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Cemal Kemal Altun: Aus der Türkei geflohen, in Deutschland in den Tod getrieben
Am 30.08.1983 sprang Cemal Kemal Altun aus dem Fenster eines Berliner Gerichts und setzte dem Tauziehen um seine Auslieferung in die Türkei ein erschütterndes Ende. Ein Tiefpunkt in der deutschen Asylpolitik. PRO ASYL gedenkt seinem 40. Todestag und blickt mit Sorge auf die aktuelle Situation von politisch Verfolgten aus der Türkei in Deutschland.
Vor 40 Jahren, am Morgen des 30. August 1983, stürzte sich Cemal Kemal Altun (geb. 13.04.1960) aus Angst vor seiner drohenden Auslieferung in die Türkei aus dem sechsten Stock eines Berliner Gerichts. Zuvor wurde der 23-jährige Student aus der Türkei 13 Monate teils in Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Berlin/Moabit inhaftiert und hatte bereits einen Abschiebeversuch, der in letzter Sekunde scheiterte, durchlebt. Er sollte in einen Folterstaat abgeschoben werden. Cemal Kemal Altun blieb Schutz versagt.
Flucht vor der türkischen Militärdiktatur
Cemal Altun wurde in Engiz nahe der Großstadt Samsun am Schwarzen Meer geboren. Schon früh war er, wie sein älterer Bruder, parteipolitisch und genossenschaftlich organisiert. Im Januar 1981 floh Altun vor dem Militärputsch in der Türkei nach West-Berlin. Zuvor wurden zahlreiche seiner Weggefährt*innen inhaftiert, teils drohte die Todesstrafe. Das damalige Regime in der Türkei war bekannt für die systematische Anwendung von Folter in Gefangenschaft, unter anderem um Geständnisse oder belastende Aussagen zu erzwingen, betroffen waren auch Kinder.
Im September 1981 stellte Altun einen Antrag auf Asyl, nachdem der politisch aktive Student aus türkischen Medien erfahren hatte, dass er in der Türkei im Zusammenhang mit dem Mord eines hochrangigen Politikers gesucht wurde. Noch bevor das damals zuständige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag inhaltlich bearbeitete, wurde der Staatsschutz über Altuns Fall informiert. Über Interpol fragte die Bundesrepublik die Junta in der Türkei an, ob ein Auslieferungsantrag gestellt werden würde. Wenig später, im Juli 1982, wurde Cemal Kemal Altun aufgrund des Ersuchens der Türkei in Auslieferungshaft genommen. Das Tauziehen um sein Leben nahm seinen Lauf. Mit den Worten »Es geht ab nach Frankfurt« holten Beamt*innen Altun am 15. März 1983 für einen ersten Abschiebeversuch aus seiner Zelle, der nur durch eine internationale Protestwelle in letzter Sekunde gestoppt werden konnte (siehe »Ausgeliefert. Cemal Altun und andere«, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Dezember 1983; siehe auch die Broschüre »Zuflucht gesucht – den Tod gefunden«, hier online abrufbar).
Sprung in den Tod statt Schutz in Deutschland
Dann der Hoffnungsschimmer: Die europäische Kommission für Menschenrechte (Vorläufer des heutigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) nahm die Beschwerde Altuns an. Kurze Zeit später, am 06. Juni 1983, erkannte außerdem das damalige Bundesamt Altun als asylberechtigt an. Doch Altun blieb in Haft. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten erhob Klage gegen die Asylanerkennung von Altun. Parallel kam es weiterhin zu hochrangigen politischen Treffen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei, bei denen Altuns Auslieferung Thema war. Am 25. August 1983 begann dann die Verhandlung zur Klage des Bundesbeauftragten vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Der 30. August 1983 war der zweite Verhandlungstag in der Sache und es sollte der letzte bleiben: Aus panischer Angst vor einer Auslieferung sprang Cemal Kemal Altun noch im Gerichtssaal aus einem Fenster in den Tod.
In einer Todesanzeige hieß es:
»Die Ignoranz der Justiz und der Opportunismus der Bundesrepublik Deutschland waren stärker als sein Durchhaltevermögen und unser Engagement.«
Der Tod von Altun führte zu großem Aufsehen. Nachdem die Bundesregierung darin versagte, den politischen Flüchtling im Sinne des Grundgesetzes zu schützen, verschrieben sich zivilgesellschaftliche Organisationen dieser Aufgabe. Wenige Wochen nach Altuns Tod kam es zum ersten Kirchenasyl in Berlin, etwas später wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche gegründet. Auch PRO ASYL ging u.a. aus den Reaktionen auf das Versagen im Fall Altun hervor.
Zum 20. Jahrestage von Altuns Tods im Jahr 2003 stellte PRO ASYL-Mitbegründer Heiko Kauffmann allerdings fest, dass ein Umdenken in der Asylpolitik ausblieb. Das bittere Resümee ist heute weitere zwanzig Jahre später leider weiterhin aktuell, wie heutige Diskussionen um Abschiebungshaft und »Rückführungsoffensiven« zeigen.
Wieder müssen viele Menschen aus der Türkei fliehen
Seit dem gescheiterten Putschversuch von 2016, besonders aber innerhalb der letzten zwei Jahre, steigt die Zahl der Menschen, die aus der Türkei fliehen und in Deutschland Schutz suchen stark an. Die Türkei gehört zu den drei Hauptherkunftsländern von Asylerstantragstellenden in Deutschland: Bis Juni 2023 stellten bereits 19.208 türkische Staatsangehörige erstmals einen Asylantrag. Im gesamten Jahr 2022 wurden 24.000 Erstanträge türkischer Staatsbürger*innen registriert.
Die Fluchtbewegung spricht Bände über die menschenrechtliche Situation in der Türkei: Seit mehr als 20 Jahren wird die Türkei durch die von Recep Tayyip Erdoğan gegründete AKP (»Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung«) regiert. In dieser Zeit wurden rechtsstaatliche Institutionen abgebaut und der Staatsapparat zugunsten des nationalistisch-religiösen Gesellschaftsentwurfs umgebaut. Nach der Wiederwahl des umstrittenen Präsidenten im Mai dieses Jahr sind weitere Fluchtbewegungen, insbesondere von demokratischen Kräften und der sozialen Gruppe der LGBTIQA+, zu erwarten. Denn viele haben die Hoffnung auf baldige Besserung der menschenrechtlichen Lage in dem Land verloren.
Deutschland verkennt politische Verfolgung durch die türkische Justiz
Trotz des bekannten Verfolgungsdrucks bekommen nur wenige Asylsuchende aus der Türkei in Deutschland Schutz. Die bereinigte Schutzquote für die Türkei als Herkunftsland ist in den vergangenen Jahren rapide gesunken und lag im Juni 2023 nur noch bei rund 21,9 % und damit unterhalb des EU-Durchschnitts von 31 %. Dies ist statistisch auf einen steigenden Anteil kurdischer Antragsstellenden zurückzuführen, deren bereinigte Schutzquote 2022 bei lediglich 11 % lag.
PRO ASYL sieht immer wieder Entscheidungen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und von Gerichten, in denen die Rechtsstaatskrise der Türkei verkannt wird und Schutzsuchende auf ein angebliches faires Strafverfahren in der Türkei verwiesen werden. Dabei werden Strafverfahren bekanntermaßen gezielt politisch eingesetzt. Alleine zwischen 2016 und 2020 wurden wegen Terrorvorwürfen Verfahren gegen über 1,5 Millionen Menschen eingeleitet. Besonders betroffen sind dabei (vermeintliche) Anhänger*innen der sogenannten Gülen-Bewegung sowie Personen, die sich aktiv oder vermeintlich in der kurdischen Freiheits-/Bürgerrechtsbewegung einbringen.
Altun konnte sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl verlassen. Deutsche Gerichte schützten dieses nicht effektiv. Er wurde behandelt und weggesperrt wie ein Verbrecher.
Obwohl das Rechtsstaatlichkeitsdefizit der Türkei gerade in politisch motivierten Verfahren bekannt ist – insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch sind die Strafverfolgungen und Gerichtsurteile nicht unabhängig von politischer Einflussnahme und die geführten Verfahren weisen große Defizite auf – werden in deutschen Asylverfahren politische Tatvorwürfe der türkischen Justiz unkritisch übernommen. Besonders skurril erscheint dabei die enorme Bedeutung, die das BAMF und deutsche Verwaltungsgerichte dem UYAP-System, einem Online-Portal der türkischen Justiz, beimessen, wobei die praktischen Möglichkeiten des Portals sowie die Willkür der strafrechtlichen Verfolgung in der Türkei verkannt werden.
Steigende Abschiebungszahlen in die Türkei
Im Jahr 2022 wurden 515 Menschen in die Türkei abgeschoben. Für 2023 ist mit einer Steigerung zu rechnen, denn bereits im ersten Halbjahr 2023 wurden schon 345 Menschen in die Türkei abgeschoben. Über ihren Verbleib ist wenig bekannt. Immer wieder werden aber Fälle öffentlich, in denen es nach Abschiebungen aus der EU zu Inhaftierungen in der Türkei gekommen ist, wie zuletzt beim weiterhin inhaftierten Krebspatienten Mahmut Tat, der im Dezember 2022 aus Schweden abgeschoben wurde. Dem war großer politischer Druck auf die Auslieferung türkischer Staatsbürger*innen durch die Türkei im Rahmen der NATO-Beitrittsverhandlungen Schwedens vorausgegangen. Diese Abschiebungspolitik kommet zu einer Zeit, in der türkische Menschenrechtsverbände und Schutzsuchende aus der Türkei in Deutschland die Zunahme von Folter und Misshandlungen in Haftsituation anprangern: »Das ganze Land ist zu einem Ort der Folter geworden«, stellten drei Menschenrechtsorganisationen in dem gemeinsamen Bericht »Wir verteidigen die Menschenrechte und sagen Nein zu Folter« jüngst fest. Den Grund für die Zunahme an Folter seit 2016 sehen die türkischen Menschenrechtler*innen im wachsenden Autoritarismus.
Der Tod Altuns mahnt die Verteidigung des individuellen Rechts auf Asyl an
Altun konnte sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl verlassen. Deutsche Gerichte schützten dieses nicht effektiv. Er wurde behandelt und weggesperrt wie ein Verbrecher. Die damalige Bundesregierung bewertete die Unterhaltung guter Beziehungen zur Türkei höherrangiger, als den Schutz von Cemal Kemal Altuns Leben. Sie machte sich zum Handlanger eines Verfolgerstaats. Altuns Schicksal zeigt, was passiert, wenn das Grundrecht auf Asyl zur Worthülse verkommt.