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EU-Türkei-Flüchtlingsgipfel: Kein Ausverkauf der Menschenrechte
Seit Anfang Oktober verhandelt die EU mit der türkischen Regierung über Möglichkeiten, Flüchtlinge von der Weiterflucht nach Europa abzuhalten. Pressefreiheit, Menschenrechte, die Rechte der kurdischen Minderheit – all das spielt dabei keine Rolle. Es gibt nur ein Ziel: Die drastische Reduktion der Einreisen von Flüchtlingen und Migranten nach Europa. An den Landgrenzen mit Bulgarien und Griechenland funktioniert das bereits, aber an den Seegrenzen noch nicht. Am heutigen Sonntag soll der zynische Deal nun besiegelt werden.
„We’re on our knees begging the Turks to close their border”, sagt laut Guardian ein Botschafter eines größeren EU- Landes. In einem Aktionsplan, der unter anderem auf eine „Stärkung der Kooperation zur Verhinderung irregulärer Migrationsbewegungen in die EU“ abzielt, wurden Mitte Oktober die wesentlichen Punkte des Abkommens festgehalten. Der Wunsch der Europäischen Union: Die Türkei soll dafür sorgen, dass die Migrationsbewegungen über die Ägäis nach Griechenland abebben. Für ihre Dienste zur Abschottung Europas werden der Regierung Erdogan im Gegenzug bis zu 3 Milliarden Euro an Hilfsgeldern sowie Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger angeboten. Auch die Beitrittsverhandlungen zur EU sollen intensiviert werden.
Kontingentaufnahme und Rückschiebungen aus Griechenland
Der Plan ist offenbar auch, Möglichkeiten zu schaffen, Schutzsuchende wieder zurück in die Türkei zu schicken. So hat sich beispielsweise EU-Kommissionschef Juncker dafür ausgesprochen, die Türkei in die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ aufzunehmen. Nun scheint man zu erwägen, sie auch zu einem sicheren Drittstaat zu erklären: Damit sollen Schutzsuchende, die über die Türkei nach Europa eingereist sind, wieder in die Türkei zurückgeschoben werden können.
Hintergrund davon könnte die geplante „Kontingentlösung“ sein: EU-Staaten sollen dann Flüchtlinge direkt aus den Flüchtlingslagern, u.a. in der Türkei, übernehmen. Ähnliches hatte die EU auch schon mit bei den sogenannten „Hot Spots“ in den Ländern an der EU-Außengrenze vor: Die Realität zeigt jedoch – die Situation in den bislang bestehenden „Hot Spots“ ist katastrophal und von den veranschlagten 160.000 Plätzen, für die Verteilung der Flüchtlinge aus Griechenland und Italien wurden bislang erst 3.216 geschaffen. Durchgeführt wurden gar nur 159 solcher „Relocations“.
Wie die Vorsitzende des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration im Interview mit der Zeit erklärt bedeutet diese Kontingentlösung aber auch: „Wer jenseits des Kontingents aus einem Staat wie der Türkei käme, würde dorthin zurückgeschickt.“ Dies lässt sich mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention aber nur dann vereinbaren, wenn es sich dabei um einen „sicheren Drittstaat“ handelt, Flüchtlinge dort also sicher sind und keine Gefahr der Abschiebung ins Herkunftsland besteht.
Kontingente können kein Ersatz für individuelles Asylrecht sein
Die geplanten Kontingente sind eine sinnvolle Ergänzung des individuellen Asylrechts, sie können es aber nicht ersetzen. Dazu geeignet, tausenden die gefährliche Flucht über das Mittelmeer zu ersparen, wäre die Wiederaufnahme der humanitären Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge mit Angehörigen in Deutschland sowie der europaweite Ausbau des Resettlement-Programms in einer nennenswerten Größenordnung. Darüberhinaus müssen Flüchtlinge in der Türkei besser unterstützt werden. Es ist skandalös, dass Europa über die mangelnde Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Syriens redet, jedoch dabei nicht ausreichend hilft.
Die Türkei – ein „sicherer Drittstaat“?
Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention zwar ratifiziert, behält aber bis heute den sogenannten geographischen Vorbehalt bei. Das bedeutet, dass nur Schutzsuchende aus Europa von der Türkei selbst als Flüchtlinge anerkannt werden können. Alle anderen haben in der Türkei de facto keine Schutzperspektive, keine soziale Unterstützung, kaum Zugang zum Arbeitsmarkt oder zum Gesundheitssystem. Damit kann die Türkei kein „sicherer Drittstaat“ sein, denn diese Einstufung kann nur bei Staaten vorgenommen werden, in denen die GFK uneingeschränkt gilt. Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europa reisen, dürfen nicht dorthin zurückgeschickt werden. Allein aus dieser Tatsache heraus wäre es rechtswidrig, die Türkei zum sicheren Drittstaat zu erklären.
Immer wieder Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge
Bereits jetzt kommt es in der Türkei zu Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge. Schon vor Abschluss der Verhandlungen mit der EU werden immer wieder Schutzsuchende illegal aus der Türkei nach Syrien zurückgebracht. Mit dieser Praxis verstößt die Türkei gegen das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention
Willkürliche Inhaftierungen syrischer Flüchtlinge
Auf Grundlage der „Vorläufigen Schutzverordnung“, die die Aufnahme syrischer Schutzsuchender in der Türkei regelt, ist es möglich Personen, die als „Bedrohung der nationalen Sicherheit, öffentlichen Ordnung und öffentlichen Sicherheit“ vom vorübergehenden Schutz auszuschließen und ohne richterliche Anordnung bis zu ihrer Rückkehr nach Syrien zu inhaftieren. Ein „starker Verdacht“ der Behörden ist für eine solche, unabsehbar lange Haft, ausreichende Voraussetzung.
Tatsächlich werden sehr viele syrische Flüchtlinge auf diese Art willkürlich inhaftiert, vor allem im Lager Osmaniye nahe der syrischen Grenze, das zwar offiziell als Aufnahmelager bezeichnet wird, de facto aber eine Hafteinrichtung ist: Insassen – unter ihnen auch unbegleitete Minderjährige – werden gegen ihren Willen hierher gebracht, können das Lager nicht verlassen und dürfen keinen Besuch erhalten. Auch mit Rechtsanwälten können sie nicht sprechen, da nach offizieller Darstellung keine Anklage gegen sie vorliegt. Die einzige Handlungsoption, welche die Insassen haben, ist es einer „freiwilligen“ Rückkehr nach Syrien zu zustimmen.
Generelle Menschenrechtssituation in der Türkei
In einem offenen Brief meldeten sich gestern auch zwei inhaftierte Journalisten von Cumhuriyet zu Wort und appellierten an die EU und speziell an die Bundeskanzlerin, bei dem heutigen Flüchtlingsgipfel mit der Türkei nicht zu den eklatanten Verletzungen der Presse – und Meinungsfreiheit im Land zu schweigen. Die AKP-Regierung lasse nach Auffassung von Chefredakteur Can Dündar und seinem Kollegen Erdem Gül „jede Achtung und jeden Respekt für die Meinungs- und Pressefreiheit vermissen“.
Erst gestern äußerte der prominente Menschenrechtler und Chef der Anwaltskammer Diyarbakir, Tahir Elci, gestern in einem Pressegespräch: „Wir sagen, der Krieg, die Kämpfe, die Waffen, die Einsätze sollen fern bleiben von hier”. Kurze Zeit später wurde Elci auf offener Straße erschossen. Ein weiterer schmerzhafter Verlust für alle Menschenrechtsaktivisten in der Türkei, ein erneuter Schlag gegen alle Bestrebungen für mehr Rechtsstaatlichkeit in dem krisengeschüttelten Land.
Abschottung um jeden Preis?
Nach monatelangem Anbiedern bei der Türkei in der Flüchtlingsfrage, müssen heute die Staats- und Regierungschefs der EU Farbe bekennen: Sind sie bereit alle demokratischen und menschenrechtlichen Standards über Bord zu werfen? Will die EU jeden Preis für einen schmutzigen Deal mit dem autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zahlen, um Schutzsuchende von EU-Territorium fernzuhalten?
Dies wäre die moralische Bankrotterklärung Europas. Ein Deal mit der Türkei kann zudem dramatische Folgen für die Türkei und die Europäische Union haben. Ein willfähriges Nachgeben gegenüber Erdogan würde als stillschweigende Tolerierung der menschenrechtsverachtenden Politik verstanden, ein EU-Türkei-Abkommen als Rückendeckung für seine politische Linie insgesamt gedeutet. PRO ASYL fordert: Die EU muss gegenüber Erdogan die Menschenrechtssituation in der Türkei thematisieren. Sie darf die Menschenrechte nicht einfach über Bord werfen.
Türkei verletzt Menschenrechte von Flüchtlingen (04.12.15)
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