommission den Vorschlag zur Einführung einer EU-weiten Liste „sicherer Herkunftsländer“ vorgelegt. Die darin aufgeführten Staaten sind keineswegs als sicher zu beurteilen. Das zeigen nicht zuletzt die EU-weiten Anerkennungsquoten von Schutzsuchenden aus diesen Ländern.
„Ohne unterschiedliche Behandlung aufgrund des Herkunftslandes“?
Der Entwurf der Kommission sieht vor, zunächst folgende Länder auf die Liste zu setzen: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Kosovo, Montenegro und Türkei. Der Europäische Flüchtlingsrat ECRE hat den Vorschlag der Kommission in einem Ausführlichen Kommentar deutlich kritisiert. Das Konzept „sicherer Herkunftsstaaten“ laufe der Genfer Flüchtlingskonvention entgegen, wonach die darin festgehaltenen Bestimmungen ohne unterschiedliche Behandlung aufgrund des Herkunftslandes anzuwenden sind (Artikel 3, GFK). Listen „sicherer Herkunftsländer“ „tragen weiter zur Praxis der Stereotypisierung bestimmter Anträge auf Grundlage der Nationalität bei und erhöhen das Risiko, dass solche Anträge keiner eingehenden Prüfung der Furcht einer Person vor individueller Verfolgung oder ernsthaftem Schaden unterzogen werden“, so ECRE.
Von „sicher“ kann nicht die Rede sein
Unter anderem verweist ECRE auf die teilweise hohen und weit auseinanderliegenden Anerkennungsquoten für Asylsuchende aus den entsprechenden Ländern im europäischen Vergleich. 2014 lagen die EU-weiten Anerkennungsquoten der vorgeschlagenen Länder im europäischen Durchschnitt bei 7,8% im Fall von Albanien, bei Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina bei 4,6%, aus Mazedonien bei 0,9%, aus dem Kosovo bei 6,3%, aus Montenegro 3%, aus Serbien 1,8% und aus der Türkei bei 23,1%.
Für das erste und zweite Quartal 2015 liegen die EU-weite Anerkennungsquote (inklusive der Schengen-assoziierten Staaten) für die Türkei bereits bei 28,1% (Q1) bzw. 29,3% (Q2). In manchen Ländern sind die Quoten weitaus höher (in Italien bei 75% bzw. 72,2%, in der Schweiz bei 72,7% bzw. 68,2%).
Auch die EU-Anerkennungsquote für Albanien stieg im ersten Quartal 2015 auf 10,4%. Je nachdem, wo das Schutzgesuch eingereicht wurde, waren die Chancen auf Anerkennung sehr unterschiedlich: In Großbritannien betrug die Anerkennungsquote 17,4%, in Frankreich 12,9% und in Deutschland lediglich 1,6%.
Zu einem späteren Zeitpunkt sollen gegebenenfalls auch noch weitere Länder auf die EU-Liste gesetzt werden, so die Kommission. Prioritär Bangladesch (EU-Anerkennungsquote von 10,3% in 2014), Pakistan (26,8%) und Senegal (34,3%).
EU-weite Liste
Die Art. 36–39 der EU-Asylverfahrensrichtlinie, die gemeinsame Standards für die Asylverfahren der Mitgliedsstaaten festlegt, ermöglichen den Mitgliedstaaten innerhalb eines nationalen Verfahrens Einstufungen von Herkunftsländern als sicher vorzunehmen, jedoch bislang nicht einheitlich durch die EU. Eine Verordnung soll daher die Bestimmungen entsprechend ändern – mit Inkrafttreten wäre sie unmittelbar in den Mitgliedstaaten anzuwenden. Nationale Gerichte könnten die Einstufung bestimmter Staaten als sicher nicht direkt anfechten.
Realitätsfern und gefährlich
Mit dem Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ wird Schutzsuchenden aus den entsprechenden Ländern pauschal unterstellt, keine Schutzgründe nachweisen zu können. Dem Grundprinzip des Asylverfahrens – einer individuellen, sorgfältigen Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz – läuft eine solche Annahme diametral entgegen. Den Schutzsuchenden wird eine kaum zu bewältigende Beweislast aufgebürdet – nach dem Prinzip „im Zweifel gegen den Schutzsuchenden“.
Die Zahlen zeigen deutlich: Europaweit liegen die Chancen auf Anerkennung weit auseinander, außerdem verändern sie sich stetig. Länder werden nach politischer Opportunität und im Dienste einer verstärkten Abschiebepolitik als sicher deklariert. Die Menschenrechtslage in den für die Liste vorgesehenen Balkan-Ländern ist desolat, Minderheiten erleiden systematische Ausgrenzung und Diskriminierung. Und dass überhaupt in Erwägung gezogen wird, die Türkei, in der die politische Verfolgung von Oppositionellen an der Tagesordnung ist, als sicheres Herkunftsland einzustufen, zeigt, wie realitätsfern und gefährlich der Vorstoß ist.
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