12.01.2024
Image
Kurd*innen aus der Türkei erhalten seltener Schutz in Deutschland. Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/dpa

Stigmatisiert, kriminalisiert, inhaftiert – Kurd*innen aus der Türkei suchen Schutz in Deutschland: meist vergebens. Denn das Bundesamt geht leider noch immer davon aus, dass die Türkei ein Rechtsstaat ist. Die dramatische Menschenrechtslage wird schöngeredet. Diese deutsche Asylverweigerungspraxis muss dringend geändert werden.

Aras*, Berat*, Can* und Ser­dan* stam­men aus dem Süd­os­ten der Tür­kei. Sie sind Kur­den, muss­ten ihr Hei­mat­land ver­las­sen und sind vor der Ver­fol­gung durch die tür­ki­sche Straf­jus­tiz nach Deutsch­land geflo­hen. Bei allen behaup­ten die tür­ki­schen Behör­den, sie hät­ten sich ter­ro­ris­tisch betä­tigt – sei es Ter­ror­pro­pa­gan­da, die Unter­stüt­zung einer Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on oder die Betei­li­gung an ter­ro­ris­ti­schen Aktivitäten.

Alle bestrei­ten die Vor­wür­fe und muss­ten bereits Dro­hun­gen, Befra­gun­gen, Haft­be­feh­le und Straf­ver­fah­ren durch die tür­ki­sche Straf­jus­tiz über sich erge­hen las­sen. Bei Rück­kehr in die Tür­kei befürch­ten sie die Fort­set­zung der Ver­fol­gung und ihre will­kür­li­che Inhaf­tie­rung. Erschre­ckend ist: Bei kei­nem der Män­ner hat das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) ihre Ver­fol­gung aner­kannt – alle Asyl­an­trä­ge wur­den abgelehnt.

PRO ASYL unterstützt Klagen

Ihre Schick­sa­le, die PRO ASYL hier ver­öf­fent­licht, ste­hen exem­pla­risch für einen besorg­nis­er­re­gen­den Trend. Auf der einen Sei­te steht die Ero­si­on der Men­schen­rech­te in der Tür­kei, unter der alle lei­den, die nicht in das natio­nal­kon­ser­va­tiv-reli­giö­se Staats­pro­jekt von Staats­prä­si­dent Recep Tayyip Erdoğan pas­sen (wol­len), wie vie­le Kurd*innen und ihre Unterstützer*innen. Auf der ande­ren Sei­te steht Deutsch­land, wo vie­le Schutz vor Ver­fol­gung suchen, wo aber trotz der immer stär­ker wer­den­den Ver­fol­gung die Schutz­quo­te sinkt. Immer mehr Geflüch­te­ten aus der Tür­kei wird ein Schutz­sta­tus ver­wei­gert. Häu­fig zu Unrecht.

Des­halb unter­stützt PRO ASYL die Kla­gen von Aras, Berat und Can sowie wei­te­re Kla­gen von kur­di­schen Asyl­su­chen­den mit dem PRO ASYL-Rechtshilfefonds.

Flucht vor dem Regime-Erdogans: Asylantragszahlen auf Höchststand

Im Jahr 2023 wur­den 61.181 Asy­l­erst­an­trä­ge tür­ki­scher Staatsbürger*innen regis­triert, damit haben sich die Antrags­zah­len im Ver­gleich zum Vor­jahr mehr als ver­dop­pelt (2022: 23.938 Asy­l­erst­an­trä­ge). Noch vor Afgha­ni­stan ist die Tür­kei das zweit­stärks­te Her­kunfts­land von Asyl­su­chen­den in Deutsch­land, mehr Anträ­ge wur­den nur von Syrer*innen gestellt. Wie auch in den Vor­jah­ren sind es beson­ders Kurd*innen aus der Tür­kei, die in Deutsch­land Sicher­heit suchen. 84 Pro­zent der Asy­l­erst­an­trä­ge tür­ki­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger im ers­ten Halb­jahr 2023 wur­den von Kurd*innen gestellt.

Erhielt 2019 noch jede zwei­te antrag­stel­len­de Per­son aus der Tür­kei einen Schutz­sta­tus (berei­nig­te Gesamt­schutz­quo­te 2019: 53 Pro­zent), war es 2023 nicht ein­mal mehr jede fünf­te. Die berei­nig­te Schutz­quo­te sinkt kon­ti­nu­ier­lich und liegt aktu­ell bei rund 18 Prozent.

84 %

der Asy­l­erst­an­trä­ge türk. Staa­t­an­ge­hö­ri­ger von Kurd*innen (1.Halbjahr 23)

Kurd*innen aus der Türkei erhalten seltener Schutz

Dabei ist seit Jah­ren auf­fäl­lig: Ange­hö­ri­ge der kur­di­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pe aus der Tür­kei erhal­ten wesent­lich sel­te­ner Schutz als Antrags­stel­len­de der tür­ki­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pe. Bereits 2019 wur­den ledig­lich 18 Pro­zent der Anträ­ge von kur­di­schen Antrags­stel­len­den vom BAMF posi­tiv beschie­den, im ers­ten Halb­jahr 2023 sank die Schutz­quo­te auf nur sie­ben Pro­zent ab. Die Schutz­quo­te der tür­ki­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pe lag mit 70 Pro­zent wei­ter­hin wesent­lich dar­über. Zwar sank auch bei die­ser Grup­pe die Schutz­quo­te im Ver­gleich zu 2019, die damals bei 76 Pro­zent lag. Doch der Rück­gang fällt wesent­lich gerin­ger aus als bei der kur­di­schen Grup­pe, und die Schutz­quo­te liegt wei­ter­hin auf einem deut­lich sta­bi­le­ren Niveau.

Bei Antrags­stel­lung erfasst das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) neben der Staats­an­ge­hö­rig­keit auch die Volks­grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit. Dies ermög­licht die sta­tis­ti­sche Aus­wer­tung von zwei Grup­pen: Per­so­nen, die sich als Türk*innen iden­ti­fi­zie­ren, und Per­so­nen, die sich als Kurd*innen iden­ti­fi­zie­ren. Öffent­lich zugäng­lich sind die bis­lang regel­mä­ßi­gen klei­nen Bun­des­tags-Anfra­gen der nun auf­ge­lös­ten Frak­ti­on die Lin­ke zu dem The­ma (für 2019 und 2020 sie­he BT-Druck­sa­che 19/26758; für 2021 sie­he BT-Druck­sa­che 20/1477; für 2022 und 2023 (1. Halb­jahr) sie­he BT-Druck­sa­che 20/8517). Die Zah­len wer­den außer­dem regel­mä­ßig von PRO ASYL beim BAMF abgefragt.

Die nied­ri­ge Aner­ken­nungs­quo­te von Kurd*innen aus der Tür­kei steht im star­ken Kon­trast zu der staat­li­chen Ver­fol­gung, der vie­le Ange­hö­ri­ge der Min­der­heit auf­grund des ihnen unter­stell­ten oder tat­säch­li­chen poli­ti­schen Enga­ge­ments aus­ge­setzt sind. Erdoğans auto­kra­ti­sche Wen­de fin­det unter dem Deck­man­tel der Ter­ror­be­kämp­fung statt und geht Hand in Hand mit der Auf­lö­sung rechts­staat­li­cher Stan­dards. Vie­le Kurd*innen aus der Tür­kei gera­ten wegen (unter­stell­ter) Ver­bin­dun­gen zu Orga­ni­sa­tio­nen, wie der auch in Deutsch­land ver­bo­te­nen kur­di­schen Arbei­ter­par­tei PKK, in den Fokus der tür­ki­schen Straf­ver­fol­gung (hier gibt es Infor­ma­tio­nen zur Ver­fol­gung von ver­meint­li­chen Gülen-Anhänger*innen und eben­falls pro­ble­ma­ti­schen Prak­ti­ken des BAMFs).

Kritik an türkischer Regierung kann zu Verfolgung führen

Dabei kann jede kri­ti­sche Äuße­rung über die tür­ki­sche Regie­rung und deren Hand­lun­gen zur Ver­fol­gung füh­ren. So wer­den Mei­nungs­äu­ße­run­gen, die in demo­kra­ti­schen Staa­ten üblich sind, von der tür­ki­schen Regie­rung unter Ter­ror­ver­dacht gestellt und verfolgt.

Auch mit Blick auf die andau­ern­den Droh­nen­an­grif­fe der Tür­kei auf das kur­disch gepräg­te Nord­ost­sy­ri­en, aber auch auf den Nord­irak, bei dem gezielt zivi­le Infra­struk­tur zer­stört wird, spre­chen Inter­es­sens­ver­tre­tun­gen in der Gesamt­schau von einer »anti-kur­di­schen Poli­tik«. Ver­stärkt durch die weit­ge­hen­de Zer­stö­rung durch das ver­hee­ren­de Erd­be­ben im Früh­jahr 2023, das beson­ders den kur­disch gepräg­ten Süd­os­ten der Tür­kei traf, hoff­ten vie­le vor den Wah­len im Mai 2023 auf einen Wech­sel an der Spit­ze des Lan­des. Nach der Wie­der­wahl des umstrit­te­nen tür­ki­schen Staats­prä­si­den­ten jedoch bleibt für vie­le, beson­ders Kurd*innen, nur die Flucht.

Türkische Justiz: mangelnde Unabhängigkeit und politische Instrumentalisierung

Die Vor­wür­fe der tür­ki­schen Jus­tiz haben in vie­len Fäl­len kei­nen Gehalt und sind in Deutsch­land straf­recht­lich nicht von Bedeu­tung – den­noch zwei­felt das Bun­des­amt die Asyl­re­le­vanz in der Regel an. Grob sind zwei Mus­ter fest­zu­stel­len: Zum einen wer­den die Schil­de­run­gen kur­di­scher Antrags­stel­len­der regel­mä­ßig als »nicht glaub­wür­dig« abge­tan und über­zo­ge­ne Bele­ge ver­langt, die die Straf­ver­fol­gung bewei­sen sol­len. In wei­te­ren Fall­kon­stel­la­tio­nen wird die Ver­fol­gung durch die tür­ki­sche Jus­tiz zwar aner­kannt, jedoch mit dem Hin­weis des »berech­tig­ten Verfolgungsinteresse[s]« der Tür­kei als legi­ti­me Straf­ver­fol­gung ein­ge­stuft ­– und somit ein Schutz­an­spruch zurück­ge­wie­sen. Manch­mal kommt bei­des zusam­men. Bei­de Argu­men­ta­tio­nen bau­en auf der Annah­me auf, dass die tür­ki­sche Jus­tiz wei­ter­hin rechts­staat­li­che Stan­dards erfüllt. Ins­be­son­de­re in poli­ti­schen Ver­fah­ren ist das jedoch längst wider­legt worden.

»Die Kom­mis­sa­rin ist alar­miert über die Tat­sa­che, dass die tür­ki­sche Jus­tiz, ins­be­son­de­re in Fäl­len mit Ter­ro­ris­mus­be­zug, ein noch nie dage­we­se­nes Maß an Miss­ach­tung selbst der grund­le­gends­ten Rechts­prin­zi­pi­en an den Tag legt«, brach­te es ein Bericht des Men­schen­rechts­kom­mis­sa­ri­ats des Euro­pa­rats bereits im Febru­ar 2020 auf den Punkt. Die­se Fest­stel­lun­gen sind wei­ter­hin aktu­ell. Erst im Sep­tem­ber 2023 ver­ur­teil­te das Euro­päi­sche Par­la­ment unter ande­rem »die man­geln­de Unab­hän­gig­keit der [tür­ki­schen] Jus­tiz und die poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung des Jus­tiz­sys­tems« und ver­wies auf anhal­ten­de Angrif­fe auf die Grund­rech­te etwa von Oppo­si­tio­nel­len und Ange­hö­ri­gen von Min­der­hei­ten durch juris­ti­sche und admi­nis­tra­ti­ve Schikane.

Internationale Berichte über dramatische Missstände 

Den erwähn­ten Bericht ver­fass­te das Men­schen­rechts­kom­mis­sa­ri­at des Euro­pa­rats nach einer Rei­se in die Tür­kei im Jahr 2019. Zu dem Zeit­punkt waren bereits weit­rei­chen­de Umwäl­zun­gen umge­setzt wor­den, die im Rah­men des Aus­nah­me­zu­stands (Juli 2016 bis Juli 2018) nach dem geschei­ter­ten Putsch­ver­such von 2016 ein­ge­lei­tet wor­den waren. So tra­fen Ver­haf­tun­gen und Sus­pen­die­run­gen auch gro­ße Tei­le der Richter*innenschaft sowie Staatsanwält*innen. Ersetzt wur­den sie durch Per­so­nen, die dem Regime Erdoğans gegen­über als »abso­lut loy­al« gel­ten. Das wird auch in der Wei­ge­rung der Tür­kei deut­lich, Urtei­le des Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te – etwa in den Fäl­len Osman Kava­la und Sela­hat­tin Demir­taş – zu befol­gen. »Der Prä­si­dent und ande­re hoch­ran­gi­ge Regie­rungs­mit­glie­der behaup­te­ten fälsch­li­cher­wei­se, dass der­ar­ti­ge Ent­schei­dun­gen für die Tür­kei nicht bin­dend sei­en«, hält Amnes­ty Inter­na­tio­nal fest.

Das Haft­re­gime in der Tür­kei hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ver­schärft. In Deutsch­land feh­len jedoch detail­lier­te Berich­te zur Ein­schät­zung der Situa­ti­on, wes­we­gen auch von einer »Black Box« gespro­chen wird.

Besorg­nis­er­re­gend ist die Zunah­me glaub­haf­ter Berich­te über Fol­ter und ande­re Miss­hand­lun­gen, ins­be­son­de­re in Haft, wobei die­se Berich­te nur die Spit­ze des Eis­bergs abbil­den dürf­ten. Tür­ki­sche Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen war­nen, dass die auch in der Tür­kei ver­bo­te­nen Prak­ti­ken trotz der ein­deu­ti­gen Rechts­la­ge zuge­nom­men haben und eine neue Dimen­si­on erreicht wur­de. Ent­wür­di­gen­de Lei­bes­vi­si­ta­tio­nen wer­den als Rou­ti­ne­prak­tik bezeich­net. Schlä­ge, Todes­dro­hun­gen und Belei­di­gun­gen wer­den als gän­gi­ge Miss­hand­lungs­mus­ter gelis­tet. Orga­ni­sa­tio­nen sind zudem wegen der sys­te­ma­tisch ange­wen­de­ten Iso­la­ti­on von inhaf­tier­ten Per­so­nen alar­miert (ACCORD: Anfra­gen­be­ant­wor­tung zu Gefäng­nis­sen und Haft­be­din­gun­gen in der Tür­kei, in: Asyl­ma­ga­zin 5/2023, S.153 ff.).

Auch der im August 2023 ver­öf­fent­lich­te Bericht der tür­ki­schen Men­schen­rechts­stif­tung TIHV  bestä­tigt eine Zunah­me der ver­zeich­ne­ten Fäl­le. Zusätz­lich wird auf die lebens­be­droh­li­che Situa­ti­on kran­ker Per­so­nen in der Haft hin­ge­wie­sen, bei denen fahr­läs­sig die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ein­ge­schränkt wird.

Türkei: Fragwürdige Beweise führen zur Verurteilung

Etli­che Straf­ver­fah­ren und Ver­ur­tei­lun­gen zeu­gen von Rechts­un­si­cher­heit und Will­kür, die auch im Bericht des Euro­pa­rats her­vor­ge­ho­ben wer­den. Das sich aus den Ver­fah­ren erge­ben­de Gesamt­bild legt nahe, dass in der Tür­kei sys­te­ma­tisch pro­kur­di­sche Par­tei­en geschwächt und oppo­si­tio­nel­le Stim­men unter­drückt wer­den sol­len. Genutzt wird dabei immer wie­der die brei­te Ter­ro­ris­mus­de­fi­ni­ti­on. Zudem zie­hen die tür­ki­schen Behör­den und Gerich­te auch den Tat­be­stand der Prä­si­den­ten­be­lei­di­gung (zwi­schen 2014 und 2020 mehr als 160.000 Ankla­gen) sowie das 2022 ver­ab­schie­de­te »Des­in­for­ma­ti­ons­ge­setz« her­an. Auf letz­te­res dro­hen bei Ver­ur­tei­lung Haft­stra­fen von bis zu drei Jahren.

Der größ­te Teil der kur­di­schen Bevöl­ke­rung lebt im Süd­os­ten der Tür­kei. Beson­ders im Grenz­ge­biet zum Iran, Irak und Syri­en stel­len Kurd*innen die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung dar. Die Demo­kra­ti­sche Par­tei der Völ­ker, HDP, die sich für Min­der­hei­ten­rech­te, ins­be­son­de­re der kur­di­schen Min­der­heit, ein­setzt, erfährt viel Rück­halt in der kur­di­schen Bevöl­ke­rung und in lin­ken, oppo­si­tio­nel­len Krei­sen in der Tür­kei. Bis die Frie­dens­ver­hand­lun­gen zwi­schen der ver­bo­te­nen PKK und dem tür­ki­schen Staat im Jahr 2015 abge­bro­chen wur­den, war die HDP die Ver­hand­lungs­part­ne­rin auf tür­ki­scher Sei­te. Seit den Wahl­er­fol­gen der HDP im sel­ben Jahr gel­ten Vertreter*innen und Sympathisant*innen der tür­ki­schen Oppo­si­ti­ons­par­tei zuneh­mend als aus­ge­mach­tes Feind­bild der tür­ki­schen Regie­rung. Seit­her leis­tet der Vor­wurf von »Ter­ror­ver­bin­dun­gen« sei­tens der tür­ki­schen Regie­rungs­ko­ali­ti­on (rechts­extre­me MHP und Erdoğans AKP) Vor­schub für die Ver­fol­gung der Par­tei und ihrer Mit­glie­der auf allen Ebenen.

Im Juli 2021 wur­de eine Ver­bots­kla­ge gegen die HDP vom Ver­fas­sungs­ge­richt ange­nom­men. Immer wie­der wer­den aktu­el­le und ehe­ma­li­ge Mit­glie­der der HDP inhaf­tiert und ange­klagt. 2016 wur­den die erfolg­rei­chen dama­li­gen Co-Par­tei­chefs der HDP Figen Yük­s­ek­dağ und Sela­hat­tin Demir­taş im Rah­men einer soge­nann­ten Anti-Ter­ror-Ope­ra­ti­on ver­haf­tet und sind seit­her inhaf­tiert. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te ver­lang­te bereits mehr­fach ihre Frei­las­sung. Die Tür­kei hält den­noch an der Inhaf­tie­rung fest. Dem Poli­ti­ker und Men­schen­rechts­an­walt Demir­taş dro­hen 142 Jah­re Haft.

Auch auf kom­mu­na­ler Ebe­ne ist der Druck spür­bar. Vie­le Gemein­den in die­ser Regi­on wer­den von Bürgermeister*innen der HDP reprä­sen­tiert, die in der Regel in Dop­pel­spit­ze das Amt beglei­ten. Die demo­kra­tisch gewähl­ten Vertreter*innen wer­den immer wie­der durch »Treu­hän­der«, die der tür­ki­schen Regie­rungs­ko­ali­ti­on nahe­ste­hen, unter Zwangs­ver­wal­tung gestellt. Laut einem Bericht der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on (2022, S. 14) sind 49 Gemein­den betrof­fen. Zahl­rei­che Bürgermeister*innen sit­zen wei­ter­hin in Haft. Ein 2021 erschie­ne­ner Bericht der HDP (S. 29) hält fest, dass auf die­se Art vier Mil­lio­nen Wähler*innen um ihre gewähl­te Ver­tre­tung gebracht wur­den. Mit den Zwangs­ver­wal­tun­gen kam es zu Ent­las­sun­gen, ins­be­son­de­re weib­li­cher Mit­ar­bei­ten­der, und Angrif­fen auf iden­ti­täts­stif­ten­de Denk­mä­ler – wie etwa kur­di­sche Straßennamen.

Der Abbau rechts­staat­li­cher Stan­dards in Straf­ver­fah­ren wird auch in den frag­wür­di­gen Bewei­sen deut­lich, die zur Ver­ur­tei­lung her­an­ge­zo­gen wer­den. Ein Bei­spiel: Ins­be­son­de­re beim Vor­wurf von Ver­bin­dun­gen zu ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen wer­den Ver­ur­tei­lun­gen auf Grund­la­ge von Aus­sa­gen soge­nann­ter Geheimzeug*innen gefällt. Es han­delt sich dabei um Per­so­nen, die der Ver­tei­di­gung nicht bekannt sind und die in tür­ki­schen Straf­ver­fah­ren außer­dem nicht befragt wer­den kön­nen. Ihre Exis­tenz sowie ihre Aus­sa­gen sind folg­lich nicht über­prüf­bar, zu Ver­ur­tei­lun­gen kommt es trotz­dem (Johan­nes Murmann/Christopher Woh­nig: Das UYAP-Sys­tem – asyl­re­le­van­te Pro­blem­la­gen, in: Asyl­ma­ga­zin 5/2023, S. 139).

BAMF hält an der Mär des türkischen Rechtsstaats fest

Obwohl auch das Aus­wär­ti­ge Amt auf die straf­recht­li­che Ver­fol­gung auf­grund nicht nach­voll­zieh­ba­rer Ter­ro­ris­mus­vor­wür­fe, die brei­te Ter­ro­ris­mus­de­fi­ni­ti­on und die Abhän­gig­keit der Jus­tiz hin­weist, über­nimmt das BAMF die Straf­vor­wür­fe unkri­tisch, wie der Fall von Aras deut­lich macht. In sei­nem BAMF-Bescheid heißt es expli­zit: »Es kann nicht im Ansatz davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass das Ver­fah­ren des Antrag­stel­lers rechts­staat­li­chen Grund­sät­zen nicht ent­spro­chen hat.«

Politisches Engagement wird zu politischer Verfolgung

Aras ist kur­di­scher Akti­vist und Mit­glied der Demo­kra­ti­schen Par­tei der Völ­ker (HDP), die stark unter Druck steht. Seit sei­nem Jugend­al­ter ist er poli­tisch aktiv. Auch in Deutsch­land betä­tigt sich Aras exil­po­li­tisch, nimmt an pro­kur­di­schen Demons­tra­tio­nen und poli­ti­schen Ver­an­stal­tun­gen teil, außer­dem ist er Mit­glied in einem kur­di­schen Ver­ein. Es gibt sogar Zei­tungs­ar­ti­kel über ihn.

Pro­ble­me mit der tür­ki­schen Straf­jus­tiz wegen sei­nes Akti­vis­mus bekam Aras früh. Bereits vor sei­nem 18. Lebens­jahr wur­de er zwei­mal ver­haf­tet und ver­brach­te mehr als ein Jahr in der Tür­kei in Haft. Unrecht­mä­ßig, wie er sagt. Unter ande­rem die Teil­nah­me an einer Demons­tra­ti­on und ein Sprach­kurs­auf­ent­halt zum Kur­disch ler­nen wur­den ihm zur Last gelegt. Aus Angst vor erneu­ter Ver­haf­tung floh Aras 2019 aus der Tür­kei. Zuvor schlug er Ver­su­che des tür­ki­schen Geheim­diens­tes aus, ihn als Spit­zel anzu­wer­ben. Ein wei­te­rer Grund, der sei­ne Sor­ge vor Repres­sio­nen vertiefte.

Verurteilung in Abwesenheit

Die Angst begrün­de­te sich schnell. Wäh­rend er in Deutsch­land Schutz such­te, erfolg­te die Ver­ur­tei­lung in der Tür­kei in sei­ner Abwe­sen­heit. Ihm wer­den Ter­ror­pro­pa­gan­da und meh­re­re straf­recht­li­che Ver­stö­ße, die er im Rah­men von Demons­tra­tio­nen ver­übt haben soll, vor­ge­wor­fen. Aras bestrei­tet die Anschul­di­gun­gen gegen ihn als freie Erfin­dung. Grund­la­ge für die Ver­ur­tei­lung waren unter ande­rem Aus­sa­gen anony­mer Zeug*innen.

Außer­dem liegt ein neu­er Haft­be­fehl vor, der sich auf ein Straf­ver­fah­ren wegen Prä­si­den­ten­be­lei­di­gung bezieht. In den Sozia­len Medi­en hat­te Aras den Staats­prä­si­den­ten Erdoğan zuvor einen Dieb genannt, da er Steu­er­gel­der zum Bau sei­nes Prä­si­den­ten­pa­las­tes ver­un­treut habe.

Er wird im Win­ter 2020 in Abwe­sen­heit zu einer Frei­heits­stra­fe von sechs Jah­ren und zehn Mona­ten ver­ur­teilt. Die Stra­fe ist zur Bewäh­rung aus­ge­schrie­ben. Wäh­rend Aras, ver­tre­ten durch sei­nen Anwalt in der Tür­kei, von Deutsch­land aus in Beru­fung geht, lau­fen acht wei­te­re Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen ihn, haupt­säch­lich wegen Prä­si­den­ten­be­lei­di­gung. Mit einem fai­ren Pro­zess rech­net er in kei­nem der acht Fäl­le. Viel­mehr geht er davon aus, dass er erneut ver­ur­teilt und damit die bereits ver­häng­te Bewäh­rungs­stra­fe wider­ru­fen wird. Bei einer Rück­kehr in die Tür­kei wür­de ihm damit eine mehr­jäh­ri­ge Gefäng­nis­stra­fe dro­hen. Bei einer Inhaf­tie­rung ist mit men­schen­un­wür­di­ger Behand­lung und damit einem Ver­stoß gegen Arti­kel 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on zu rechnen.

Der erste Asylantrag scheitert an fehlenden Beweisen

Der Asyl­an­trag von Aras in Deutsch­land wird abge­lehnt. Er hat kei­ne Bewei­se, die er dem Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) über die poli­ti­sche Straf­ver­fol­gung in der Tür­kei vor­le­gen kann. In der Begrün­dung ist zu lesen: »(…)[B]ei dem vor­ge­tra­ge­nen Ver­fol­gungs­schick­sal [han­delt es sich] um zum Teil in der Bedro­hungs­la­ge erheb­lich gestei­ger­te, zum Teil rein fik­ti­ve Nar­ra­ti­ve des Antrag­stel­lers, die nicht voll­stän­dig auf selbst erleb­ten Tat­sa­chen beruht.«

Außer­dem, so der Ent­schei­der, kön­ne es zwar sein, dass Aras in der Ver­gan­gen­heit inhaf­tiert war und eine Straf­ver­fol­gung erfolg­te, sei­ne Ver­fol­gung sei aber nicht mehr aktu­ell. Hin­wei­se auf eine dis­kri­mi­nie­ren­de oder unver­hält­nis­mä­ßi­ge Straf­ver­fol­gung gebe es nicht. Auch bezüg­lich der vor­ge­wor­fe­nen Prä­si­den­ten­be­lei­di­gung wie­gelt das BAMF ab. So ver­weist es auf den in der »tür­ki­schen Tra­di­ti­on« ver­an­ker­ten ver­schärf­ten Ehren­schutz für das Amt des Staats­ober­haup­tes und sieht in der Ver­fah­rens­er­le­di­gung kei­ne unver­hält­nis­mä­ßi­gen oder dis­kri­mi­nie­ren­den Bestra­fun­gen durch die tür­ki­sche Jus­tiz, obwohl es in etwa einem Drit­tel der Ankla­gen tat­säch­lich zu Haft­stra­fen kommt. Statt­des­sen heißt es in dem Bescheid ver­klau­su­liert: »Selbst bei einer hypo­the­ti­schen Wahr­un­ter­stel­lung des Sach­vor­trags und der kon­tra­fak­ti­schen Vor­la­ge eines als authen­tisch geprüf­ten schrift­li­chen Fest­nah­me­be­fehls gegen sei­ne Per­son, kann allein der Tat­be­stand einer Straf­ver­fol­gung wegen Belei­di­gung des tür­ki­schen Staats­prä­si­den­ten nicht grund­sätz­lich als staat­li­che Ver­fol­gungs­hand­lung gemäß §3a AsylG gewer­tet werden.«

Ablehnung trotz der Dokumente aus der Türkei

Zusam­men mit sei­nem Rechts­an­walt gelingt es Aras, zahl­rei­che Nach­wei­se über die erfolg­ten Ver­haf­tun­gen, die Ver­ur­tei­lung, anhän­gi­ge Straf­ver­fah­ren sowie lau­fen­de Ermitt­lungs­ver­fah­ren aus der Tür­kei zu beschaf­fen. Außer­dem bestä­tigt sein tür­ki­scher Anwalt die­se in einem Schrei­ben. Er kann die Inhaf­tie­rung, Straf­ver­fol­gung und Ermitt­lun­gen nun end­lich mit Doku­men­ten bele­gen. Außer­dem reicht er Nach­wei­se über sein her­vor­ge­ho­be­nes exil­po­li­ti­sches Enga­ge­ment ein. Auf die­ser Grund­la­ge stellt Aras kurz nach der ers­ten Ableh­nung einen Folgeantrag.

Das Pro­blem: Das Fol­ge­ver­fah­ren wird vom sel­ben Sach­be­ar­bei­ter des BAMFs durch­ge­führt wie das Erst­ver­fah­ren. Aras Befürch­tung, dass dadurch kein unab­hän­gi­ges Ver­fah­ren gewähr­leis­tet ist, bewahr­hei­ten sich lei­der. Trotz der hohen Beweis­last wird auch der Fol­ge­an­trag abge­lehnt. Aras reicht Kla­ge ein, das Ver­fah­ren ist nun beim zustän­di­gen Ver­wal­tungs­ge­richt anhängig.

Das BAMF verkennt politisch motivierte Strafverfahren 

Es ist nicht nach­voll­zieh­bar, wie­so der Asyl­an­trag abge­lehnt wur­de, denn für die anhal­ten­de straf­recht­li­che Ver­fol­gung in der Tür­kei mit Bezug zu HDP-nahen Aktio­nen bestehen eben­so zahl­rei­che Bele­ge wie für die expo­nier­te, exil­po­li­ti­sche Betä­ti­gung von Aras. Dass das exil­po­li­ti­sche Enga­ge­ment die Gefahr erhöht, in der Tür­kei ver­folgt zu wer­den, wird vom BAMF schlicht­weg igno­riert: »Auch aus den nach­ge­wie­se­nen exil­po­li­ti­schen Akti­vi­tä­ten resul­tiert kei­ne beacht­li­che Gefahr flücht­lings­schutz­re­le­van­ter Ver­fol­gung bei Rück­kehr ins Heimatland.«

Im Fol­ge­ver­fah­ren erklärt Aras, dass die Anschul­di­gun­gen, die zu sei­ner Ver­ur­tei­lung führ­ten, erfun­den sind. Dazu das BAMF: »Zwar bestrei­tet der Antrag­stel­ler, die ihm im Urteil (…) zur Last geleg­ten Taten began­gen zu haben, doch es ist grund­sätz­lich nicht Auf­ga­be des Bun­des­am­tes, Urtei­le auf ihre Recht­mä­ßig­keit zu über­prü­fen. In der Regel ist die Annah­me gerecht­fer­tigt, dass Aus­füh­run­gen wie sie sich aus einem Urteil erge­ben, auch zutref­fen. Aus­nah­men vom obi­gen Grund­satz sind bei dem Vor­lie­gen beson­de­rer Anhalts­punk­te, z.B. bei einem Urteil eines offen­sicht­li­chen Will­kür­staa­tes, jedoch mög­lich.« Und wei­ter: »Es kann nicht im Ansatz davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass das Ver­fah­ren des Antrag­stel­lers recht­staat­li­chen Grund­sät­zen nicht ent­spro­chen hat.«

Aus die­sen Aus­füh­run­gen im Bescheid wird deut­lich, dass das BAMF davon aus­geht, dass die Tür­kei ein Rechts­staat ist und Straf­ver­fah­ren von kur­di­schen, HDP-nahen Aktivist*innen, denen ter­ro­ris­ti­sche Akti­vi­tä­ten unter­stellt wer­den, nach rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en ablaufen.

In Aras Fall han­delt es sich um eine will­kür­li­che und poli­ti­sche Straf­ver­fol­gung. Die Straf­an­zei­gen, Ermitt­lungs­ver­fah­ren und auch die Ver­ur­tei­lung sind als sol­che zu bewer­ten. In den Straf­ver­fah­ren wird sei­ne Teil­nah­me an Demons­tra­tio­nen zu Unrecht mit Vor­wür­fen von Gewalt­tä­tig­keit gegen Polizist*innen ver­bun­den. Sei­ne Kri­tik am Staats­prä­si­den­ten, die von der Mei­nungs­frei­heit gedeckt ist, wird unter die Para­gra­fen der Prä­si­den­ten­be­lei­di­gung und Belei­di­gung der tür­ki­schen Nati­on sub­su­miert. Die Grund­la­ge der Ver­ur­tei­lung und Straf­ver­fol­gung ist höchst frag­wür­dig und wird vom BAMF weder hin­ter­fragt noch als poli­tisch erkannt und bewertet.

Dass die Ver­fol­gung von Kurd*innen durch die tür­ki­sche Straf­jus­tiz auch vor Min­der­jäh­ri­gen kei­nen Halt macht, zeigt sich an Berat. Sein Asyl­an­trag wur­de vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) abge­lehnt, und er kämpf­te um die Aner­ken­nung als Flücht­ling vor Gericht. Mit Erfolg: Das zustän­di­ge Ver­wal­tungs­ge­richt hat sei­ne Ver­fol­gungs­ge­schich­te ange­mes­sen bewer­tet und ihm Ende Novem­ber 2023 die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuerkannt.

Die Ver­fol­gungs­hand­lun­gen gegen ihn und sei­ne Fami­lie began­nen vor zehn Jah­ren – er war gera­de mal elf Jah­re alt. Die Fami­lie wur­de unter Gene­ral­ver­dacht gestellt, die PKK zu unter­stüt­zen. Berat gibt an, dass weder er noch sei­ne Fami­lie poli­tisch aktiv sei­en oder die PKK unter­stützt hät­ten. Den­noch erfolg­ten unver­hält­nis­mä­ßi­ge Haus­durch­su­chun­gen und Gewalt durch die tür­ki­sche Poli­zei gegen sei­nen damals gera­de voll­jäh­rig gewor­de­nen Bru­der. Die­ser wur­de in Fol­ge einer Haus­durch­su­chung inhaf­tiert und floh nach sei­ner Frei­las­sung nach Deutschland.

Eines Tages ver­schwand ein wei­te­rer Bru­der Berats. Die Fami­lie war eine Woche lang in Sor­ge. Die Nach­richt, dass er ver­stor­ben sei, wur­de ihnen von der Poli­zei mit den Wor­ten »wir haben den Ter­ro­ris­ten getö­tet« über­mit­telt. In Berats Asyl-Bescheid ist zu lesen, dass dem BAMF zum Tod des Bru­ders Infor­ma­tio­nen vor­lie­gen. PKK-nahen Medi­en sei zu ent­neh­men, dass eine Per­son mit des­sen Namen als »Kämp­fer« bezie­hungs­wei­se »Gue­ril­la« einer PKK-nahen Grup­pie­rung in der Tür­kei ums Leben gekom­men sei. Somit sei der Bru­der als PKK-Mit­glied getö­tet worden.

Ausschluss von der öffentlichen Schule 

Berats Jugend war geprägt von Dis­kri­mi­nie­rung wegen der Vor­wür­fe gegen sei­ne Fami­lie. Das Grab sei­nes ver­stor­be­nen Bru­ders wur­de in sei­ner und sei­ner Mut­ter Anwe­sen­heit von tür­ki­schen Sol­da­ten zer­stört. Vom Schul­be­such wur­de er mit der Mit­tei­lung aus­ge­schlos­sen, dass sei­ne gesam­te Fami­lie Ter­ro­ris­ten und Ver­rä­ter sei­en und man ihn nicht in der Schu­le haben wol­le. Sei­ner Fami­lie ging es wirt­schaft­lich gut, sodass sie ihn an einer Pri­vat­schu­le anmel­den konn­te. Eine Rei­se nach Spa­ni­en für ein Fuß­ball-Trai­nings­camp wur­de Berat von einer tür­ki­schen Behör­de ver­wehrt. Er dür­fe das Land nicht ver­las­sen und die Tür­kei auch nicht in ande­ren Län­dern reprä­sen­tie­ren, da sei­ne Fami­lie Ter­ro­ris­ten sei­en, so die Begrün­dung des Beamten.

Je älter Berat wur­de, des­to mehr Benach­tei­li­gun­gen erfuhr er und rück­te immer mehr in das Visier der tür­ki­schen Poli­zei. Es began­nen Befra­gun­gen, mehr­fach wur­de er fest­ge­hal­ten und nach dem Auf­ent­halts­ort von Fami­li­en­mit­glie­dern befragt. Ihm wur­de unter­stellt, dass er und sei­ne Fami­lie Teil der PKK sei­en und Infor­ma­tio­nen über PKK-Kämpfer*innen hät­ten. Berat sol­le mit der Poli­zei zusam­men­ar­bei­ten, wür­de er eine Koope­ra­ti­on ver­wei­gern, wür­de man ihn umbrin­gen, so wie auch sei­nen älte­ren Bru­der, droh­te die Polizei.

Die Befra­gun­gen wur­den häu­fi­ger, sodass er in man­chen Wochen nur zwei bis drei Mal zur Schu­le gehen konn­te. Die Beam­ten kamen sogar in die Schu­le und hol­ten ihn vor den Augen der Lehr­kräf­te und Mitschüler*innen aus dem Unter­richt. Abge­se­hen von der mas­si­ven Ein­schüch­te­rung und Bedro­hung durch die tür­ki­sche Poli­zei ver­bie­tet sich die Befra­gung von Min­der­jäh­ren ohne ihre Sor­ge­be­rech­ti­gen aus kin­der­recht­li­cher Sicht und unter­streicht das frag­wür­di­ge Ver­hal­ten der Ermittlungsbehörden.

Flucht nach Deutschland zum Bruder

Wegen des Vor­ge­hens der Poli­zei gegen Berat ent­schied die Fami­lie, dass er die Tür­kei ver­las­sen muss. Berat befürch­te­te, dass ihm, wie sei­nen Brü­dern, unrecht­mä­ßi­ge Haft und Straf­ver­fol­gung oder sogar schlimms­ten­falls der Tod dro­hen wür­de, wenn er in der Tür­kei blie­be. Nach sei­ner Flucht wur­den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge nach sei­nem Auf­ent­halts­ort durch die tür­ki­sche Poli­zei befragt.

In Deutsch­land bei sei­nem Bru­der ange­kom­men, stellt Berat einen Asyl­an­trag, der abge­lehnt wird. Das BAMF schreibt: »Er hat sei­ne begrün­de­te Furcht vor Ver­fol­gung oder einem ernst­haf­ten Scha­den nicht glaub­haft gemacht.« Aller­dings fehlt eine fun­dier­te Aus­ein­an­der­set­zung mit Berats indi­vi­du­el­len Flucht­grün­den und sei­ner Fami­li­en­ge­schich­te. Das BAMF gibt an, die erfolg­ten Ver­fol­gungs­hand­lun­gen wie die Haus­durch­su­chun­gen hät­ten sich nicht gegen ihn, son­dern gegen sei­nen Bru­der gerich­tet. Berats Bru­der wur­de in der Tür­kei als »Mit­glied in einer bewaff­ne­ten Orga­ni­sa­ti­on« zu einer Frei­heits­stra­fe von neun Jah­ren und wegen »Pro­pa­gan­da für eine bewaff­ne­te Orga­ni­sa­ti­on« zu ein­ein­halb Jah­ren Haft ver­ur­teilt. Auch sein Asyl­an­trag wur­de zunächst abge­lehnt, im gericht­li­chen Ver­fah­ren erhielt er aber die Flüchtlingseigenschaft.

In Berats Bescheid fin­det sich eine schier end­lo­se Ansamm­lung von Text­bau­stei­nen zur all­ge­mei­nen Situa­ti­on von Kurd*innen in der Tür­kei. Es sei kei­ne Grup­pen­ver­fol­gung erkenn­bar und zudem ein Leben in der West­tür­kei für Kurd*innen mög­lich. Wie es einem Min­der­jäh­ri­gen aller­dings mög­lich sein soll, getrennt von sei­ner Fami­lie kom­plett auf sich allein gestellt in einem ande­ren Lan­des­teil zu leben, dazu fin­det sich im Bescheid nichts.

Dar­über hin­aus fehlt voll­kom­men eine Aus­ein­an­der­set­zung mit Erkennt­nis­sen, die bele­gen, dass Per­so­nen, denen eine Nähe oder Unter­stüt­zung zur PKK unter­stellt wird, eine Ver­haf­tung durch den tür­ki­schen Staat dro­hen kann. Dem­nach sind auch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von Per­so­nen mit mut­maß­li­chen Ver­bin­dun­gen zur PKK oder PKK-nahen Grup­pie­run­gen gefähr­det. Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge könn­ten in den Fokus der Behör­den gera­ten und ver­haf­tet wer­den (Schwei­ze­ri­sche Flücht­lings­hil­fe Tür­kei 2017, S. 12 ff). In den Fokus der Behör­den ist Berat bereits gera­ten. Die Fra­ge ist, ob gegen ihn erst eben­falls will­kür­li­che Straf­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet oder er inhaf­tiert wer­den muss, damit das BAMF die dro­hen­de Ver­fol­gung erkennt.

Berat klag­te gegen die Ableh­nung sei­nes Asyl­an­trags und bekam Recht. Das Gericht hat nun ent­schie­den, dass Berat – wie sei­ne eben­falls nach Deutschlang geflo­he­nen Geschwis­ter – nicht in die Tür­kei zurück­keh­ren kann. Auf­grund sei­ner Fami­li­en­ge­schich­te und der damit ver­bun­de­nen unter­stell­ten poli­ti­schen Über­zeu­gung wür­de er mit beacht­li­cher Wahr­schein­lich­keit Ver­fol­gung aus­ge­setzt sein. End­lich hat er den Schutz erhal­ten, der ihm zusteht.

Seit fast sie­ben Jah­ren kämp­fen Can* und sei­ne Fami­lie mit Unter­stüt­zung ihres Anwalts für die Aner­ken­nung als Flücht­lin­ge in Deutsch­land. Can hat zwar mitt­ler­wei­le, auf­grund sei­ner guten Inte­gra­ti­on, ein Blei­be­recht erhal­ten, doch er will wei­ter­hin die Aner­ken­nung sei­ner Ver­fol­gung in der Tür­kei durch das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) und die zustän­di­gen Gerich­te errei­chen. Sein Fall liegt der­zeit beim Oberverwaltungsgericht.

Can kommt aus einer Stadt im Süd­os­ten der Tür­kei, die durch mas­si­ve Bom­ben­an­grif­fe der tür­ki­schen Armee stark zer­stört wur­de. Bei den Angrif­fen kamen vie­le Men­schen ums Leben, dar­un­ter auch Cans Bru­der. Die Offen­si­ve des tür­ki­schen Mili­tärs und der Poli­zei galt der PKK, vie­le Bewohner*innen der Stadt sowie Beobachter*innen ver­ur­teil­ten die Bru­ta­li­tät des Staats. Das Ver­trau­en in Staat, Mili­tär und Poli­zei war danach nach­hal­tig erschüt­tert. Den­noch ging es Can und sei­ner Fami­lie wirt­schaft­lich sehr gut. Die Fami­lie besaß eine eige­ne Fir­ma, die sie absicherte.

Der Anfang vom Ende begann, als die Poli­zei nach ihm such­te. Can erhielt einen Vor­füh­rungs­be­fehl und soll­te bei der Poli­zei ver­nom­men wer­den. War­um, war ihm unklar. Er ver­mu­tet, dass ihm Arbeit für die PKK unter­stellt wird. Erst Jah­re spä­ter erfuhr er in Deutsch­land, dass zwei Ermitt­lungs­ver­fah­ren wegen »Pro­pa­gan­da für eine Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on« sowie »Mit­glied­schaft in einer Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on« gegen ihn ein­ge­lei­tet wor­den waren. Can war weder für die PKK noch für eine ande­re Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on aktiv.

Nach­dem er von dem Vor­füh­rungs­be­fehl erfah­ren hat­te, flüch­te­te Can, aus Angst vor will­kür­li­cher Ver­haf­tung und Straf­ver­fol­gung, mit sei­ner Fami­lie sofort nach Istan­bul, von dort ver­such­ten sie, nach Grie­chen­land wei­ter zu flie­hen. Ein Flucht­ver­such schei­ter­te für ihn, die Fami­lie trenn­te sich, sei­ne Frau und Kin­der schaff­ten es, wei­ter nach Deutsch­land zu flie­hen. Der zwei­te Flucht­ver­such gelang. In sei­ner Abwe­sen­heit wur­den sowohl sein Vater als auch der im Wes­ten der Tür­kei leben­de Bru­der von der tür­ki­schen Poli­zei auf­ge­sucht und nach Cans Auf­ent­halts­ort befragt.

Ablehnung wegen interner Fluchtalternative

In Deutsch­land ange­kom­men, folg­te eine bis heu­te andau­ern­de Odys­see durch das deut­sche Asyl­ver­fah­ren. Der ers­te Asyl­an­trag wur­de abge­lehnt, auch wenn das BAMF zuer­kann­te, dass »die vom Antrag­stel­ler vor­ge­tra­ge­nen Gescheh­nis­se (…) als wahr unter­stellt wer­den [kön­nen]«. Basis der Ableh­nung war die angeb­li­che inter­ne Flucht­al­ter­na­ti­ve in der Tür­kei. Laut BAMF könn­ten »aus Ost­ana­to­li­en zuge­wan­der­te Kur­den (…), die sich weder aktiv noch her­vor­ge­ho­ben für sepa­ra­tis­ti­sche Bestre­bun­gen ein­set­zen, (…) in der West­tür­kei grund­sätz­lich unbe­hel­ligt leben, es sei denn, sie sind in straf­recht­lich rele­van­ter Wei­se, vor allem für die PKK und ihre Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen (…) aktiv geworden«.

Die durch die tür­ki­sche Straf­ver­fol­gung unter­stell­te Tätig­keit für und Mit­glied­schaft in der PKK blieb im Ableh­nungs­be­scheid unbe­ach­tet. Recht­li­che Mit­tel gegen die Ableh­nung blie­ben im ers­ten Kla­ge­ver­fah­ren erfolglos.

Folgeverfahren: Keine Originalpapiere, kein Schutz

2019 stell­te Can einen Asyl­fol­ge­an­trag, da es ihm gelang, über einen Rechts­an­walt in der Tür­kei kopier­te Doku­men­te der tür­ki­schen Straf­jus­tiz zu orga­ni­sie­ren. Anhand der Doku­men­te konn­te er bewei­sen, dass gegen ihn die Ermitt­lungs­ver­fah­ren wegen »Pro­pa­gan­da für eine Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on« und »Mit­glied­schaft in einer Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on« lau­fen. Das zustän­di­ge Straf­ge­richt hat­te die­sen statt­ge­ge­ben, sodass ein Fest­nah­me- und Vor­füh­rungs­be­fehl gegen Can vorliegt.

Zudem konn­te er Doku­men­te ein­rei­chen, aus denen her­vor­geht, dass inten­siv nach ihm gefahn­det wird. So wur­de neben Vater und Bru­der auch ein ehe­ma­li­ger Ver­mie­ter auf­ge­sucht und befragt. Der Rechts­an­walt begrün­det den Antrag zusätz­lich damit, dass Can, dem als Kur­de eine PKK-Mit­glied­schaft und Unter­stüt­zung der Orga­ni­sa­ti­on unter­stellt wird, nicht mit einem rechts­staat­li­chen Straf­ver­fah­ren in der Tür­kei rech­nen kann (sie­he hier­zu auch VG Trier, Urteil vom 12.04.2021 – 9 K 2628/20.TR – asyl.net: M29533, VG Han­no­ver, Urteil vom 19.5.2022 – 13 A, 3666/18 – asyl.net: M30832).

Knapp ein Jahr spä­ter erreich­te die Fami­lie die Unzu­läs­sig­keits-Ableh­nung. Das BAMF ent­schied, kein wei­te­res Asyl­ver­fah­ren durch­zu­füh­ren. Die Bewei­se in Kopie­form sei­en unzu­rei­chend, um die Ver­fol­gung nach­zu­wei­sen, und könn­ten die Wider­sprü­che und Unklar­hei­ten von Cans Vor­trag nicht besei­ti­gen. Dar­über hin­aus stell­ten ein Vor­füh­rungs­be­fehl und die »Ermitt­lungs­tä­tig­keit von Poli­zei­be­hör­den (…) kei­ne schwer­wie­gen­de Ver­let­zung grund­le­gen­der Men­schen­rech­te dar«. Dies mag zwar für den Ver­fah­rens­stand zutref­fend sein, doch es ist abseh­bar, dass die Ermitt­lun­gen in einem poli­ti­schen Straf­ver­fah­ren mün­den, das mit hoher Wahr­schein­lich­keit mit einer unrecht­mä­ßi­gen Haft­stra­fe enden würde.

Gerichtsverfahren: Die gesperrte UYAP-Akte 

Auch im dar­auf fol­gen­den Gerichts­ver­fah­ren wird Can als unglaub­wür­dig dar­ge­stellt. Das Pro­blem: Can kann die Nach­wei­se über sei­ne Ver­fol­gung in der Tür­kei nicht im tür­ki­schen Online-Por­tal UYAP (Natio­na­les Jus­tiz­netz­werk Infor­ma­ti­ons­sys­tem) ein­se­hen (für mehr Infor­ma­tio­nen zu die­sem Por­tal und den damit ver­bun­de­nen Pro­ble­men sie­he den Bei­trag von Murmann/Wohnig im Asyl­ma­ga­zin 05/2023). Ohne dies mit einer Quel­le zu bele­gen, schluss­fol­ger­te das Gericht dar­aus: Wenn Can nichts ein­se­hen kön­ne, lie­ge auch nichts vor, oder es betref­fe ihn nicht – womit das Gericht unter­stellt, dass die Akte auch von einer ande­ren Per­son sein könn­te: »Der Klä­ger hat zwar ange­ge­ben, dass er über den Zugang zu UYAP ver­fügt, aber er nicht die Rech­te zur Sich­tung hat. Dar­aus folgt für das Gericht, dass es unter dem ein­ge­ge­be­nen Code ein Doku­ment gibt, der Klä­ger (…) jedoch nicht der­je­ni­ge ist, den die­ses betrifft, sodass er es nicht ein­se­hen kann.«

Die Annah­me des BAMFs und des Gerichts, es läge kei­ne Ver­fol­gung vor, ist nicht zutref­fend. Auch scheint in Cans Fall zumin­dest das zustän­di­ge Gericht die Gren­zen und Mög­lich­kei­ten des UYAP-Sys­tems nicht zu ken­nen. Gera­de bei Ter­ror­vor­wür­fen wird der Zugang zu den Akten häu­fig gesperrt. Es liegt eine immense Beweis­last auf Can, wenn sei­nen münd­li­chen Aus­füh­run­gen nicht geglaubt wird und der Fokus für den Nach­weis der Ver­fol­gung auf Ori­gi­nal-Unter­la­gen aus der Tür­kei liegt. Ein kri­ti­scher Blick des BAMFs und der Gerich­te auf die tür­ki­sche Straf­ver­fol­gung bei Per­so­nen, denen die Zuge­hö­rig­keit zur PKK unter­stellt wird, bleibt auch hier aus. Es bleibt zu hof­fen, dass das Ober­ver­wal­tungs­ge­richt die Nach­wei­se und Vor­trä­ge Cans ange­mes­sen bewer­tet, sodass er sowie sei­ne Fami­lie nach sie­ben lan­gen Jah­ren den Schutz erhal­ten, der ihnen zusteht.

Ser­dan ist Kur­de und Mit­glied der Par­tei HDP, die sich für Min­der­hei­ten­rech­te, ins­be­son­de­re der kur­di­schen Min­der­heit, ein­setzt. Die Tür­kei muss­te er ver­las­sen, weil gegen ihn auf­grund sei­ner poli­ti­schen Akti­vi­tät meh­re­re Straf- und Ermitt­lungs­ver­fah­ren unter dem Vor­wand der Ter­ror­pro­pa­gan­da ein­ge­lei­tet wur­den. Außer­dem liegt ein Haft­be­fehl gegen ihn vor. Ser­dan dro­hen Straf­ver­fah­ren und Haft, weil ihm die Mit­glied­schaft in einer lega­len Par­tei und sein Enga­ge­ment für die­se zulas­ten gelegt werden.

Sein Asyl­an­trag in Deutsch­land wur­de den­noch abge­lehnt. Die Begrün­dung: Serdans Vor­trag in der BAMF Anhö­rung sei unglaub­haft und wider­sprüch­lich. Zudem habe er weder eine her­aus­ge­ho­be­ne Stel­lung in der Par­tei gehabt, noch sei er expo­niert poli­tisch tätig gewor­den. Kurd*innen sei­en außer­dem in der Tür­kei nicht lan­des­weit ver­folgt. Es bestün­de eine inlän­di­sche Flucht­al­ter­na­ti­ve in der Westtürkei.

Ser­dan kann sei­ne Ver­fol­gung im Erst­ver­fah­ren nicht über Doku­men­te nach­wei­sen, nach der Ableh­nung gelingt es ihm aber, über einen tür­ki­schen Anwalt Doku­men­te der zustän­di­gen tür­ki­schen Staats­an­walt­schaft zu beschaf­fen. Die­se bewei­sen nun die poli­ti­sche Straf­ver­fol­gung, wes­halb er mit sei­nem Anwalt einen Asyl­fol­ge­an­trag stellt. Statt aber ein Fol­ge­ver­fah­ren durch­zu­füh­ren, wird der Antrag als unzu­läs­sig abge­lehnt. Das BAMF stellt fest: »Bei den vor­ge­leg­ten Unter­la­gen han­delt es sich zur vol­len Über­zeu­gung der Unter­zeich­ne­rin offen­sicht­lich um Total­fä­schun­gen.« Das ist eine fal­sche Bewer­tung der Doku­men­te. Das BAMF sieht daher weder Serdans Ver­fol­gung belegt noch neue Grün­de gege­ben, um ein wei­te­res Ver­fah­ren durchzuführen.

Serdans Anwalt legt Kla­ge und einen Eil­an­trag gegen die Ent­schei­dung ein. Zunächst lehnt das zustän­di­ge Gericht den Eil­an­trag ab, weil auch das Gericht davon aus­geht, dass es nicht zu einer für Ser­dan güns­ti­ge­ren Ent­schei­dung kom­men würde.

Abschiebung in letzter Sekunde verhindert

Ser­dan gelingt es schließ­lich, über den tür­ki­schen Anwalt, sei­ne UYAP Zugangs­da­ten zu erhal­ten. Nun kann er selbst im tür­ki­schen Jus­tiz­por­tal UYAP die gegen ihn vor­lie­gen­den Straf­ver­fah­ren ein­se­hen. Serdans Anwalt stellt mit den Bewei­sen aus UYAP einen wei­te­ren Antrag bei Gericht, um die Abschie­bung in die Tür­kei zu verhindern.

Die Aus­län­der­be­hör­de hat­te bereits auf­ent­halts­be­en­den­de Maß­nah­men ein­ge­lei­tet, als Ser­dan end­lich die erleich­tern­de Nach­richt von sei­nem Anwalt bekam: Das Gericht hält es für mög­lich, dass durch die ein­ge­reich­ten Doku­men­te ein Asyl­fol­ge­ver­fah­ren doch durch­ge­führt wer­den könn­te. Dadurch eröff­net sich für Ser­dan noch ein­mal die Chan­ce, doch noch Schutz vor Ver­fol­gung in der Tür­kei zu erhalten.

Die dar­ge­stell­ten Fäl­le und ein­deu­ti­gen Berich­te, machen deut­lich, dass Per­so­nen, die auf­grund poli­ti­scher Tat­vor­wür­fe in den Fokus staat­li­cher Ermitt­lung gera­ten sind, in der Tür­kei nicht mit einem rechts­staat­li­chen Ver­fah­ren rech­nen können.

Terrorismusvorwürfe aus dem Nichts

Sei es zum Bei­spiel die Teil­nah­me an Demons­tra­tio­nen, kri­ti­sche Mei­nungs­äu­ße­run­gen gegen­über dem Prä­si­den­ten oder die Mit­glied­schaft in einer lega­len Par­tei: Aus dem Nichts kön­nen in der Tür­kei Ter­ro­ris­mus­vor­wür­fe kon­stru­iert werden.

Die dar­ge­stell­ten Fäl­le und ein­deu­ti­gen Berich­te, nicht zuletzt durch das Aus­wär­ti­ge Amt selbst, machen deut­lich, dass Per­so­nen, die auf­grund poli­ti­scher Tat­vor­wür­fe in den Fokus staat­li­cher Ermitt­lung gera­ten sind, in der Tür­kei nicht mit einem rechts­staat­li­chen Ver­fah­ren rech­nen kön­nen. In den dar­ge­stell­ten Fäl­len geht es um Kurd*innen; die Fest­stel­lung, dass es kei­ne rechts­staat­li­chen Ver­fah­ren gibt, lässt sich aber auch auf Ver­fah­ren oppo­si­tio­nel­ler Grup­pie­run­gen oder Ein­zel­per­so­nen sowie (ver­meint­li­che) Ange­hö­ri­ge des Gülen-Netz­werks (sie­he hier für Fall­dar­stel­lun­gen) über­tra­gen.

Willkür der türkischen Strafverfolgung anerkennen 

Das BAMF muss end­lich die Will­kür der tür­ki­schen Straf­ver­fol­gung aner­ken­nen und darf Ver­ur­tei­lun­gen aus der Tür­kei sowie Doku­men­te aus der tür­ki­schen Straf­ver­fol­gung nicht unkri­tisch über­neh­men. Es ist längst an der Zeit, dass die Län­der­leit­sät­ze ent­spre­chend ange­passt und die Ent­schei­dungs­pra­xis kri­tisch über­prüft wer­den. Die Abkehr von Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit in der Tür­kei muss sich end­lich auch auf die Schutz­quo­te nie­der­schla­gen. Ver­folg­te des Erdoğan-Regimes brau­chen Schutz!

*Name geän­dert

(ie, mz, wj)