News
Kommt die komplette Abschottung? EU-Innenminister*innen beraten über Asylrechtsreform
In Zagreb treffen sich die EU-Innenminister*innen, um über die Frage der Verteilung von Flüchtlingen in der EU zu beraten. Doch dahinter verbirgt sich die viel größere Frage nach der Reform des europäischen Asylsystems. Vorschläge aus dem deutschen Innenministerium lassen Schlimmes befürchten: Grenzverfahren und Haftzentren an den Außengrenzen.
Während die Bundeskanzlerin beim Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan mal wieder den menschenrechtswidrigen EU-Türkei Deal retten will, treffen sich die EU-Innenminister*innen in Zagreb. Dort soll über die kontroverse Frage der Verteilung von Flüchtlingen in der EU gesprochen werden. Aufhänger ist zwar die Frage der Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen, doch tatsächlich geht es um die grundlegende Frage nach einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Im März will die Kommission einen »New Pact on Migration and Asylum« und damit ihre Ideen für eine solche Reform vorstellen – die Debatten in Zagreb werden Gradmesser dafür sein, welche Vorschläge ihren Weg in den »New Pact« finden werden.
Haft an der Grenze als »Neuausrichtung«?
Vorne mit dabei bei der Diskussion ist auch das deutsche Bundesinnenministerium (BMI). Dieses hat schon im November 2019 Vorschläge für eine »Neuausrichtung« des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gemacht und stellt diese europaweit vor.
PRO ASYL hat diese Vorschläge analysiert und ist höchst besorgt (hier zur vollständigen Analyse). Der Vorschlag ist ein systematisch angelegter Angriff auf den Zugang zum individuellen Asylrecht in der gesamten EU und auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Es ist absehbar, dass es zu großen Haftzentren mit katastrophalen Zuständen an den Außengrenzen kommt – wie das aussieht, ist bereits aus Lagern wie Moria in Griechenland bekannt.
Kurz zusammen gefasst plant das BMI Folgendes: An den EU-Grenzen werden Grenzverfahren durchgeführt, während derer die Schutzsuchenden inhaftiert sind.
Kurz zusammen gefasst plant das BMI Folgendes: An den EU-Grenzen werden Grenzverfahren durchgeführt, während derer die Schutzsuchenden inhaftiert sind. Nur bei positiver Vorprüfung erfolgt die Einreise zur Durchführung des Asylverfahrens in die EU. Diese Asylsuchenden werden nach einem Schlüssel auf die Mitgliedstaaten verteilt (sogenanntes »fair share«-Modell). Die Asylanträge jener Asylsuchenden, die die Vorprüfung nicht bestehen, werden im Grenzverfahren abschließend entschieden und sollen bei Ablehnung von dort abgeschoben werden.
Pauschale und massenhafte Inhaftierungen
Die Überlegungen zu Grenzverfahren sind, so das BMI, nur mit freiheitsentziehenden Maßnahmen – sprich Inhaftierung – umsetzbar.
Art. 31 GFK schreibt vor, dass Flüchtlinge nicht wegen der illegalen Einreise bestraft werden dürfen. Flucht ist kein Verbrechen! Eine Inhaftierung ist einer der stärksten Eingriffe des Staates in die Rechte eines Menschen. Die Freiheit der Person ist als grundlegendes Menschenrecht nach Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 6 der EU-Grundrechtecharta geschützt. Eine pauschale Inhaftierung aller Asylsuchenden nach der Einreise in die EU ist absolut unverhältnismäßig.
Bislang ist noch nicht einmal eine Einschränkung bezüglich Minderjähriger und anderer besonders schutzbedürftiger Personen vorgesehen. Der UN-Kinderrechtsausschuss sagt klar: Minderjährige dürfen unter keinen Umständen aufgrund einer illegalen Einreise in Haft genommen werden.
Zudem ist absehbar, dass im Falle einer Ablehnung die Personen direkt in Abschiebungshaft genommen werden würden. Das Ergebnis: monatelange Haft an der Grenze.
Vorsortierung an der Grenze
Verpflichtende Vorverfahren an der Grenze verhindern, dass der Antrag von Schutzsuchenden schnell richtig inhaltlich geprüft wird und sie den nötigen Schutz erhalten. Laut dem BMI soll Folgendes an der Grenze geschehen: »Offensichtlich unzulässige oder unbegründete Anträge sollten unmittelbar an der Außengrenze abgelehnt werden. In diesen Fällen darf keine Einreise in die EU erfolgen. […] Insbesondere ist darüber nachzudenken, ob bei Einreisen aus sicheren Drittstaaten sowie bei widersprüchlichen oder falschen Angaben die Einreise verweigert werden sollte.«
Verpflichtende Vorverfahren an der Grenze verhindern, dass der Antrag von Schutzsuchenden schnell richtig inhaltlich geprüft wird und sie den nötigen Schutz erhalten.
Die Prüfung von »sicheren Drittstaaten« oder eine »Prima-facie-Prüfung« der Fluchtgründe sind in der Praxis so umfassend und umfangreich, dass große Lager und lange Haftzeiten unvermeidbar sind. Der Vorschlag des BMI suggeriert, dass eine Feststellung der »offensichtlichen Unbegründetheit« in einer Vorprüfung schnell gehen würde. Doch auch für eine o.u.-Ablehnung muss eine umfassende und sorgfältige Anhörung eines/einer jeden einzelnen Asylsuchenden stattfinden. Je mehr in einem Grenzverfahren geprüft werden soll, desto länger werden die Verfahren dauern und desto voller werden die vorgesehenen Haftzentren.
Griechenland ist ein gutes Beispiel dafür, dass Verfahren oft erheblich länger dauern als geplant: Trotz Unterstützung durch EASO lagen 2018 im Schnitt über sieben Monate zwischen der Registrierung und der erstinstanzlichen Entscheidung – dabei war per Gesetz vorgesehen, dass das beschleunigte Grenzverfahren innerhalb von zwei Wochen durchgeführt werden soll und eine erstinstanzliche Entscheidung nach 2 Tagen vorliegen soll.
»Sichere Drittstaaten«: Auslagerung des Flüchtlingsschutzes
Einmal mehr wird zudem auf das Konzept der »sicheren Drittstaaten« gesetzt. Teil des Grenzverfahrens wäre eine Zulässigkeitsprüfung, in der entschieden wird, ob der Asylantrag überhaupt geprüft und bearbeitet wird. Wenn ein Asylantrag als unzulässig eingestuft wird, z. B. weil die Person angeblich in einem »sicheren Drittstaat« Schutz hätte bekommen können und dahin zurück gebracht werden kann, dann wird der Asylantrag nicht inhaltlich geprüft.
Mit dieser Prüfung lagert die EU den Flüchtlingsschutz an Drittstaaten aus und zieht sich selbst aus der Verantwortung. Dabei befinden sich schon jetzt laut UNHCR 84% der weltweiten Flüchtlinge in Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen.
Eine solche Auslagerung wird bereits mit dem EU-Türkei Deal versucht. Einer der Kernaspekte der Erklärung vom 18. März 2016 sind Zulässigkeitsprüfungen, in Folge derer die Türkei in Griechenland als »sicherer Drittstaat« bewertet wird. Dabei erfüllt die Türkei die Kriterien hierfür nicht: Die Türkei hat die GFK nur mit Einschränkung ratifiziert, theoretisch gegebene Rechte, etwa der Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und zum Arbeitsmarkt bleiben de facto versperrt und die Türkei hält sich nicht an das Refoulement-Verbot, u.a. durch Abschiebungen nach Syrien – wie Amnesty International und Human Rights Watch dokumentiert haben.
Drastische Sanktionen anstatt Flexibilität
Der »fair share« zwischen den Mitgliedstaaten, nachdem die Asylsuchenden zwischen den diesen entsprechend eines Verteilungsschlüssels aufgeteilt werden sollen, wird im Vorschlag des BMI mit drastischen Sanktionen gegenüber den Schutzsuchenden flankiert, sollten sie sich nicht an die Zuteilung halten. Teil dieser Sanktionen ist das Prinzip der »ewigen Zuständigkeit«. Anders als im bisherigen Dublin-System soll es keine zeitliche Begrenzung für die Zuständigkeit des Erstaufnahmestaats geben.
Um die Betroffenen zur Einhaltung der Zuständigkeitsregeln zu zwingen, sollen sie zudem bei Weiterreise keine Sozialleistungen oder Unterkunft bekommen.
Um die Betroffenen zur Einhaltung der Zuständigkeitsregeln zu zwingen, sollen sie zudem bei Weiterreise keine Sozialleistungen oder Unterkunft bekommen. Dies ist nicht mit dem deutschen Grundgesetz oder der EU-Grundrechtecharta zu vereinbaren, welche beide in ihrem jeweiligen Art. 1 festhalten: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie muss geachtet und geschützt werden. Sowohl aus der Rechtsprechung des BVerfGs (»Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«) als auch des EuGHs ist deutlich, dass ein kompletter Sozialleistungsausschluss, aufgrund dessen der Person die Verelendung droht, gegen die Menschenwürde verstößt. Außerdem kann es auch nicht politisch erwünscht sein, dass Menschen in der Illegalität leben, um dem Zwangssystem zu entgehen, und es zu hohen Obdachlosigkeitszahlen kommt.
Wir fordern
Angesichts des wachsenden Rechtspopulismus in der EU, welcher bereits das Handeln mancher Regierungen bestimmt, besteht die Gefahr, dass zum aktuellen Zeitpunkt eine Reform des GEAS zum Abbau menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Standards führen würde. Vor diesem Hintergrund hat PRO ASYL mit zahlreichen anderen Organisationen im Berliner Aktionsplan für eine neue europäische Flüchtlingspolitik vom 25. November 2019 gefordert, dass die Kommission als Hüterin der EU-Verträge, das bedingungslose Recht auf ein individuelles, faires und gründliches Asylverfahren in der EU und die Einhaltung dieser Verpflichtung durch alle staatlichen Ebenen in der EU durchsetzt.
PRO ASYL fordert: Rückkehr zu Recht, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von Völkerrecht an Europas Grenzen
Ebenso muss Art. 78 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) wieder mehr Geltung verschafft werden: Dieser bindet alle Akteure an die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 und andere Menschenrechtsinstrumente. Ein Neuanfang in der europäischen Asylpolitik bedeutet in erster Linie die Rückkehr zu Recht, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von Völkerrecht an Europas Grenzen.
Da es in absehbarer Zeit keine neue Asylzuständigkeitsregelung geben wird, müssen in der Zwischenzeit die humanitären Spielräume der Dublin-III-Verordnung genutzt werden. Das in der Dublin-III-Verordnung verbriefte Recht auf Familienzusammenführung muss uneingeschränkt gewährleistet werden. Darüber hinaus eröffnet die Verordnung die Möglichkeit, einen erweiterten Familienbegriff zu Grunde zu legen. Bestehendes Recht bietet zum Beispiel auch die Möglichkeit, humanitäre Aufnahmen von Bootsflüchtlingen oder von Flüchtlingskindern aus Griechenland etc. zu realisieren.
(wj)