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In der Türkei verfolgt, von Deutschland abgelehnt: Kurd*innen brauchen Schutz!
Stigmatisiert, kriminalisiert, inhaftiert – Kurd*innen aus der Türkei suchen Schutz in Deutschland: meist vergebens. Denn das Bundesamt geht leider noch immer davon aus, dass die Türkei ein Rechtsstaat ist. Die dramatische Menschenrechtslage wird schöngeredet. Diese deutsche Asylverweigerungspraxis muss dringend geändert werden.
Aras*, Berat*, Can* und Serdan* stammen aus dem Südosten der Türkei. Sie sind Kurden, mussten ihr Heimatland verlassen und sind vor der Verfolgung durch die türkische Strafjustiz nach Deutschland geflohen. Bei allen behaupten die türkischen Behörden, sie hätten sich terroristisch betätigt – sei es Terrorpropaganda, die Unterstützung einer Terrororganisation oder die Beteiligung an terroristischen Aktivitäten.
Alle bestreiten die Vorwürfe und mussten bereits Drohungen, Befragungen, Haftbefehle und Strafverfahren durch die türkische Strafjustiz über sich ergehen lassen. Bei Rückkehr in die Türkei befürchten sie die Fortsetzung der Verfolgung und ihre willkürliche Inhaftierung. Erschreckend ist: Bei keinem der Männer hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihre Verfolgung anerkannt – alle Asylanträge wurden abgelehnt.
PRO ASYL unterstützt Klagen
Ihre Schicksale, die PRO ASYL hier veröffentlicht, stehen exemplarisch für einen besorgniserregenden Trend. Auf der einen Seite steht die Erosion der Menschenrechte in der Türkei, unter der alle leiden, die nicht in das nationalkonservativ-religiöse Staatsprojekt von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan passen (wollen), wie viele Kurd*innen und ihre Unterstützer*innen. Auf der anderen Seite steht Deutschland, wo viele Schutz vor Verfolgung suchen, wo aber trotz der immer stärker werdenden Verfolgung die Schutzquote sinkt. Immer mehr Geflüchteten aus der Türkei wird ein Schutzstatus verweigert. Häufig zu Unrecht.
Deshalb unterstützt PRO ASYL die Klagen von Aras, Berat und Can sowie weitere Klagen von kurdischen Asylsuchenden mit dem PRO ASYL-Rechtshilfefonds.
Flucht vor dem Regime-Erdogans: Asylantragszahlen auf Höchststand
Im Jahr 2023 wurden 61.181 Asylerstanträge türkischer Staatsbürger*innen registriert, damit haben sich die Antragszahlen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (2022: 23.938 Asylerstanträge). Noch vor Afghanistan ist die Türkei das zweitstärkste Herkunftsland von Asylsuchenden in Deutschland, mehr Anträge wurden nur von Syrer*innen gestellt. Wie auch in den Vorjahren sind es besonders Kurd*innen aus der Türkei, die in Deutschland Sicherheit suchen. 84 Prozent der Asylerstanträge türkischer Staatsangehöriger im ersten Halbjahr 2023 wurden von Kurd*innen gestellt.
Erhielt 2019 noch jede zweite antragstellende Person aus der Türkei einen Schutzstatus (bereinigte Gesamtschutzquote 2019: 53 Prozent), war es 2023 nicht einmal mehr jede fünfte. Die bereinigte Schutzquote sinkt kontinuierlich und liegt aktuell bei rund 18 Prozent.
Kurd*innen aus der Türkei erhalten seltener Schutz
Dabei ist seit Jahren auffällig: Angehörige der kurdischen Bevölkerungsgruppe aus der Türkei erhalten wesentlich seltener Schutz als Antragsstellende der türkischen Bevölkerungsgruppe. Bereits 2019 wurden lediglich 18 Prozent der Anträge von kurdischen Antragsstellenden vom BAMF positiv beschieden, im ersten Halbjahr 2023 sank die Schutzquote auf nur sieben Prozent ab. Die Schutzquote der türkischen Bevölkerungsgruppe lag mit 70 Prozent weiterhin wesentlich darüber. Zwar sank auch bei dieser Gruppe die Schutzquote im Vergleich zu 2019, die damals bei 76 Prozent lag. Doch der Rückgang fällt wesentlich geringer aus als bei der kurdischen Gruppe, und die Schutzquote liegt weiterhin auf einem deutlich stabileren Niveau.
Bei Antragsstellung erfasst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) neben der Staatsangehörigkeit auch die Volksgruppenzugehörigkeit. Dies ermöglicht die statistische Auswertung von zwei Gruppen: Personen, die sich als Türk*innen identifizieren, und Personen, die sich als Kurd*innen identifizieren. Öffentlich zugänglich sind die bislang regelmäßigen kleinen Bundestags-Anfragen der nun aufgelösten Fraktion die Linke zu dem Thema (für 2019 und 2020 siehe BT-Drucksache 19/26758; für 2021 siehe BT-Drucksache 20/1477; für 2022 und 2023 (1. Halbjahr) siehe BT-Drucksache 20/8517). Die Zahlen werden außerdem regelmäßig von PRO ASYL beim BAMF abgefragt.
Die niedrige Anerkennungsquote von Kurd*innen aus der Türkei steht im starken Kontrast zu der staatlichen Verfolgung, der viele Angehörige der Minderheit aufgrund des ihnen unterstellten oder tatsächlichen politischen Engagements ausgesetzt sind. Erdoğans autokratische Wende findet unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung statt und geht Hand in Hand mit der Auflösung rechtsstaatlicher Standards. Viele Kurd*innen aus der Türkei geraten wegen (unterstellter) Verbindungen zu Organisationen, wie der auch in Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, in den Fokus der türkischen Strafverfolgung (hier gibt es Informationen zur Verfolgung von vermeintlichen Gülen-Anhänger*innen und ebenfalls problematischen Praktiken des BAMFs).
Kritik an türkischer Regierung kann zu Verfolgung führen
Dabei kann jede kritische Äußerung über die türkische Regierung und deren Handlungen zur Verfolgung führen. So werden Meinungsäußerungen, die in demokratischen Staaten üblich sind, von der türkischen Regierung unter Terrorverdacht gestellt und verfolgt.
Auch mit Blick auf die andauernden Drohnenangriffe der Türkei auf das kurdisch geprägte Nordostsyrien, aber auch auf den Nordirak, bei dem gezielt zivile Infrastruktur zerstört wird, sprechen Interessensvertretungen in der Gesamtschau von einer »anti-kurdischen Politik«. Verstärkt durch die weitgehende Zerstörung durch das verheerende Erdbeben im Frühjahr 2023, das besonders den kurdisch geprägten Südosten der Türkei traf, hofften viele vor den Wahlen im Mai 2023 auf einen Wechsel an der Spitze des Landes. Nach der Wiederwahl des umstrittenen türkischen Staatspräsidenten jedoch bleibt für viele, besonders Kurd*innen, nur die Flucht.
Türkische Justiz: mangelnde Unabhängigkeit und politische Instrumentalisierung
Die Vorwürfe der türkischen Justiz haben in vielen Fällen keinen Gehalt und sind in Deutschland strafrechtlich nicht von Bedeutung – dennoch zweifelt das Bundesamt die Asylrelevanz in der Regel an. Grob sind zwei Muster festzustellen: Zum einen werden die Schilderungen kurdischer Antragsstellender regelmäßig als »nicht glaubwürdig« abgetan und überzogene Belege verlangt, die die Strafverfolgung beweisen sollen. In weiteren Fallkonstellationen wird die Verfolgung durch die türkische Justiz zwar anerkannt, jedoch mit dem Hinweis des »berechtigten Verfolgungsinteresse[s]« der Türkei als legitime Strafverfolgung eingestuft – und somit ein Schutzanspruch zurückgewiesen. Manchmal kommt beides zusammen. Beide Argumentationen bauen auf der Annahme auf, dass die türkische Justiz weiterhin rechtsstaatliche Standards erfüllt. Insbesondere in politischen Verfahren ist das jedoch längst widerlegt worden.
»Die Kommissarin ist alarmiert über die Tatsache, dass die türkische Justiz, insbesondere in Fällen mit Terrorismusbezug, ein noch nie dagewesenes Maß an Missachtung selbst der grundlegendsten Rechtsprinzipien an den Tag legt«, brachte es ein Bericht des Menschenrechtskommissariats des Europarats bereits im Februar 2020 auf den Punkt. Diese Feststellungen sind weiterhin aktuell. Erst im September 2023 verurteilte das Europäische Parlament unter anderem »die mangelnde Unabhängigkeit der [türkischen] Justiz und die politische Instrumentalisierung des Justizsystems« und verwies auf anhaltende Angriffe auf die Grundrechte etwa von Oppositionellen und Angehörigen von Minderheiten durch juristische und administrative Schikane.
Internationale Berichte über dramatische Missstände
Den erwähnten Bericht verfasste das Menschenrechtskommissariat des Europarats nach einer Reise in die Türkei im Jahr 2019. Zu dem Zeitpunkt waren bereits weitreichende Umwälzungen umgesetzt worden, die im Rahmen des Ausnahmezustands (Juli 2016 bis Juli 2018) nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 eingeleitet worden waren. So trafen Verhaftungen und Suspendierungen auch große Teile der Richter*innenschaft sowie Staatsanwält*innen. Ersetzt wurden sie durch Personen, die dem Regime Erdoğans gegenüber als »absolut loyal« gelten. Das wird auch in der Weigerung der Türkei deutlich, Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – etwa in den Fällen Osman Kavala und Selahattin Demirtaş – zu befolgen. »Der Präsident und andere hochrangige Regierungsmitglieder behaupteten fälschlicherweise, dass derartige Entscheidungen für die Türkei nicht bindend seien«, hält Amnesty International fest.
Das Haftregime in der Türkei hat sich in den vergangenen Jahren verschärft. In Deutschland fehlen jedoch detaillierte Berichte zur Einschätzung der Situation, weswegen auch von einer »Black Box« gesprochen wird.
Besorgniserregend ist die Zunahme glaubhafter Berichte über Folter und andere Misshandlungen, insbesondere in Haft, wobei diese Berichte nur die Spitze des Eisbergs abbilden dürften. Türkische Menschenrechtsorganisationen warnen, dass die auch in der Türkei verbotenen Praktiken trotz der eindeutigen Rechtslage zugenommen haben und eine neue Dimension erreicht wurde. Entwürdigende Leibesvisitationen werden als Routinepraktik bezeichnet. Schläge, Todesdrohungen und Beleidigungen werden als gängige Misshandlungsmuster gelistet. Organisationen sind zudem wegen der systematisch angewendeten Isolation von inhaftierten Personen alarmiert (ACCORD: Anfragenbeantwortung zu Gefängnissen und Haftbedingungen in der Türkei, in: Asylmagazin 5/2023, S.153 ff.).
Auch der im August 2023 veröffentlichte Bericht der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV bestätigt eine Zunahme der verzeichneten Fälle. Zusätzlich wird auf die lebensbedrohliche Situation kranker Personen in der Haft hingewiesen, bei denen fahrlässig die medizinische Versorgung eingeschränkt wird.
Türkei: Fragwürdige Beweise führen zur Verurteilung
Etliche Strafverfahren und Verurteilungen zeugen von Rechtsunsicherheit und Willkür, die auch im Bericht des Europarats hervorgehoben werden. Das sich aus den Verfahren ergebende Gesamtbild legt nahe, dass in der Türkei systematisch prokurdische Parteien geschwächt und oppositionelle Stimmen unterdrückt werden sollen. Genutzt wird dabei immer wieder die breite Terrorismusdefinition. Zudem ziehen die türkischen Behörden und Gerichte auch den Tatbestand der Präsidentenbeleidigung (zwischen 2014 und 2020 mehr als 160.000 Anklagen) sowie das 2022 verabschiedete »Desinformationsgesetz« heran. Auf letzteres drohen bei Verurteilung Haftstrafen von bis zu drei Jahren.
Der größte Teil der kurdischen Bevölkerung lebt im Südosten der Türkei. Besonders im Grenzgebiet zum Iran, Irak und Syrien stellen Kurd*innen die Mehrheit der Bevölkerung dar. Die Demokratische Partei der Völker, HDP, die sich für Minderheitenrechte, insbesondere der kurdischen Minderheit, einsetzt, erfährt viel Rückhalt in der kurdischen Bevölkerung und in linken, oppositionellen Kreisen in der Türkei. Bis die Friedensverhandlungen zwischen der verbotenen PKK und dem türkischen Staat im Jahr 2015 abgebrochen wurden, war die HDP die Verhandlungspartnerin auf türkischer Seite. Seit den Wahlerfolgen der HDP im selben Jahr gelten Vertreter*innen und Sympathisant*innen der türkischen Oppositionspartei zunehmend als ausgemachtes Feindbild der türkischen Regierung. Seither leistet der Vorwurf von »Terrorverbindungen« seitens der türkischen Regierungskoalition (rechtsextreme MHP und Erdoğans AKP) Vorschub für die Verfolgung der Partei und ihrer Mitglieder auf allen Ebenen.
Im Juli 2021 wurde eine Verbotsklage gegen die HDP vom Verfassungsgericht angenommen. Immer wieder werden aktuelle und ehemalige Mitglieder der HDP inhaftiert und angeklagt. 2016 wurden die erfolgreichen damaligen Co-Parteichefs der HDP Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş im Rahmen einer sogenannten Anti-Terror-Operation verhaftet und sind seither inhaftiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangte bereits mehrfach ihre Freilassung. Die Türkei hält dennoch an der Inhaftierung fest. Dem Politiker und Menschenrechtsanwalt Demirtaş drohen 142 Jahre Haft.
Auch auf kommunaler Ebene ist der Druck spürbar. Viele Gemeinden in dieser Region werden von Bürgermeister*innen der HDP repräsentiert, die in der Regel in Doppelspitze das Amt begleiten. Die demokratisch gewählten Vertreter*innen werden immer wieder durch »Treuhänder«, die der türkischen Regierungskoalition nahestehen, unter Zwangsverwaltung gestellt. Laut einem Bericht der Europäischen Kommission (2022, S. 14) sind 49 Gemeinden betroffen. Zahlreiche Bürgermeister*innen sitzen weiterhin in Haft. Ein 2021 erschienener Bericht der HDP (S. 29) hält fest, dass auf diese Art vier Millionen Wähler*innen um ihre gewählte Vertretung gebracht wurden. Mit den Zwangsverwaltungen kam es zu Entlassungen, insbesondere weiblicher Mitarbeitender, und Angriffen auf identitätsstiftende Denkmäler – wie etwa kurdische Straßennamen.
Der Abbau rechtsstaatlicher Standards in Strafverfahren wird auch in den fragwürdigen Beweisen deutlich, die zur Verurteilung herangezogen werden. Ein Beispiel: Insbesondere beim Vorwurf von Verbindungen zu terroristischen Organisationen werden Verurteilungen auf Grundlage von Aussagen sogenannter Geheimzeug*innen gefällt. Es handelt sich dabei um Personen, die der Verteidigung nicht bekannt sind und die in türkischen Strafverfahren außerdem nicht befragt werden können. Ihre Existenz sowie ihre Aussagen sind folglich nicht überprüfbar, zu Verurteilungen kommt es trotzdem (Johannes Murmann/Christopher Wohnig: Das UYAP-System – asylrelevante Problemlagen, in: Asylmagazin 5/2023, S. 139).
BAMF hält an der Mär des türkischen Rechtsstaats fest
Obwohl auch das Auswärtige Amt auf die strafrechtliche Verfolgung aufgrund nicht nachvollziehbarer Terrorismusvorwürfe, die breite Terrorismusdefinition und die Abhängigkeit der Justiz hinweist, übernimmt das BAMF die Strafvorwürfe unkritisch, wie der Fall von Aras deutlich macht. In seinem BAMF-Bescheid heißt es explizit: »Es kann nicht im Ansatz davon ausgegangen werden, dass das Verfahren des Antragstellers rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprochen hat.«
Politisches Engagement wird zu politischer Verfolgung
Aras ist kurdischer Aktivist und Mitglied der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die stark unter Druck steht. Seit seinem Jugendalter ist er politisch aktiv. Auch in Deutschland betätigt sich Aras exilpolitisch, nimmt an prokurdischen Demonstrationen und politischen Veranstaltungen teil, außerdem ist er Mitglied in einem kurdischen Verein. Es gibt sogar Zeitungsartikel über ihn.
Probleme mit der türkischen Strafjustiz wegen seines Aktivismus bekam Aras früh. Bereits vor seinem 18. Lebensjahr wurde er zweimal verhaftet und verbrachte mehr als ein Jahr in der Türkei in Haft. Unrechtmäßig, wie er sagt. Unter anderem die Teilnahme an einer Demonstration und ein Sprachkursaufenthalt zum Kurdisch lernen wurden ihm zur Last gelegt. Aus Angst vor erneuter Verhaftung floh Aras 2019 aus der Türkei. Zuvor schlug er Versuche des türkischen Geheimdienstes aus, ihn als Spitzel anzuwerben. Ein weiterer Grund, der seine Sorge vor Repressionen vertiefte.
Verurteilung in Abwesenheit
Die Angst begründete sich schnell. Während er in Deutschland Schutz suchte, erfolgte die Verurteilung in der Türkei in seiner Abwesenheit. Ihm werden Terrorpropaganda und mehrere strafrechtliche Verstöße, die er im Rahmen von Demonstrationen verübt haben soll, vorgeworfen. Aras bestreitet die Anschuldigungen gegen ihn als freie Erfindung. Grundlage für die Verurteilung waren unter anderem Aussagen anonymer Zeug*innen.
Außerdem liegt ein neuer Haftbefehl vor, der sich auf ein Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung bezieht. In den Sozialen Medien hatte Aras den Staatspräsidenten Erdoğan zuvor einen Dieb genannt, da er Steuergelder zum Bau seines Präsidentenpalastes veruntreut habe.
Er wird im Winter 2020 in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die Strafe ist zur Bewährung ausgeschrieben. Während Aras, vertreten durch seinen Anwalt in der Türkei, von Deutschland aus in Berufung geht, laufen acht weitere Ermittlungsverfahren gegen ihn, hauptsächlich wegen Präsidentenbeleidigung. Mit einem fairen Prozess rechnet er in keinem der acht Fälle. Vielmehr geht er davon aus, dass er erneut verurteilt und damit die bereits verhängte Bewährungsstrafe widerrufen wird. Bei einer Rückkehr in die Türkei würde ihm damit eine mehrjährige Gefängnisstrafe drohen. Bei einer Inhaftierung ist mit menschenunwürdiger Behandlung und damit einem Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu rechnen.
Der erste Asylantrag scheitert an fehlenden Beweisen
Der Asylantrag von Aras in Deutschland wird abgelehnt. Er hat keine Beweise, die er dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über die politische Strafverfolgung in der Türkei vorlegen kann. In der Begründung ist zu lesen: »(…)[B]ei dem vorgetragenen Verfolgungsschicksal [handelt es sich] um zum Teil in der Bedrohungslage erheblich gesteigerte, zum Teil rein fiktive Narrative des Antragstellers, die nicht vollständig auf selbst erlebten Tatsachen beruht.«
Außerdem, so der Entscheider, könne es zwar sein, dass Aras in der Vergangenheit inhaftiert war und eine Strafverfolgung erfolgte, seine Verfolgung sei aber nicht mehr aktuell. Hinweise auf eine diskriminierende oder unverhältnismäßige Strafverfolgung gebe es nicht. Auch bezüglich der vorgeworfenen Präsidentenbeleidigung wiegelt das BAMF ab. So verweist es auf den in der »türkischen Tradition« verankerten verschärften Ehrenschutz für das Amt des Staatsoberhauptes und sieht in der Verfahrenserledigung keine unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafungen durch die türkische Justiz, obwohl es in etwa einem Drittel der Anklagen tatsächlich zu Haftstrafen kommt. Stattdessen heißt es in dem Bescheid verklausuliert: »Selbst bei einer hypothetischen Wahrunterstellung des Sachvortrags und der kontrafaktischen Vorlage eines als authentisch geprüften schriftlichen Festnahmebefehls gegen seine Person, kann allein der Tatbestand einer Strafverfolgung wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten nicht grundsätzlich als staatliche Verfolgungshandlung gemäß §3a AsylG gewertet werden.«
Ablehnung trotz der Dokumente aus der Türkei
Zusammen mit seinem Rechtsanwalt gelingt es Aras, zahlreiche Nachweise über die erfolgten Verhaftungen, die Verurteilung, anhängige Strafverfahren sowie laufende Ermittlungsverfahren aus der Türkei zu beschaffen. Außerdem bestätigt sein türkischer Anwalt diese in einem Schreiben. Er kann die Inhaftierung, Strafverfolgung und Ermittlungen nun endlich mit Dokumenten belegen. Außerdem reicht er Nachweise über sein hervorgehobenes exilpolitisches Engagement ein. Auf dieser Grundlage stellt Aras kurz nach der ersten Ablehnung einen Folgeantrag.
Das Problem: Das Folgeverfahren wird vom selben Sachbearbeiter des BAMFs durchgeführt wie das Erstverfahren. Aras Befürchtung, dass dadurch kein unabhängiges Verfahren gewährleistet ist, bewahrheiten sich leider. Trotz der hohen Beweislast wird auch der Folgeantrag abgelehnt. Aras reicht Klage ein, das Verfahren ist nun beim zuständigen Verwaltungsgericht anhängig.
Das BAMF verkennt politisch motivierte Strafverfahren
Es ist nicht nachvollziehbar, wieso der Asylantrag abgelehnt wurde, denn für die anhaltende strafrechtliche Verfolgung in der Türkei mit Bezug zu HDP-nahen Aktionen bestehen ebenso zahlreiche Belege wie für die exponierte, exilpolitische Betätigung von Aras. Dass das exilpolitische Engagement die Gefahr erhöht, in der Türkei verfolgt zu werden, wird vom BAMF schlichtweg ignoriert: »Auch aus den nachgewiesenen exilpolitischen Aktivitäten resultiert keine beachtliche Gefahr flüchtlingsschutzrelevanter Verfolgung bei Rückkehr ins Heimatland.«
Im Folgeverfahren erklärt Aras, dass die Anschuldigungen, die zu seiner Verurteilung führten, erfunden sind. Dazu das BAMF: »Zwar bestreitet der Antragsteller, die ihm im Urteil (…) zur Last gelegten Taten begangen zu haben, doch es ist grundsätzlich nicht Aufgabe des Bundesamtes, Urteile auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. In der Regel ist die Annahme gerechtfertigt, dass Ausführungen wie sie sich aus einem Urteil ergeben, auch zutreffen. Ausnahmen vom obigen Grundsatz sind bei dem Vorliegen besonderer Anhaltspunkte, z.B. bei einem Urteil eines offensichtlichen Willkürstaates, jedoch möglich.« Und weiter: »Es kann nicht im Ansatz davon ausgegangen werden, dass das Verfahren des Antragstellers rechtstaatlichen Grundsätzen nicht entsprochen hat.«
Aus diesen Ausführungen im Bescheid wird deutlich, dass das BAMF davon ausgeht, dass die Türkei ein Rechtsstaat ist und Strafverfahren von kurdischen, HDP-nahen Aktivist*innen, denen terroristische Aktivitäten unterstellt werden, nach rechtsstaatlichen Prinzipien ablaufen.
In Aras Fall handelt es sich um eine willkürliche und politische Strafverfolgung. Die Strafanzeigen, Ermittlungsverfahren und auch die Verurteilung sind als solche zu bewerten. In den Strafverfahren wird seine Teilnahme an Demonstrationen zu Unrecht mit Vorwürfen von Gewalttätigkeit gegen Polizist*innen verbunden. Seine Kritik am Staatspräsidenten, die von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, wird unter die Paragrafen der Präsidentenbeleidigung und Beleidigung der türkischen Nation subsumiert. Die Grundlage der Verurteilung und Strafverfolgung ist höchst fragwürdig und wird vom BAMF weder hinterfragt noch als politisch erkannt und bewertet.
Dass die Verfolgung von Kurd*innen durch die türkische Strafjustiz auch vor Minderjährigen keinen Halt macht, zeigt sich an Berat. Sein Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt, und er kämpfte um die Anerkennung als Flüchtling vor Gericht. Mit Erfolg: Das zuständige Verwaltungsgericht hat seine Verfolgungsgeschichte angemessen bewertet und ihm Ende November 2023 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
Die Verfolgungshandlungen gegen ihn und seine Familie begannen vor zehn Jahren – er war gerade mal elf Jahre alt. Die Familie wurde unter Generalverdacht gestellt, die PKK zu unterstützen. Berat gibt an, dass weder er noch seine Familie politisch aktiv seien oder die PKK unterstützt hätten. Dennoch erfolgten unverhältnismäßige Hausdurchsuchungen und Gewalt durch die türkische Polizei gegen seinen damals gerade volljährig gewordenen Bruder. Dieser wurde in Folge einer Hausdurchsuchung inhaftiert und floh nach seiner Freilassung nach Deutschland.
Eines Tages verschwand ein weiterer Bruder Berats. Die Familie war eine Woche lang in Sorge. Die Nachricht, dass er verstorben sei, wurde ihnen von der Polizei mit den Worten »wir haben den Terroristen getötet« übermittelt. In Berats Asyl-Bescheid ist zu lesen, dass dem BAMF zum Tod des Bruders Informationen vorliegen. PKK-nahen Medien sei zu entnehmen, dass eine Person mit dessen Namen als »Kämpfer« beziehungsweise »Guerilla« einer PKK-nahen Gruppierung in der Türkei ums Leben gekommen sei. Somit sei der Bruder als PKK-Mitglied getötet worden.
Ausschluss von der öffentlichen Schule
Berats Jugend war geprägt von Diskriminierung wegen der Vorwürfe gegen seine Familie. Das Grab seines verstorbenen Bruders wurde in seiner und seiner Mutter Anwesenheit von türkischen Soldaten zerstört. Vom Schulbesuch wurde er mit der Mitteilung ausgeschlossen, dass seine gesamte Familie Terroristen und Verräter seien und man ihn nicht in der Schule haben wolle. Seiner Familie ging es wirtschaftlich gut, sodass sie ihn an einer Privatschule anmelden konnte. Eine Reise nach Spanien für ein Fußball-Trainingscamp wurde Berat von einer türkischen Behörde verwehrt. Er dürfe das Land nicht verlassen und die Türkei auch nicht in anderen Ländern repräsentieren, da seine Familie Terroristen seien, so die Begründung des Beamten.
Je älter Berat wurde, desto mehr Benachteiligungen erfuhr er und rückte immer mehr in das Visier der türkischen Polizei. Es begannen Befragungen, mehrfach wurde er festgehalten und nach dem Aufenthaltsort von Familienmitgliedern befragt. Ihm wurde unterstellt, dass er und seine Familie Teil der PKK seien und Informationen über PKK-Kämpfer*innen hätten. Berat solle mit der Polizei zusammenarbeiten, würde er eine Kooperation verweigern, würde man ihn umbringen, so wie auch seinen älteren Bruder, drohte die Polizei.
Die Befragungen wurden häufiger, sodass er in manchen Wochen nur zwei bis drei Mal zur Schule gehen konnte. Die Beamten kamen sogar in die Schule und holten ihn vor den Augen der Lehrkräfte und Mitschüler*innen aus dem Unterricht. Abgesehen von der massiven Einschüchterung und Bedrohung durch die türkische Polizei verbietet sich die Befragung von Minderjähren ohne ihre Sorgeberechtigen aus kinderrechtlicher Sicht und unterstreicht das fragwürdige Verhalten der Ermittlungsbehörden.
Flucht nach Deutschland zum Bruder
Wegen des Vorgehens der Polizei gegen Berat entschied die Familie, dass er die Türkei verlassen muss. Berat befürchtete, dass ihm, wie seinen Brüdern, unrechtmäßige Haft und Strafverfolgung oder sogar schlimmstenfalls der Tod drohen würde, wenn er in der Türkei bliebe. Nach seiner Flucht wurden Familienangehörige nach seinem Aufenthaltsort durch die türkische Polizei befragt.
In Deutschland bei seinem Bruder angekommen, stellt Berat einen Asylantrag, der abgelehnt wird. Das BAMF schreibt: »Er hat seine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden nicht glaubhaft gemacht.« Allerdings fehlt eine fundierte Auseinandersetzung mit Berats individuellen Fluchtgründen und seiner Familiengeschichte. Das BAMF gibt an, die erfolgten Verfolgungshandlungen wie die Hausdurchsuchungen hätten sich nicht gegen ihn, sondern gegen seinen Bruder gerichtet. Berats Bruder wurde in der Türkei als »Mitglied in einer bewaffneten Organisation« zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und wegen »Propaganda für eine bewaffnete Organisation« zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Auch sein Asylantrag wurde zunächst abgelehnt, im gerichtlichen Verfahren erhielt er aber die Flüchtlingseigenschaft.
In Berats Bescheid findet sich eine schier endlose Ansammlung von Textbausteinen zur allgemeinen Situation von Kurd*innen in der Türkei. Es sei keine Gruppenverfolgung erkennbar und zudem ein Leben in der Westtürkei für Kurd*innen möglich. Wie es einem Minderjährigen allerdings möglich sein soll, getrennt von seiner Familie komplett auf sich allein gestellt in einem anderen Landesteil zu leben, dazu findet sich im Bescheid nichts.
Darüber hinaus fehlt vollkommen eine Auseinandersetzung mit Erkenntnissen, die belegen, dass Personen, denen eine Nähe oder Unterstützung zur PKK unterstellt wird, eine Verhaftung durch den türkischen Staat drohen kann. Demnach sind auch Familienangehörige von Personen mit mutmaßlichen Verbindungen zur PKK oder PKK-nahen Gruppierungen gefährdet. Familienangehörige könnten in den Fokus der Behörden geraten und verhaftet werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe Türkei 2017, S. 12 ff). In den Fokus der Behörden ist Berat bereits geraten. Die Frage ist, ob gegen ihn erst ebenfalls willkürliche Strafverfahren eingeleitet oder er inhaftiert werden muss, damit das BAMF die drohende Verfolgung erkennt.
Berat klagte gegen die Ablehnung seines Asylantrags und bekam Recht. Das Gericht hat nun entschieden, dass Berat – wie seine ebenfalls nach Deutschlang geflohenen Geschwister – nicht in die Türkei zurückkehren kann. Aufgrund seiner Familiengeschichte und der damit verbundenen unterstellten politischen Überzeugung würde er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung ausgesetzt sein. Endlich hat er den Schutz erhalten, der ihm zusteht.
Seit fast sieben Jahren kämpfen Can* und seine Familie mit Unterstützung ihres Anwalts für die Anerkennung als Flüchtlinge in Deutschland. Can hat zwar mittlerweile, aufgrund seiner guten Integration, ein Bleiberecht erhalten, doch er will weiterhin die Anerkennung seiner Verfolgung in der Türkei durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die zuständigen Gerichte erreichen. Sein Fall liegt derzeit beim Oberverwaltungsgericht.
Can kommt aus einer Stadt im Südosten der Türkei, die durch massive Bombenangriffe der türkischen Armee stark zerstört wurde. Bei den Angriffen kamen viele Menschen ums Leben, darunter auch Cans Bruder. Die Offensive des türkischen Militärs und der Polizei galt der PKK, viele Bewohner*innen der Stadt sowie Beobachter*innen verurteilten die Brutalität des Staats. Das Vertrauen in Staat, Militär und Polizei war danach nachhaltig erschüttert. Dennoch ging es Can und seiner Familie wirtschaftlich sehr gut. Die Familie besaß eine eigene Firma, die sie absicherte.
Der Anfang vom Ende begann, als die Polizei nach ihm suchte. Can erhielt einen Vorführungsbefehl und sollte bei der Polizei vernommen werden. Warum, war ihm unklar. Er vermutet, dass ihm Arbeit für die PKK unterstellt wird. Erst Jahre später erfuhr er in Deutschland, dass zwei Ermittlungsverfahren wegen »Propaganda für eine Terrororganisation« sowie »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« gegen ihn eingeleitet worden waren. Can war weder für die PKK noch für eine andere Terrororganisation aktiv.
Nachdem er von dem Vorführungsbefehl erfahren hatte, flüchtete Can, aus Angst vor willkürlicher Verhaftung und Strafverfolgung, mit seiner Familie sofort nach Istanbul, von dort versuchten sie, nach Griechenland weiter zu fliehen. Ein Fluchtversuch scheiterte für ihn, die Familie trennte sich, seine Frau und Kinder schafften es, weiter nach Deutschland zu fliehen. Der zweite Fluchtversuch gelang. In seiner Abwesenheit wurden sowohl sein Vater als auch der im Westen der Türkei lebende Bruder von der türkischen Polizei aufgesucht und nach Cans Aufenthaltsort befragt.
Ablehnung wegen interner Fluchtalternative
In Deutschland angekommen, folgte eine bis heute andauernde Odyssee durch das deutsche Asylverfahren. Der erste Asylantrag wurde abgelehnt, auch wenn das BAMF zuerkannte, dass »die vom Antragsteller vorgetragenen Geschehnisse (…) als wahr unterstellt werden [können]«. Basis der Ablehnung war die angebliche interne Fluchtalternative in der Türkei. Laut BAMF könnten »aus Ostanatolien zugewanderte Kurden (…), die sich weder aktiv noch hervorgehoben für separatistische Bestrebungen einsetzen, (…) in der Westtürkei grundsätzlich unbehelligt leben, es sei denn, sie sind in strafrechtlich relevanter Weise, vor allem für die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen (…) aktiv geworden«.
Die durch die türkische Strafverfolgung unterstellte Tätigkeit für und Mitgliedschaft in der PKK blieb im Ablehnungsbescheid unbeachtet. Rechtliche Mittel gegen die Ablehnung blieben im ersten Klageverfahren erfolglos.
Folgeverfahren: Keine Originalpapiere, kein Schutz
2019 stellte Can einen Asylfolgeantrag, da es ihm gelang, über einen Rechtsanwalt in der Türkei kopierte Dokumente der türkischen Strafjustiz zu organisieren. Anhand der Dokumente konnte er beweisen, dass gegen ihn die Ermittlungsverfahren wegen »Propaganda für eine Terrororganisation« und »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« laufen. Das zuständige Strafgericht hatte diesen stattgegeben, sodass ein Festnahme- und Vorführungsbefehl gegen Can vorliegt.
Zudem konnte er Dokumente einreichen, aus denen hervorgeht, dass intensiv nach ihm gefahndet wird. So wurde neben Vater und Bruder auch ein ehemaliger Vermieter aufgesucht und befragt. Der Rechtsanwalt begründet den Antrag zusätzlich damit, dass Can, dem als Kurde eine PKK-Mitgliedschaft und Unterstützung der Organisation unterstellt wird, nicht mit einem rechtsstaatlichen Strafverfahren in der Türkei rechnen kann (siehe hierzu auch VG Trier, Urteil vom 12.04.2021 – 9 K 2628/20.TR – asyl.net: M29533, VG Hannover, Urteil vom 19.5.2022 – 13 A, 3666/18 – asyl.net: M30832).
Knapp ein Jahr später erreichte die Familie die Unzulässigkeits-Ablehnung. Das BAMF entschied, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen. Die Beweise in Kopieform seien unzureichend, um die Verfolgung nachzuweisen, und könnten die Widersprüche und Unklarheiten von Cans Vortrag nicht beseitigen. Darüber hinaus stellten ein Vorführungsbefehl und die »Ermittlungstätigkeit von Polizeibehörden (…) keine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte dar«. Dies mag zwar für den Verfahrensstand zutreffend sein, doch es ist absehbar, dass die Ermittlungen in einem politischen Strafverfahren münden, das mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer unrechtmäßigen Haftstrafe enden würde.
Gerichtsverfahren: Die gesperrte UYAP-Akte
Auch im darauf folgenden Gerichtsverfahren wird Can als unglaubwürdig dargestellt. Das Problem: Can kann die Nachweise über seine Verfolgung in der Türkei nicht im türkischen Online-Portal UYAP (Nationales Justiznetzwerk Informationssystem) einsehen (für mehr Informationen zu diesem Portal und den damit verbundenen Problemen siehe den Beitrag von Murmann/Wohnig im Asylmagazin 05/2023). Ohne dies mit einer Quelle zu belegen, schlussfolgerte das Gericht daraus: Wenn Can nichts einsehen könne, liege auch nichts vor, oder es betreffe ihn nicht – womit das Gericht unterstellt, dass die Akte auch von einer anderen Person sein könnte: »Der Kläger hat zwar angegeben, dass er über den Zugang zu UYAP verfügt, aber er nicht die Rechte zur Sichtung hat. Daraus folgt für das Gericht, dass es unter dem eingegebenen Code ein Dokument gibt, der Kläger (…) jedoch nicht derjenige ist, den dieses betrifft, sodass er es nicht einsehen kann.«
Die Annahme des BAMFs und des Gerichts, es läge keine Verfolgung vor, ist nicht zutreffend. Auch scheint in Cans Fall zumindest das zuständige Gericht die Grenzen und Möglichkeiten des UYAP-Systems nicht zu kennen. Gerade bei Terrorvorwürfen wird der Zugang zu den Akten häufig gesperrt. Es liegt eine immense Beweislast auf Can, wenn seinen mündlichen Ausführungen nicht geglaubt wird und der Fokus für den Nachweis der Verfolgung auf Original-Unterlagen aus der Türkei liegt. Ein kritischer Blick des BAMFs und der Gerichte auf die türkische Strafverfolgung bei Personen, denen die Zugehörigkeit zur PKK unterstellt wird, bleibt auch hier aus. Es bleibt zu hoffen, dass das Oberverwaltungsgericht die Nachweise und Vorträge Cans angemessen bewertet, sodass er sowie seine Familie nach sieben langen Jahren den Schutz erhalten, der ihnen zusteht.
Serdan ist Kurde und Mitglied der Partei HDP, die sich für Minderheitenrechte, insbesondere der kurdischen Minderheit, einsetzt. Die Türkei musste er verlassen, weil gegen ihn aufgrund seiner politischen Aktivität mehrere Straf- und Ermittlungsverfahren unter dem Vorwand der Terrorpropaganda eingeleitet wurden. Außerdem liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor. Serdan drohen Strafverfahren und Haft, weil ihm die Mitgliedschaft in einer legalen Partei und sein Engagement für diese zulasten gelegt werden.
Sein Asylantrag in Deutschland wurde dennoch abgelehnt. Die Begründung: Serdans Vortrag in der BAMF Anhörung sei unglaubhaft und widersprüchlich. Zudem habe er weder eine herausgehobene Stellung in der Partei gehabt, noch sei er exponiert politisch tätig geworden. Kurd*innen seien außerdem in der Türkei nicht landesweit verfolgt. Es bestünde eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei.
Serdan kann seine Verfolgung im Erstverfahren nicht über Dokumente nachweisen, nach der Ablehnung gelingt es ihm aber, über einen türkischen Anwalt Dokumente der zuständigen türkischen Staatsanwaltschaft zu beschaffen. Diese beweisen nun die politische Strafverfolgung, weshalb er mit seinem Anwalt einen Asylfolgeantrag stellt. Statt aber ein Folgeverfahren durchzuführen, wird der Antrag als unzulässig abgelehnt. Das BAMF stellt fest: »Bei den vorgelegten Unterlagen handelt es sich zur vollen Überzeugung der Unterzeichnerin offensichtlich um Totalfäschungen.« Das ist eine falsche Bewertung der Dokumente. Das BAMF sieht daher weder Serdans Verfolgung belegt noch neue Gründe gegeben, um ein weiteres Verfahren durchzuführen.
Serdans Anwalt legt Klage und einen Eilantrag gegen die Entscheidung ein. Zunächst lehnt das zuständige Gericht den Eilantrag ab, weil auch das Gericht davon ausgeht, dass es nicht zu einer für Serdan günstigeren Entscheidung kommen würde.
Abschiebung in letzter Sekunde verhindert
Serdan gelingt es schließlich, über den türkischen Anwalt, seine UYAP Zugangsdaten zu erhalten. Nun kann er selbst im türkischen Justizportal UYAP die gegen ihn vorliegenden Strafverfahren einsehen. Serdans Anwalt stellt mit den Beweisen aus UYAP einen weiteren Antrag bei Gericht, um die Abschiebung in die Türkei zu verhindern.
Die Ausländerbehörde hatte bereits aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet, als Serdan endlich die erleichternde Nachricht von seinem Anwalt bekam: Das Gericht hält es für möglich, dass durch die eingereichten Dokumente ein Asylfolgeverfahren doch durchgeführt werden könnte. Dadurch eröffnet sich für Serdan noch einmal die Chance, doch noch Schutz vor Verfolgung in der Türkei zu erhalten.
Die dargestellten Fälle und eindeutigen Berichte, machen deutlich, dass Personen, die aufgrund politischer Tatvorwürfe in den Fokus staatlicher Ermittlung geraten sind, in der Türkei nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen können.
Terrorismusvorwürfe aus dem Nichts
Sei es zum Beispiel die Teilnahme an Demonstrationen, kritische Meinungsäußerungen gegenüber dem Präsidenten oder die Mitgliedschaft in einer legalen Partei: Aus dem Nichts können in der Türkei Terrorismusvorwürfe konstruiert werden.
Die dargestellten Fälle und eindeutigen Berichte, nicht zuletzt durch das Auswärtige Amt selbst, machen deutlich, dass Personen, die aufgrund politischer Tatvorwürfe in den Fokus staatlicher Ermittlung geraten sind, in der Türkei nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen können. In den dargestellten Fällen geht es um Kurd*innen; die Feststellung, dass es keine rechtsstaatlichen Verfahren gibt, lässt sich aber auch auf Verfahren oppositioneller Gruppierungen oder Einzelpersonen sowie (vermeintliche) Angehörige des Gülen-Netzwerks (siehe hier für Falldarstellungen) übertragen.
Willkür der türkischen Strafverfolgung anerkennen
Das BAMF muss endlich die Willkür der türkischen Strafverfolgung anerkennen und darf Verurteilungen aus der Türkei sowie Dokumente aus der türkischen Strafverfolgung nicht unkritisch übernehmen. Es ist längst an der Zeit, dass die Länderleitsätze entsprechend angepasst und die Entscheidungspraxis kritisch überprüft werden. Die Abkehr von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei muss sich endlich auch auf die Schutzquote niederschlagen. Verfolgte des Erdoğan-Regimes brauchen Schutz!
*Name geändert
(ie, mz, wj)