Am 7. Oktober wird bei einem High-level Resettlement Forum der Europäischen Union über die zukünftige Aufnahme aus Afghanistan beraten. Nur verhältnismäßig wenige Ortskräfte und andere gefährdete Personen konnten bislang über die Evakuierungen gerettet werden. PRO ASYL fordert die Bundesregierung auf, sich für großzügige Aufnahmeprogramme der EU-Staaten einzusetzen.
Beim morgen stattfindenden, virtuellen EU-Forum, zu dem EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und der Außenbeauftragte Josep Borrell geladen hatten, werden Außenminister*innen der EU, Innenminister*innen, Europaabgeordnete sowie Vertreter*innen von UNHCR und IOM teilnehmen. Mit Blick auf die Aufnahmen gefährdeter Afghan*innen kritisiert PRO ASYL die harte Haltung von EU-Staaten wie Österreich und fordert die Bundesregierung auf, mit großzügigen Aufnahmezusagen voranzugehen. „Gefährdete Menschen in Afghanistan, bei denen jeden Tag die Taliban vor der Tür stehen könnten, können nicht auf langwierige Koalitionsverhandlungen in Deutschland warten. Es braucht sofort ein Bundesaufnahmeprogramm und Noch-Innenminister Horst Seehofer muss seine Blockadehaltung gegenüber Landesaufnahmeprogrammen aufgeben“, erklärt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL.
Folgende Schritte zur Aufnahme sind nötig:
- Bundesaufnahmeprogramme für besonders gefährdete Verteidiger*innen von Demokratie und Menschenrechten aus Afghanistan müssen realisiert werden.
Dies ist eine Aufgabe für die noch amtierende Bundesregierung, denn es kommt auf jeden einzelnen Tag an. Die Evakuierungsliste des Bundes, für die sich bedrohte Menschenrechtsaktivist*innen binnen weniger Wochen registrieren konnten und die Ende August überraschend geschlossen wurde, muss wieder geöffnet werden. PRO ASYL begrüßt die Ankündigung der Bundesregierung, in den kommenden Monaten zweihundert gefährdete Afghanen pro Woche über Pakistan evakuieren zu wollen, kritisiert aber die viel zu niedrige Zahl. „Die Aufnahme von 200 Menschen pro Woche ist angesichts der katastrophalen und lebensbedrohenden Lage für viele Afghan*innen völlig unzureichend“, sagt Burkhardt. „Wenn 200 Menschen pro Woche ausgeflogen werden, würde allein die Ausreise der bisher vorgesehenen 10.000 Afghan*innen 50 Wochen dauern – also fast ein Jahr. Deren Familienangehörige sind da noch gar nicht miteinbezogen.“ Das Auswärtige Amt nannte Ende August eine Zahl von rund 40.000 Menschen (inklusive Familienangehörige), was PRO ASYL für zu niedrig bemessen hält. Hinzu kommt, dass selbst die Ausreise von 200 Menschen pro Woche derzeit unrealistisch scheint, da Pakistan die Grenze dicht gemacht hat. „Deshalb ist es jetzt wichtig, dass die EU mit Pakistan und anderen Nachbarstaaten Verhandlungen führt mit dem Ziel, dass sie bedrohte Afghan*innen einreisen lassen und ihnen dann Ausreisegenehmigungen erteilen“, erklärt Burkhardt.
- Landesaufnahmeprogramme für Afghan*innen, die einen Bezug zu Deutschland haben, müssen vom Bundesinnenministerium endlich genehmigt werden.
Gefährdete Afghan*innen, die Verwandte in Deutschland haben, sollten von den entsprechenden Bundesländern unbürokratisch aufgenommen werden. Hierzu muss das Innenministerium sein OK geben. „Statt die Aufnahme aller Gefährdeten effektiv zu organisieren, überbieten sich die EU-Staaten darin, die Zahl der Gefährdeten kleinzureden“, kritisiert Burkhardt. Statt diesen Kurs fortzusetzen, müssen die Bundesländer und die Regionen in Europa stärker eingebunden werden.
- Der Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Afghan*innen muss beschleunigt und vereinfacht werden, um die Menschen sicher zu ihren Verwandten zu holen.
„Bisher überhaupt nicht berücksichtigt wurden gefährdete Familien, deren enge Familienangehörige in Deutschland leben und denen der Familiennachzug rechtlich zusteht. Uns sind allein 4000 unbearbeitete Anträge auf Familiennachzug aus Afghanistan bekannt“, sagt Burkhardt. Der Familiennachzug stockt seit Jahren. Die Kapazitäten zur Bearbeitung der Visaanträge müssen gesteigert werden. Angesichts der dramatischen Lage in Afghanistan muss jeder Spielraum genutzt werden. Außerdem dürfen beim Familiennachzug ledige erwachsene Töchter und Söhne, die alleine zurückbleibend oft stark gefährdet wären, nicht außen vor bleiben. Über den § 36 Abs. 2 AufenthG können auch Familienmitglieder außerhalb der Kernfamilie aufgenommen werden. Dies muss aktiv genutzt werden, denn „die Taliban interessieren sich nicht für deutsche Definitionen von Kernfamilie“, so Burkhardt.
- Resettlement aus der gesamten Region muss als langfristige Komponente gestärkt werden. Hierfür braucht es verbindliche Zusagen und eine ambitionierte Haltung.
Zusagen speziell zu Afghanistan dürfen nicht mit vorherigen Zusagen verrechnet werden. Sie müssen eine deutliche Erweiterung des Resettlementprogramms sein. Das ist insbesondere auch für Erstaufnahmeländer ein wichtiges Signal. Im vergangenen Jahr war die Zahl der über Resettlement umgesiedelten Flüchtlinge mit rund 15.000 (weltweit) auf einem Rekordtief. Die stellvertretende UN-Flüchtlingshochkommissarin Gillian Triggs sprach von „einer der niedrigsten Resettlement-Raten seit fast zwei Jahrzehnten“ und sagte: „Dies ist ein Schlag für den Flüchtlingsschutz und für die Fähigkeit, Leben zu retten und die am meisten gefährdeten Menschen zu schützen.“ Günter Burkhardt sagt: „Die Plätze für Resettlement, die EU-Staaten bereit stellen, sind beschämend niedrig.“ 2020 wurden nur 8314 Flüchtlinge in EU-Staaten umgesiedelt.
Hintergrund:
Für die Aufnahmeprogramme spielen die Nachbarländer eine zentrale Rolle. Sie haben nicht nur die meisten geflohenen Afghan*innen aufgenommen, ihnen kommt auch für die Abwicklung der Aufnahmeprogramme große Bedeutung zu. Länder wie Usbekistan, Pakistan und Iran machen jedoch ihre Grenzen dicht und versperren damit den Weg raus aus Afghanistan – auch das ist eine Folge der EU-Abschottung.
PRO ASYL hat hier und hier anhand konkreter Einzelfälle zusammengefasst, welche Menschen bislang durch’s Raster der deutschen Afghanistan-Aufnahmeprogramme fielen. 56 zivilgesellschaftliche Organisationen haben in einem gemeinsamen Aufruf mehr Aufnahmeplätze von Bund und Ländern gefordert.